MPIfG Working Paper 05/5, Juni 2005

 

Vom "kurzen Traum" zum langen Alptraum?

 

Wolfgang Streeck , Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

 

Vortrag anläßlich des 80. Geburtstags von Burkart Lutz, Halle, 27. Mai 2005.

Public Lecture on the occasion of the 80th birthday of Burkart Lutz, Halle, May 27, 2005

 

 

 

Zusammenfassung

 

Der Vortrag würdigt das 1984 erschienene Buch des Jubilars, "Der kurze Traum immerwährender Prosperität: Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts". Im Licht der Erfahrung der seitdem vergangenen zwei Jahrzehnte wird diskutiert, wo und in welchem Sinn die Lutzsche Analyse noch Geltung beanspruchen kann. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Auswirkungen der seit den neunziger Jahren beschleunigten "Globalisierung".

 

 

Abstract

 

The lecture looks back at one of Lutz' most important books, "Der kurze Traum immerwährender Prosperität" (The Short Dream of Everlasting Prosperity; 1984). In the light of the experience of the two decades that have since passed it discusses whether and in what sense Lutz' analysis may still claim validity. Special attention is paid to the consequences of accelerated "globalization" since the 1990s.

 

 

 

Inhalt

 

Ein erstaunliches Buch

Der ausgeträumte Traum

Landnahme ohne Wohlfahrtsstaat

Eine neue Prosperitätskonstellation?

Literatur

 

 

 

Verehrte Anwesende, lieber Herr Lutz,

 

ich möchte mich als erstes für die Ehre und das Vergnügen bedanken, heute vor Ihnen über ein erstaunliches Buch eines bewunderten Kollegen sprechen zu dürfen. Über beide, Buch und Autor, wäre viel zu sagen, aber mehr als 30 Minuten sind mir nicht erlaubt. So gehe ich gleich medias in res und beginne, an die Jüngeren gewandt, mit ein paar Bemerkungen darüber, warum das Buch, um das es geht (Lutz 1984), als ein erstaunliches gelten muß. Daran anschließend wende mich ich, zweitens, der Frage zu, worin genau der Traum bestand, dessen Ende Burkhard Lutz in den frühen achtziger Jahren kommen sah; auf diese Weise hoffe ich deutlich zu machen, in welchem Sinne die Lutzsche Zeitdiagnose von 1984 auch im Rückblick Bestand hat. Enden möchte ich, drittens, mit einer differenzierenden Betrachtung der zentralen These des Buches im Lichte der Erfahrung der seit seinem Erscheinen verstrichenen zwei Jahrzehnte: der These einer neuerlichen Stagnation der kapitalistischen Entwicklung als Folge der in der Nachkriegsphase endgültig vollzogenen Absorption des traditionellen Sektors der Gesellschaft durch die moderne Industrie.

 

 

Ein erstaunliches Buch

 

Das Buch vom "kurzen Traum" paßt bemerkenswert schlecht in die deutsche Soziologie der frühen achtziger Jahre. Dies ist in meinen Augen ein großes Kompliment. Nach dem Schock des Soziologentages von 1968 hatte sich die Disziplin auf einen langen Marsch vom Kapitalismus zur Industriegesellschaft begeben, an dessen Ziel sie die sicheren Rückzugsgebiete der "Professionalisierung" vermutete. Die Wegweiser zeigten von der Theorie zur Empirie, von der Makro- zur Mikrowelt, von "big structures, large processes and huge comparisons" (Tilly 1985) zu den kleinen Brötchen der Umfrageforschung, und von der langen Dauer der Geschichte zum kurzen Handlungsbedarf der Gegenwart.

 

Burkhard Lutz ging den genau entgegengesetzten Weg. Von einigen der Nachlaßverwalter der "Frankfurter Schule" war der "Betriebsansatz" seines Münchner Instituts manchmal als kleinteilige empiristische Industriesoziologie belächelt worden. Aber 1984, als die Abkehr vom Marxismus das Interesse an historischer Makrosoziologie und politischer Ökonomie zumindest in Deutschland fast zum Erliegen gebracht hatte, legte Lutz gegen jeden Zeitgeist eine atemberaubend ambitionierte Großtheorie - heute würde man vermutlich sagen: ein "master narrative" - vor, die nichts geringeres zum Gegenstand hatte als das große Ganze von hundert Jahren kapitalistischer Entwicklung in Deutschland und darüber hinaus. Die Ströme, gegen die das schwamm, kann man gar nicht alle aufzählen. So waren die amerikanischen Modernisierungstheorien der fünfziger und sechziger Jahre gerade dabei, mitsamt ihrer axiomatischen Annahme einer kontinuierlichen und einheitlichen industriegesellschaftlichen Entwicklungslogik zur eisernen Ration deutscher Soziologieinstitute zu werden, als Lutz eine Stagnationstheorie des modernen Kapitalismus vorstellte, die auf dessen immanenter Krisenhaftigkeit und der Periodizität seiner Funktionsgesetze bestand. Und zu einer Zeit, in der auch die deutsche Soziologie immer szientistischer wurde und sich auf das Herausdestillieren invarianter Gesetzmäßigkeiten des Sozialen zu kaprizieren begann, betonte Lutz die historische Einzigartigkeit eben jener Nachkriegsgesellschaft, die dem sozialwissenschaftlichen mainstream ebenso wie dem gesunden Menschenverstand zunehmend als nicht mehr hinterfragbarer Normalzustand erschien.

