MPIfG Working Paper 05/6, Juni 2005

 

Recht und Politik in der Reform des deutschen Föderalismus

 

Fritz W. Scharpf , Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

 

 

 

Zusammenfassung

 

In der Entwicklung des deutschen Bundesstaates lassen sich drei Phasen unterscheiden: Die anfänglich ungebremste Unitarisierung der Gesetzgebung und Zentralisierung der Finanzbeziehungen wurde seit Mitte der sechziger Jahre korrigiert durch die Institutionalisierung eines "kooperativen Bundesstaates" mit eng verflochtenen Finanzbeziehungen und gesteigerten Konsenserfordernissen in der Gesetzgebung des Bundes. Seit den neunziger Jahren wird diese Lösung als lähmende "Politikverflechtung" kritisiert, die durch eine klare Trennung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern ersetzt werden sollte. Die mit dieser Zielsetzung im Herbst 2003 eingesetzte "Kommission des Bundestages und des Bundesrates zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" ist jedoch wegen ihrer zu strikten Orientierung an diesem, die Unterschiede zwischen den Ländern ignorierenden "Trennprinzip" zunächst gescheitert.

 

In jeder dieser Phasen wurde die Entwicklung durch die Interaktion zwischen den politischen Akteuren und Interventionen des Verfassungsgerichts geprägt, wobei die ohnehin dominante Tendenz jeweils durch die Rechtsprechung noch verstärkt und verfestigt wurde. Auch in der Arbeit der Kommission hat Dominanz verfassungsrechtlicher Diskurse problemgerechte Lösungen nicht begünstigt.

 

 

Abstract

 

There were three distinct phases in the evolution of post-war German federalism: The initial expansion of national legislative competencies and of centralized fiscal relations was corrected by the mid-1960s through the institutionalization of "cooperative federalism" with tightly integrated fiscal arrangements and very high consensus requirements for federal legislation. After the early 1990s, however, established institutions were criticized as a "joint decision trap" that ought to be replaced by a clear separation of federal and Land competencies. For this purpose, a bicameral "Commission for the Modernization of the Federal Constitution" was set up in the Fall of 2003. It failed, however, because its commitment to the "separation principle" could not accommodate the diversity of conditions among the German Länder.

 

In each of these phases, institutional evolution was shaped by the interaction between political actors and the interventions of the constitutional court – which generally reinforced and perpetuated the dominant paradigm of each period. By the same token, constitutional-law discourses were not conducive to the constructive search for feasible and effective solutions in the Commission.

 

 

 

Inhalt

 
1 Einleitung
2 Vom unitarischen zum kooperativen Bundesstaat
3 Vom kooperativen Föderalismus zurück zum Trennprinzip?
4  Die Schwierigkeiten der Entflechtung
  4.1  Weniger Zustimmungsrechte des Bundesrates?
  4.2  Neue Gesetzgebungskompetenzen der Länder?
5 Interessenkonflikte zwischen den Ländern als Restriktion der Entflechtung
6 Aporien des Trennprinzips
7 Optionen des asymmetrischen Föderalismus
  7.1  Abweichungsrechte
  7.2  Optionen und Bedenken
  7.3  Vorteile konditionierter Abweichungsrechte
8 Recht und Politik im Spiegel der Föderalismusreform: Vier Thesen
Literatur

 

 

 

Einleitung

 

Die Entwicklung des deutschen Bundesstaates wurde durch strukturelle Spannungen und den Druck historisch-kontingenter Problemlagen geprägt, die ein stabiles institutionelles Gleichgewicht verhindert und eskalierende Veränderungen und Trendwenden bewirkt haben. Die ersten drei Jahrzehnte der Geschichte der Bundesrepublik waren geprägt durch eine zunehmende Unitarisierung der Politikinhalte bei gleichzeitig zunehmender Verflechtung zwischen den staatlichen Ebenen und wachsenden Kooperations- und Konsenserfordernissen. Seit den neunziger Jahren hat sich die wissenschaftliche und publizistische Kritik an den Dysfunktionen der Politikverflechtung verschärft,[1] und auch in der Politik selbst haben die seit längerem vernehmbaren Forderungen nach Dezentralisierung und Entflechtung praktische Bedeutung gewonnen.