 

Für mich ist das Buch vom "kurzen Traum" nicht zuletzt eine ihrer Zeit weit vorauseilende Wiederentdeckung der Geschichte und des Geschichtlichen durch und für die Soziologie. Zugleich erscheint es mir als eindrucksvolle Dokumentation eines bleibenden Anspruchs der Soziologie auf Themen, die sie immer wieder nur allzu bereitwillig an die Ökonomie abgetreten hat. Bezeichnenderweise gehörte Lutz zu den ersten in Deutschland, die die damals im Entstehen begriffene französische Regulationstheorie entdeckten und Robert Boyers klassischen Krisenaufsatz von 1979 (Boyer 1979) produktiv zur Kenntnis nahmen. Und ebenso eindrucksvoll finde ich, wie Lutz in seinem Buch Rosa Luxemburg zunächst aus den Fesseln ihrer orthodoxen Wert- und dogmatischen Zusammenbruchstheorie befreit und dann die reiche wirtschaftsgeschichtliche Empirie und die brillanten theoretischen Spekulationen des zweiten Teils der "Akkumulation des Kapitals" (1913) für sein Argument nutzbar macht. Noch andere Punkte ließen sich anführen, um zu begründen, warum "Der kurze Traum" ein erstaunliches Buch ist. Aus Zeitgründen muß ich aber darauf verzichten.

 

 

Der ausgeträumte Traum

 

Daß Prosperität nicht ewig währt und die besten Zeiten vielleicht für immer vorbei sind, ist der Tenor einer heute weitverbreiteten deutschen Stimmungslage. Dies hat zweifellos dazu beigetragen, daß ein mehr als zwanzig Jahre altes Buch, dessen Titel die Wehmut des heute regierenden Zeitgeistes kurz und bündig zusammenzufassen scheint, wieder öffentliche Erwähnung findet. In vergleichbaren Ländern allerdings, etwa in Dänemark, Großbritannien oder den USA, würde auf Befremden stoßen, wer so verstanden würde, als sei es seit den frühen achtziger Jahren mit dem Wohlstand nur noch bergab gegangen. In der Tat steht ja auch in Deutschland genügend statistikbewehrte Ökonomie bereit, um uns wissen zu lassen, daß es uns nie besser ging als heute, Wiedervereinigung einbegriffen. Betrachtet man das Bruttosozialprodukt pro Kopf in konstanten Preisen und setzt den Wert von 1980 gleich 100, so lag Westdeutschland 1990 bei 122 und Gesamtdeutschland 2004 immerhin bei 145, mit Zuwächsen selbst nach 1995. Frankreich, eine andere kontinentaleuropäische "koordinierte" Marktwirtschaft mit Bismarckschem Wohlfahrtsstaat, schnitt etwas weniger gut ab, dafür aber Großbritannien und die USA, die beiden großen "liberalen Marktwirtschaften" und dazu die ältesten der modernen Industriegesellschaften, erheblich besser (Tabelle 1).

 

 

Tabelle 1   Bruttosozialprodukt pro Kopf in konstanten Preisen, 1980 bis 2004; 1980=100

  1985 1990 1995 2000 2004

Deutschland*

107

122

130

141

145

Frankreich

103

117

120

135

141

Vereinigtes Königreich

110

128

137

158

170

Vereinigte Staaten

112

125

133

153

163

Quelle: International Moneary Fund, World Economic Outlook Database September 2004

* Ab 1995 Gesamtdeutschland

 

 

Ist das Buch vom "kurzen Traum", wie vor allem robuste Anglo-Amerikaner vermuten könnten, vielleicht nur die Ausgeburt einer typisch deutschen Neigung zum Jammern auf hohem Niveau? Um zu wissen, welchen Traum Lutz Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts für ausgeträumt hielt, muß man sich daran erinnern, was Lutz meint, wenn er von "Prosperität" spricht. Lutz' Prosperitätsbegriff ist, kurz gesagt, der des postwar settlement der Bonner Republik: einer Periode, in der auch die Konservativen Sozialdemokraten waren und Wohlstand wie selbstverständlich nicht nur Wachstum bedeutete, sondern auch die beständige Ausweitung sozialer und sozialstaatlicher Inklusion, und zwar nicht als mildtätige Zugabe zum Funktionieren der Marktwirtschaft, sondern als dessen ökonomisch-funktionale ebenso wie politische Voraussetzung. Anders formuliert, Prosperität im Sinne von Lutz und der Ära, die Lutz zufolge Anfang der achtziger Jahre endgültig zuende ging, entstand aus dem Zusammenwirken zweier sich gegenseitig bedingender Dynamiken: einer Wachstums- und einer Sozialstaatsdynamik, wobei die Expansion der modernen Wirtschaft mit der Expansion sozialer Bürgerrechte im Kontext des zum Wohlfahrtsstaat gewandelten Nationalstaats zusammenfiel.

 

Der Traum, den Lutz Anfang der achtziger Jahre für beendet erklärte, war also der von einer politischen Ökonomie, die die unumgänglich gewordene gleichberechtigte Einbeziehung der Parteien und Organisationen der Industriearbeiterschaft in Politik und Gesellschaft der Nachkriegsdemokratien als Wachstumsmaschine nutzte und deren Ergebnisse zur weiteren Befestigung sozialer Rechte auf Gleichheit und Sicherheit und Teilhabe verwendete. Diese Konfiguration - ein Modell sozialer Integration, bei dem das Wachstum des allgemeinen Wohlstands davon abhing, daß er "Wohlstand für alle" war - war es, die Lutz zufolge entgegen den Träumen der Sozialdemokraten aller Parteien an ihre Grenzen gestoßen war. Was Lutz kommen sah, und zwar als einer der ersten, war die bevorstehende Entkoppelung der Wachstumsdynamik des modernen Kapitalismus von der Wohlfahrtsstaatsdynamik der demokratischen Politik der fünfziger und sechziger Jahre. Mit ihr endete für Lutz die besondere Prosperität der Nachkriegsjahre.

 

Natürlich kann man den Begriff der Prosperität großzügiger fassen als Lutz dies getan hat. So gibt es heute eine nicht geringe und wahrscheinlich wachsende Zahl von Bürgern unserer Gesellschaft, die erfolgreich ihren eigenen Traum von einer Prosperität träumen, die nicht mit sozialer Umverteilung bezahlt werden muß. Was etwa die Lenker deutscher Großunternehmen angeht, so dürften für ihre Einkommen die phänomenalen Wachstumsraten des Sozialprodukts der sechziger Jahre bis heute unvermindert angehalten haben. Hickel (2004, 1197) zufolge liegt derzeit die Relation zwischen dem Einkommen des durchschnittlichen Vorstandsmitglieds eines DAX-Unternehmens und dem eines durchschnittlichen Arbeitnehmers bei etwa 100 zu 1, während sie "in früheren Jahren … maximal das 20- bis 30-fache" betragen habe, bei einem Anstieg der Durchschnittsvergütung zwischen 1997 und 2003 um nicht weniger als 81,3 Prozent. Aus der Perspektive des Lutzschen "Traums" aber ist eine Gesellschaft, in der die Ungleichheit ebenso zunimmt wie die Zahl der Arbeitslosen, Armen und Personen ohne Kranken- oder Rentenversicherung, deren öffentlicher Sektor durch angebotspolitisch motivierte Steuersenkungen ausgehungert wird und deren Schulen und Universitäten schlechter werden statt besser, auch dann keine reiche Gesellschaft, wenn ihr Durchschnittseinkommen hoch ist und weiter zunimmt - zumal Durchschnitte umso weniger besagen, je höher die Standardabweichung ist, und Gesellschaft nur dann als Einheit gedacht werden kann, wenn zwischen ihren Mitgliedern ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit der Lebenslage besteht.

 

 

Landnahme ohne Wohlfahrtsstaat

 

Die beherrschende Denkfigur der Lutzschen Krisentheorie von 1984 ist die von der Moderne, die ihre vormodernen Voraussetzungen konsumiert hat und nun Ersatz für sie schaffen muß. Das Wachstum der Nachkriegsjahre war Lutz zufolge durch kontinuierliche Absorption des traditionellen Sektors von Wirtschaft und Gesellschaft in den modernen, kapitalistischen Sektor zustande gekommen. Diese wiederum war durch eine Reihe von institutionellen Innovationen - insbesondere den Wohlfahrtsstaat und das Tarifvertragssystem - möglich geworden, die einen bisher im Verhältnis der beiden Sektoren wirksam gewesenen negativen Rückkopplungsmechanismus, den Lutz das "Lohngesetz" nennt, außer Kraft gesetzt hatten. So konnte in den Nachkriegsjahren der Zufluß von Arbeitskräften aus dem traditionellen in den modernen Sektor den Lohn der Industriearbeiter nicht mehr drücken; das Lohnniveau im modernen Sektor konnte das Subsistenzniveau im traditionellen Sektor dauerhaft überbieten; die Unsicherheit der Marktwirtschaft schreckte nicht mehr vom Wechsel in die Industrie ab; und die dynamische Nachfrage der Arbeitnehmer im modernen Sektor nach Konsumgütern trat an die Stelle der Nachfrage des traditionellen Sektors nach Investitionsgütern. Allerdings konnte ein so begründetes Wachstum nicht unbegrenzt weitergehen. Ende der siebziger Jahre, so Lutz, war der traditionelle Sektor gänzlich im modernen aufgegangen und stand für weitere "Landnahme" nicht mehr zur Verfügung. Damit stellte sich der Gesellschaft die Aufgabe, eine neue "Prosperitätskonstellation" (Lutz 1984, 260) zu finden, wenn ihr Traum einer unbegrenzten Fortdauer ihrer Nachkriegsprosperität Wirklichkeit werden sollte.

 

Anders als Marx, der seine Krisentheorie vom "tendenziellen Fall der Profitrate" durch Hinzufügung einer langen Reihe "entgegenwirkender Ursachen" listig gegen die Ungewißheit der Zukunft immunisiert hatte (Marx 1966 [1894], 242), hielt Lutz seiner These vom Ende der kapitalistischen Landnahme sympathischerweise kein Hintertürchen offen. Dabei hatte er selber bei Luxemburg gesehen, wie leicht auch der Scharfsinnigste den Grad der "Durchkapitalisierung" der Welt über- und den für weitere kapitalistische Expansion nutzbaren Bestand an vorkapitalistischen Produktions- und Lebensformen unterschätzen kann (Lutz 1984, 60). Auch Lutz, so möchte ich mit dem Besserwissertum des Rückblickenden behaupten, ist dieser Gefahr nicht entgangen. Ein Vierteljahrhundert nach der Entstehung des Buches vom "kurzen Traum" läßt sich feststellen, daß die endgültige Absorption der heimischen Subsistenzwirtschaft in den modernen Sektor der europäischen Nachkriegsgesellschaften nicht das Ende der kapitalistischen Landnahme war. Vielmehr ging diese, wie ich zeigen werde, sowohl im Inneren der Industriegesellschaften als auch, und zunehmend, über deren Grenzen hinweg in neuen Formen weiter - wobei sich die Funktionsweise des "Lohngesetzes" ebenso änderte wie die Mittel, mit denen es weiterhin suspendiert wurde. Insbesondere der Wohlfahrtsstaat, so meine These, wurde für die Fortsetzung der kapitalistischen Expansion erneut entbehrlich. So kam, mit der Abkopplung der zunehmend globalen Wachstumsdynamik des modernen Kapitalismus von der Sozialstaatsdynamik innerhalb der alten Industriegesellschaften, das sozialdemokratische Prosperitätsmodell an sein Ende. Mit der historischen Ablösung des Problems des sozialen Ausgleichs innerhalb der reichen Gesellschaften des Westens von dem Problem der Sicherung kapitalistischen Wachstums begann der bis heute anhaltende Siegeszug eines neuen Liberalismus.

 

Die erste der new frontiers kapitalistischer Landnahme nach der Entvölkerung der Dörfer war die Familie. Ab den siebziger Jahren nahm in allen westlichen Industriegesellschaften die Erwerbstätigkeit der Frauen rapide zu (Tabelle 2). Anders als die Landflucht vor der Erfindung von Wohlfahrtsstaat und Tariflohn drückte die neue Wanderungsbewegung aus der Subsistenz- in die Geldwirtschaft auf den im modernen Sektor etablierten Lohnsatz, ohne daß sie dadurch freilich zum Erliegen gekommen wäre. Tatsächlich bedurfte sie, ebenso wie die später auf sie folgenden, weiteren Migrationswellen in die kapitalistische Modernität, des Anreizes hoher Löhne nicht mehr. Statt dessen konnte sich die Expansionsdynamik des modernen Kapitalismus nach dem Ende des Dualismus von Stadt und Land wieder der schon Marx bekannten inversen Angebotsfunktion am Arbeitsmarkt bedienen.[1] Diese ergibt sich daraus, daß wegen der Abhängigkeit der Arbeitskräfte und ihrer Familien von einem kulturell definierten Mindestniveau der Lebenshaltung sinkende Löhne in bestimmten Fällen nicht, wie nach dem ökonomischen gesunden Menschenverstand zu erwarten, einen Rückgang, sondern eine Steigerung des Arbeitsangebots bewirken. So wurde vor allem in den USA die wachsende Erwerbsbeteiligung der Frauen - und die dramatische Zunahme der am Arbeitsmarkt verkauften Arbeitsstunden insgesamt - zu einem erheblichen Teil durch einen Einbruch der Reallöhne der männlichen Alleinverdiener in Gang gebracht, der wiederum eng mit der in den siebziger Jahren einsetzenden endgültigen Entgewerkschaftung der amerikanischen Arbeitswelt zusammenhing.

 

 

Tabelle 2   Erwerbsquoten der Frauen, 1983 bis 2003

  1983 1990 1995 2000 2003

Deutschland*

52,5 55,5 61,0 63,3 64,5

Frankreich

55,6 57,2 60,1 61,7 62,5

Vereinigtes Königreich

62,5 67,3 67,9 68,9 69,2

Vereinigte Staaten

63,5 67,8 71,6 70,7 69,7
Schweden 78,3 82,5 76,9 76,4 76,9
Dänemark 72,8 77,6 73,6 75,9 74,8

Quelle: OECD Employment Outlook, Statistical Annex 1992, 1997, 2004

* Ab 1995 Gesamtdeutschland

 

 

Allerdings lassen sich Lohnsenkungen nur dann zur Steigerung des Arbeitsangebots einsetzen, wenn der Reservationslohn niedrig ist. Bei Marx wurde dies durch die gewaltsame Zerstörung der Subsistenzwirtschaft im Prozeß der "ursprünglichen Akkumulation" (Marx 1966 [1867], 741 ff.) erreicht, die eine Nutzung des ländlichen Raums als Rückzugsgebiet unmöglich machte. (Die Lutzsche Suspendierung des Lohngesetzes durch Tarifautonomie und Wohlfahrtsstaat in den Nachkriegsjahren war, so gesehen, nur deshalb nötig und möglich gewesen, weil eine Zwangsräumung des traditionellen Sektors, wie sie in Großbritannien im 18. Jahrhundert stattgefunden hatte, politisch ausgeschlossen war.) Bei der nach dem Ende des "kurzen Traums" einsetzenden Absorption der Frauen in den kapitalistischen Arbeitsmarkt erfolgte die Senkung des Reservationslohns durch komplexe Prozesse sozialstrukturellen und kulturellen Wandels, die ebenfalls Teil des Modernisierungsprozesses waren und die man, Keynes paraphrasierend, als soziale "Euthanasie der Hausfrau" charakterisieren kann.[2] Dabei wurde der möglicherweise zu schwache "pull" überwiegend zweitklassiger Löhne durch einen sozialen und kulturellen "push" ergänzt, der den Übergang aus der Familien- in die Lohnarbeit zur sozialen Norm machte und als Befreiungserlebnis inszenierte. Soweit dies gelang - und es gelang oft bemerkenswert gut - stand dem Arbeitsmarkt eine Lohnarbeit als Privileg schätzende, den Gewerkschaften und ihrem "family wage" fremde und entsprechend wenig anspruchsvolle umfangreiche neue Reservearmee zur Verfügung, die den Fortgang der kapitalistischen Expansion gewährleistete, indem sie die Verknappung des Faktors Arbeit als Folge des von Lutz beschriebenen Leerfegens der Dörfer beendete und den Preiswettbewerb am Arbeitsmarkt wiederherstellte.

 

Erschließbare Landreserven fanden sich aber nicht nur in der Familie, sondern auch in den nach dem Krieg errichteten künstlichen Dörfern des Wohlfahrtsstaats. In ihnen war aus politischer Notwendigkeit eine sekundäre Subsistenzwirtschaft kultiviert worden, die nach dem Ende der Möglichkeit eines Rückzugs aus dem modernen in den traditionellen Sektor nicht mehr benötigt wurde. Schon der Umwandlung der Frauen von Gelegenheitsarbeitern zunächst zu Nebenerwerbslandwirten und dann zu industriellen Arbeitnehmern und der mit ihr einhergehenden, noch immer nicht abgeschlossenen Umstellung von Familienlöhnen auf Individuallöhne lag zum Teil eine Rücknahme von in den fünfziger und sechziger Jahren konzedierten politischen und sozialen Bürgerrechten zugrunde. Später, nach dem Verschwinden auch der letzten subsistenzwirtschaftlichen Alternativen, sank dann der Reservationslohn weiter, was in allen alten Industriegesellschaften mit einem bis heute anhaltenden clearing der wohlfahrtsstaatlichen estates einherging (Marx 1966 [1867], 756). Ziel der Attacke des neuen Rationalisierungsschubes auf den sekundären Traditionalismus der erworbenen Versorgungsansprüche sind nicht nur die Empfänger von "Stütze" jeglicher Art, sondern die breite Vielfalt quasi-subsistenzwirtschaftlicher Lebensformen am Rande der modernen Industriegesellschaft, zu denen auch die "sichere Lebensstellung" des "kleinen Beamten" im öffentlichen Dienst gehörte. In den beiden letzten Jahrzehnten wurden die Privatisierung früherer Staatstätigkeiten und die "Aktivierung" der Empfänger von Sozialleistungen zu neuen Mechanismen kapitalistischer Expansion im Namen der Erschließung ungenutzter Effizienzreserven, und zwar in einem Maße, wie sich dies Anfang der achtziger Jahre nicht nur Lutz, sondern niemand anders, außer vielleicht einer kleinen sektiererischen Gruppe neo-klassischer Ökonomen, hätte vorstellen können.

 

Ewig freilich, und hier hatte Lutz zweifellos recht, kann auch eine noch so ingeniöse Fortsetzung der Landnahme innerhalb der alten Industriegesellschaften nicht weitergehen. Dies schon deshalb, weil der Rückbau des Wohlfahrtsstaats wegen der mit ihm verbundenen politischen Stabilitätsrisiken nur schrittweise betrieben werden kann und im übrigen mit der Mobilisierung der Frauen als Arbeitskräfte in Konflikt geraten muß, wenn die mit dieser verbundenen physischen Reproduktionsprobleme nicht ungelöst bleiben sollen: Aufbau und Unterhaltung eines sekundären Familiensystems in Gestalt öffentlicher Einrichtungen zur Kinderbetreuung sind teuer. So endlich jedoch die Möglichkeiten weiterer Landnahme innerhalb der Grenzen des Nationalstaats sein mögen, so unbegrenzt erscheinen sie außerhalb derselben. Hier spätestens muß von jener "Globalisierung" die Rede sein, von der 1984 ebenfalls noch niemand sprach, auch Lutz nicht. Sein Konzept kapitalistischer Prosperität ist auch darin ein klassisch sozialdemokratisches, daß es eng an die politische Organisationsform und das institutionelle Instrumentarium des Nationalstaats gebunden ist. Jenseits von dessen Grenzen gibt es bei Lutz, wie bei Luxemburg, vor allem Märkte für Rohstoffe und Exporte, die politisch erschlossen und gesichert werden müssen. Heute dagegen geht es bei der internationalen Expansion des modernen Kapitalismus auch und vor allem um Arbeitskräfte und Produktionsstätten. Damit beginnt, wie ich im folgenden argumentieren möchte, ein neues Spiel, das die politischen Verhältnisse innerhalb der alten Industriegesellschaften grundlegend neu ordnet und letzten Endes die Ursache dafür ist, daß sich die kapitalistische Wachstums- und die sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatsdynamik, wie zu befürchten ist: auf Dauer, voneinander abgekoppelt haben.

 

Der Prozeß der Globalisierung hat so viele Facetten, daß man das Wort nur verwenden sollte, wenn man ihm eine Definition beifügt. Entscheidend für die sich abzeichnende nicht-sozialdemokratische Lösung des von Lutz beschriebenen Stagnationsproblems des entwickelten Kapitalismus war, so darf man vermuten, dessen 1984 nicht vorhersehbare schlagartige Erweiterung zu einem nunmehr tatsächlich weltumspannenden Produktions- und Konsumptionszusammenhang, insbesondere durch die Einbeziehung der Gebiete des untergegangenen Sowjet-Kommunismus und des nachrevolutionären China. Wenn man so will, waren es Michael Gorbatschow und die Testamentsvollstrecker Deng Hsiao Pengs, die dem kapitalistischen Expansionsdrang Ende der achtziger Jahre freien Zugang zu nicht nur praktisch unbegrenzten, sondern auch begierig auf Erschließung wartenden Landreserven verschafften. Zusammen mit den fortgeschrittenen Informations- und Transporttechnologien der neunziger Jahre, mit deren Hilfe Produktionsprozesse auch über weite Entfernungen hinweg zuverlässig koordiniert und Güter und Arbeitskräfte nahezu beliebig verschoben werden können, haben sie es dem westlichen Kapitalismus ermöglicht, den ohnehin nahezu aufgebrauchten traditionellen Sektor in seinem Inneren durch einen externen traditionellen Sektor zu ersetzen, dessen weltweite Dimensionen ausreichen dürften, mindestens eine weitere "lange Welle" kapitalistischer Expansion mit sozialem Brennstoff zu versorgen.

 

Globalisierung als Externalisierung des traditionellen Sektors des westlichen Kapitalismus und als Internationalisierung des von Lutz noch allein auf nationaler Ebene angesiedelten Wirtschaftsdualismus bedeutet vor allem, daß die kapitalistische Landnahme wieder wie früher ohne begleitende Expansion des Sozialstaats vorangehen kann. Noch mehr als die Frauen im Inneren der westlichen Gesellschaften drängen die Arbeitskräfte des ehemaligen Sowjetblocks und Chinas zu Löhnen in den nunmehr weltweiten, nicht mehr durch nationalstaatliche Grenzen segmentierten Arbeitsmarkt, die weit unter denen der alten Industriearbeiterschaft liegen. Wie die Arbeitslosen der Weltwirtschaftskrise der zwanziger Jahre nehmen sie jede Arbeit an, ohne daß ihr Arbeits-, Lern- und Aufstiegswille hinter dem der Söhne der Handwerker und Bauern Europas zurückbliebe, die das Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahre ermöglicht haben. Im Gegenteil stammen immer mehr von ihnen aus Gesellschaften, in denen Bildung und Wissen traditionell hoch geschätzt wird, und oft höher als in den zu Konsumgesellschaften mutierten Industrieländern des alten Westens. Trotz ihrer hohen Qualifikation ist der Reservationslohn der neuen Arbeitnehmer, vom Westen aus betrachtet, unendlich niedrig, während ihre Zahl für alle praktischen Zwecke unendlich groß ist, und auch ihre "Flexibilität" ist im Vergleich zu der westlicher Arbeitnehmer unbegrenzt: Konjunkturkrisen überdauern sie in der Weite der subsistenzwirtschaftlichen Dörfer, aus der sie gekommen sind und in die sie noch lange werden zurückkehren können. Nicht zuletzt fehlen ihnen in den Gesellschaften des Westens, zu deren exterritorialer Reservearmee sie geworden sind, alle politischen Rechte, die es ihnen ermöglichen würden, ihre Inklusion in den Arbeitsmarkt, wenn sie dies denn wollten, zur Grundlage von Ansprüchen auf soziale Inklusion zu machen.

 

Welche weltweiten Institutionen die post-sozialdemokratische "Prosperitätskonstellation" des 21. Jahrhunderts genau benötigt, ist alles andere als klar, und in diesem Sinne ist die von Lutz und anderen konstatierte Krise des modernen Kapitalismus noch keineswegs beendet. Grundzüge der sich herausbildenden Ordnung sind jedoch schon heute erkennbar, und sie ähneln kaum dem, was manchmal als "europäisches Sozialmodell" gehandelt wird. Das Regime der WTO spielt eine zentrale Rolle, zusammen mit weiteren Arrangements für "global governance", die schon durch ihre Konstruktion von vornherein fast gänzlich auf die Schaffung offener Märkte festgelegt sind. Hinzu kommen "humanitäre Interventionen" rechtlicher wie militärischer Art zur "Demokratisierung" von Staaten, deren Innenpolitik aus welchen Gründen auch immer eine Barriere für den freien Verkehr von Gütern, Personen und Kapital, die gesicherte weltweite Ausbreitung kapitalistischer Eigentumsformen und die reibungslose Koordinierung globaler Produktionsketten bilden könnte, sowie Kredite an potentiell zahlungsfähige Länder zur Sicherung weltweiter Nachfrage. Die Kritik von Intellektuellen und Organisationen wie ATTAC darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine liberale Weltinnenpolitik dieser Art über eine breite Massenbasis verfügt, auch und gerade in den Ländern der neu erschlossenen Peripherie und keineswegs nur bei deren Mittelschichten. Vor die Wahl gestellt zwischen ihrer Einbeziehung in weltweite Arbeits- und Gütermärkte einerseits und der Verteidigung kollektiver politischer Autonomie in tendenziell autoritären Staaten um den Preis wirtschaftlicher Rückständigkeit andererseits dürften auch und gerade unter den Ärmsten der Armen nur wenige dem geheimen Charme von Kapitalismus und liberaler Demokratie widerstehen wollen.

 

Die schlechtesten Karten jedenfalls haben die traditionelle Arbeitnehmerschaft der alten Industriegesellschaften und ihre Erben. Sie werden zur absinkenden Klasse des globalen Neo-Kapitalismus. Appelle ihrer Organisationen an die neue Konkurrenz auf den nunmehr weltweiten Arbeitsmärkten, aus internationaler Solidarität den Preis ihrer Arbeitskraft auf das Niveau Westeuropas oder Amerikas zu erhöhen, verhallen ungehört. So nimmt die Intensität des internationalen Wettbewerbs um Arbeitsplätze und Produktionsstätten ständig zu. In der Konkurrenz mit dem unbegrenzten und unbegrenzt billigen Arbeitsangebot der Schwellenländer bleibt der Arbeiter- und Angestelltenklasse des industrialisierten Westens nur die ständige Verbesserung ihrer Marktfähigkeit - ihrer "employability" - durch immer weitere Aufqualifizierung. Die aber beherrschen auch ihre Konkurrenten, insbesondere die in Asien und Osteuropa. Da die Wanderung der Produktionsstätten und zunehmend wohl auch der Konstruktionsabteilungen nach Osten wegen der versunkenen Kosten der in der Vergangenheit getätigten Investitionen im Westen nur allmählich vonstatten geht, kann die Politik der westlichen Demokratien sich und ihrer Klientel noch eine Zeitlang einreden, daß sie irgendwann zum Stillstand kommen wird. In der Zwischenzeit aber wächst die Kluft zwischen denen, die ihren Produktivitätsvorteil und ihren Lebensstandard durch Hinzulernen zu verteidigen vermögen, und denen, die im Rennen um internationale Wettbewerbsvorteile nicht mithalten können.

 

Ob die neuen Eliten jemals bereit sein werden, ihren politischen Einfluß zur Sicherung des sozialen Status einer wachsenden Zahl aussortierter "loosers" einzusetzen, darf bezweifelt werden; dem wettbewerbsorientierten Sozialcharakter, den die Zeit hervorbringt und prämiiert, wäre dies eher wesensfremd. Was sich abzeichnet, ist eine allgemeine Tendenz, den Wohlfahrtsstaat, dessen von Lutz beschriebener funktionaler Beitrag zur Stabilisierung von Arbeitsangebot und Güternachfrage entbehrlich geworden ist, zum Instrument einer investiven Sozialpolitik umzuschmieden, die vor allem dazu dienen soll, die Wettbewerbsfähigkeit der Wettbewerbsfähigen zu verbessern. Als Folge stürzen die Preise für einfache Arbeit in den Ländern des alten Westens und nimmt die Ungleichheit der Einkommen in einer immer stärker marktgetriebenen Lohnstruktur zu. Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, daß in der liberalisierten globalen Ökonomie nicht nur Produktionsstätten aus dem Zentrum in die Peripherie wandern, sondern auch Arbeitskräfte aus der Peripherie in das Zentrum, wo ihr niedriger Reservationslohn die Tariflöhne und statussichernden Sozialleistungen untergräbt, mit denen der traditionelle Sozialstaat seine am wenigsten wettbewerbsfähigen Bürger in den mainstream der Industriegesellschaft integriert hatte.

 

 

Eine neue Prosperitätskonstellation?

 

Im letzten Kapitel des Buches vom "kurzen Traum" begibt sich Lutz auf die Suche nach einer neuen "Prosperitätskonstellation" - einem institutionellen Arrangement, das ähnlich wie der demokratische Kapitalismus der Nachkriegszeit dauerhaftes und hohes wirtschaftliches Wachstum tragen könnte. Weit kommt er dabei nicht, und wie sollte er auch: Sozialwissenschaftler sind schließlich keine Hellseher. Allerdings könnte sich das Problem in der Zwischenzeit von selbst erledigt haben. Der kapitalistische Akkumulationsprozeß und die ihn ermöglichende Absorption traditioneller Lebenswelten in den Markt sind ja, wie dargelegt, seit Anfang der achtziger Jahre nicht stillgestanden; sie haben sich nur weiter internationalisiert. Hatte Lutz seine Suche noch wie selbstverständlich auf die nationale Ebene beschränkt, so muß man heute den Umstand ernster nehmen, daß der Kapitalismus schon immer ein Weltsystem war. Die etwa in einem Schwellenland wie Korea seit den achtziger Jahren erzielten Einkommenszuwächse stehen hinter denen in den Industrieländern nach dem Zweiten Weltkrieg in nichts zurück; im Vergleich mit ihnen verblassen die als solche keineswegs unbeträchtlichen Einkommenszuwächse im "alten Europa" nach 1984, sieht man von den Gehältern der Managerklasse ab, fast völlig.[3] Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind es vor allem die Länder des Postkommunismus osteuropäischer und chinesischer Couleur, deren von ihnen selbst enthusiastisch gewollte Inklusion in den Weltmarkt an die Stelle der durch Politik und soziale Rechte ermöglichten Inklusion der europäischen Industriearbeiterschaft in den modernen Sozialstaat getreten ist und ein neues globales Akkumulationsregime zu tragen beginnt, unter dessen Bedingungen die erworbenen Statusrechte und eingelebten Ansprüche der Nutznießer des demokratischen Kapitalismus immer unrealistischer werden.

 

Auch die sich herausbildende neue Prosperitätskonstellation, wenn sie denn eine ist, könnte im übrigen Legitimität und, womöglich, politische Stabilität daraus beziehen, daß das von ihr getragene wirtschaftliche Wachstum mit einem Zuwachs an sozialer Gleichheit einhergeht. Freilich ist es in der "neuen Geographie der globalen Einkommensverteilung" nicht mehr die Ungleichheit innerhalb der reichen Gesellschaften des Westens, die im Abnehmen begriffen ist. Während diese im Gegenteil seit längerem zunimmt, geht die Ungleichheit zwischen den Gesellschaften, und vor allem zwischen dem Westen und Asien, langfristig zurück.[4] Staatsgrenzen, in anderen Worten, begrenzen heute vielleicht noch Gesellschaften; Märkte aber und die von ihnen ausgehenden Umwälzungen der Sozialstruktur begrenzen sie nicht mehr. Wie könnte es auch anders sein in einer globalen Ökonomie ohne globalen Staat? Wenn Prosperität wie bei Lutz wachsende und zugleich nicht auseinanderwachsende Einkommen für alle Mitglieder einer nationalstaatlichen Solidargemeinschaft bedeutet, dann stehen ihre Aussichten schlecht. Wer aber den globalen Freihandel als weltweite Prosperitätskonstellation sehen will, kann ihn durchaus als Abschied vom Partikularismus des Nationalstaats und als Fortschritt zum Universalismus einer sich entwickelnden Weltgesellschaft feiern. In dieser findet Stagnation vor allem in reichen Nationen statt, denen es besser geht als anderen - und wenn in ihnen die Lebensverhältnisse immer ungleicher werden, dann teils wegen der Einwanderung von Menschen aus der Peripherie, die auch weit unterhalb des zivilisatorischen Minimums ihrer Gastländer ungleich besser gestellt sind als in den Dörfern, aus denen sie stammen, und teils als Folge des Abstiegs einer Arbeitnehmerschaft, deren hohe Einkommen immer weniger am Markt verdient und immer mehr zu Renten aus sozialer Schließung und politischem Status geworden sind.

 

Allerdings gilt ebenso, daß die Entnationalisierung der Wirtschaft mit dem Verlust oder doch einer profunden Gefährdung einer Reihe von zivilisatorischen Errungenschaften einhergeht, mit deren Hilfe es im Wohlfahrtsstaat der Nachkriegsphase gelang, das Leben der Menschen und ihrer Gemeinschaften im Kapitalismus wenigstens teilweise gegen die unberechenbaren Schwankungen selbstregulierender Märkte abzusichern. Nichts spricht dafür, daß dieser Verlust in absehbarer Zeit auf supranationaler Ebene ausgeglichen werden könnte. Die gängigen Rezepte für die Anpassung des europäischen Wohlfahrtsstaats an die neuen Bedingungen laufen denn auch auf eine historisch beispiellose Reorganisation sowohl der Politik als auch der individuellen Lebensweise nach dem Modell riskanten und - notwendigerweise - wagemutigen Unternehmertums hinaus. Auch dies wäre eine neue Art von Landnahme: von fortschreitender Durchkapitalisierung der Gesellschaft in Gestalt einer tendenziellen Verwandlung des Arbeitnehmers in einen unternehmerisch handelnden Humankapitalbesitzer. Um Weber zu paraphrasieren: das unternehmerische Virtuosentum wandert aus den Chefetagen des industriellen Zeitalters in die Welt und wird zur allgemeinen Lebensform.[5] Wie viele Gesellschaftsmitglieder damit zurechtkommen werden und wie viele nicht, weiß niemand. Dennoch scheint es eine Alternative nicht zu geben. In Deutschland allerdings mit seinem Bismarckschen Sozialstaat und einem blockierten, "halbsouveränen" politischen System bedeutet Strukturwandel derzeit vor allem hohe Arbeitslosigkeit, fortschreitenden Abbau sozialer Sicherung trotz aggressiver Verteidigung schwindender Besitzstände, Austrocknung des öffentlichen Sektors als Folge von Steuerkonkurrenz und Haushaltskonsolidierung sowie sinkende Realeinkommen in einer sich polarisierenden Einkommensstruktur. Aber vielleicht muß das ja nicht so bleiben.

 

 

 

Literatur

 

Boyer, Robert, 1979: La crise actuelle: une mise en perspective historique. In: Critiques de l'économie politique, Heft 7/8, 5-113

Lutz, Burkhard, 1984: Der kurze Traum immerwährender Prosperität: Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Campus

Firebaugh, Glenn, 2003a: The New Geography of Global Income Inequality. Cambridge, MA: Harvard University Press

Firebaugh, Glenn, 2003b: Die neue Geografie der Einkommensverteilung in der Welt. In: Walter Müller und Stefani Scherer, Hg., Mehr Risken – mehr Ungleichheit? Abbau von Wohlfahrtsstaat, Flexibilisierung von Arbeit und die Folgen. Frankfurt am Main: Campus, 363-388

Firebaugh, Glenn und Brian Goesling, 2004: Accounting for the Recent Decline in Global Income Inequality. In: American Journal of Sociology 110, 283-312

Hickel, Rudolf, 2004: Sind die Manager ihr Geld wert? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 10, 1197-1204

Luxemburg, Rosa, 1913: Die Akkumulation des Kapitals: Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Berlin: Buchhandlung Vorwärts Paul Singer GmbH

Marx, Karl, 1966 [1867]: Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin: Dietz Verlag

Marx, Karl, 1966 [1894]: Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Berlin: Dietz Verlag

Tilly, Charles, 1985: Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons. New York: Russell Sage Foundation

 

 

 

Endnoten

 

1

Im ersten Band des "Kapital" beschreibt Marx mehrfach den Einsatz erzwungener Lohnsenkungen zur Steigerung der Arbeitsbereitschaft der frühen, noch traditionalistisch-subsistenzwirtschaftlich orientierten Industriearbeiterschaft (z.B. Marx 1966 [1867], 279 ff.).

 

2

Im 24. Kapitel der "General Theory", überschrieben "Concluding Notes on the Social Philosophy Towards Which the General Theory Might Lead", schreibt Keynes von einer zukünftigen Prosperität, deren Grundlage ein niedriges Zinsniveau sein würde. "Though this state of affairs would be quite compatible with some measure of individualism, yet it would mean the euthanasia of the rentier, and, consequently, the euthanasia of the cumulative oppressive power of the capitalist to exploit the scarcity-value of capital." Die Zunahme der weiblichen Erwerbsbeteiligung im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wäre dann das angebotsseitige Äquivalent zur nachfrageseitigen Eliminierung der Beschaulichkeit des Rentiersdaseins: sie macht es den Verkäufern von Arbeitskraft unmöglich, deren Knappheitswert auszubeuten.

 

3

So wuchs zwischen 1980 und 2004 das Bruttosozialprodukt pro Kopf in Südkorea und Taiwan mehr als doppelt so schnell wie in Deutschland, auf 384 bzw. 342 Prozent des Standes von 1980. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens zwischen 1980 und 1998 betrug in China 5,99 Prozent, in Ostasien (ohne China und Japan) 3,82 Prozent und in Südasien 3,57 Prozent (Firebaugh und Goesling 2004, 286).

 

4

Siehe Firebaugh (2003a; 2003b) sowie Firebaugh und Goesling (2004). Zwischen 1980 und 1998 nahm die Ungleichheit der Einkommen zwischen den Ländern je nach verwendetem Maß um 6,6 und 23,8 Prozent pro Kopf ab, und pro Arbeiter sogar um zwischen 8,4 und 27,7 Prozent (Firebaugh und Goesling 2004, 293, 303). Zugleich nahm die Ungleichheit innerhalb der Länder Westeuropas um zwischen 7,7 und 10,4 Prozent zu (Firebaugh 2003, 382).

 

5

Bei Weber war es noch das religiöse Virtuosentum der Mönche gewesen, die christliche Askese, die im Anfang des Kapitalismus "auf den Markt des Lebens (trat), die Türe des Klosters hinter sich (zuschlug) und (es) unternahm, gerade das weltliche Alltagsleben mit ihrer Methodik zu durchtränken …" (Weber 1988, 163). So, wie wir damals alle zu Mönchen geworden sind, sollen wir heute alle zu Unternehmern werden.

 

 

 


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MPIfG:  MPIfG Working Paper 05/5

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[Zuletzt geändert am 29.03.2007 10:59]