 

Diese Pendelschläge der institutionellen Entwicklung waren in manchen Phasen das quasi-evolutionäre Ergebnis interessenorientierter Strategien der einzelnen politischen Akteure innerhalb der Spielräume der geltenden Regeln des Grundgesetzes, während in anderen Phasen die explizite Änderung dieser Regeln durch kollektives Handeln unter dem Erfordernis von Zweidrittelmehrheiten im Bundestag und Bundesrat nötig und möglich war. In beiden Konstellationen, der des "game within rules" und der des "game about rules" (Ostrom et al. 1994), gehörte das Verfassungsgericht zu den wichtigen Mitspielern. Seine Interpretation der Regeln konnte die Spielräume der politischen Akteure entweder erweitern oder aber so weit verengen, daß Änderungen nur noch durch formelle Verfassungsänderung erreicht werden konnten – womit dann zugleich zusätzliche Vetopositionen etabliert und mit künstlicher Konfliktfähigkeit ausgestattet wurden. Das heißt zwar nicht, daß Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit die institutionelle Dynamik hätten entweder anhalten oder vorausschauend steuern können. Aber es bedeutet doch, daß die Wechselwirkung zwischen evolutionärer Verfassungsentwicklung, expliziter Verfassungspolitik und Verfassungsrechtsprechung, die auch beim jüngsten Versuch einer Föderalismusreform im Rahmen der "Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" (KMbO) wieder deutlich wurde, ein interessanter Untersuchungsgegenstand auch der politikwissenschaftlichen Forschung sein könnte.

 

Im vorliegenden Aufsatz werde ich zunächst den Trend zur Unitarisierung und Verflechtung und dann den gegenwärtigen Gegentrend skizzieren und dabei zeigen, daß in beiden Phasen die Verfassungsrechtsprechung eine eher trendverstärkende als moderierende oder korrigierende Funktion wahrnahm. Anschließend werde ich die Aporien der die gegenwärtige Verfassungspolitik dominierenden Entflechtungsdiskurse erörtern und schließlich auf die Grenzen einer rechtlich und politisch beschränkten Verfassungsreform verweisen.

 

 

2  Vom unitarischen zum kooperativen Bundesstaat

 

Der "unitarische Bundesstaat" des Grundgesetzes (Hesse 1962) verdankte seine im internationalen Vergleich einmalige institutionelle Struktur zwei Anfangsbedingungen: einer unitarischen politischen Kultur und der Tatsache, daß die Länder vor der Bundesrepublik existierten und ihre institutionellen Eigeninteressen in der neuen Verfassung sichern konnten.

 

Die erste Bedingung, deren Wurzeln in den kulturellen Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts zurückreichen (Lehmbruch 2002), war durch den Zentralisierungsschub der Weimarer Verfassung und die "Gleichschaltung" der Länder im zentralisierten Einheitsstaat des Dritten Reiches institutionell gestützt worden, und die Notlagen und Zwangsumsiedlungen nach dem Zusammenbruch des Reiches hatten den normativen Stellenwert der nationalen Einheit und des solidarischen Lastenausgleichs eher noch verstärkt als untergraben. Die institutionell neu etablierten westdeutschen Länder konnten also die ihnen von den Besatzungsmächten eingeräumte konstitutionelle Gestaltungsmacht zwar zur Wiederherstellung einer an das Bismarck-Modell anknüpfenden föderalen Verfassung nutzen, keineswegs aber zur Maximierung autonomer Gesetzgebungskompetenzen und einer autonomen Finanzwirtschaft. Statt dessen ging es ihnen darum, ihr Monopol für den Vollzug (fast) aller staatlichen Aufgaben zu verteidigen und über den Bundesrat unmittelbaren Einfluß auf die Gesetzgebung des Zentralstaates zu gewinnen.

 

Deshalb führte der Regelungsbedarf der Nachkriegszeit, der wie selbstverständlich an den Bund adressiert wurde, zunächst zu einer progressiven Unitarisierung der Gesetzgebung, die, wo nötig durch Verfassungsänderung,[2] in erster Linie aber durch die volle Ausschöpfung der "konkurrierenden" Gesetzgebungskompetenzen erreicht wurde. Gemessen am Text der Verfassung, die diese Kompetenzen im Prinzip den Ländern zugeschrieben und Bundesgesetze nur zugelassen hatte, wenn ein besonderes "Bedürfnis" nach einheitlicher Regelung bestand (Art. 72 Abs. 2 GG), war diese Entwicklung keineswegs unproblematisch. Sie wurde ermöglicht und gefördert durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das im Sinne des (von ihm ansonsten kaum praktizierten[3]) judicial self restraint die Feststellung eines solchen Bedürfnisses fast vollständig dem Ermessen des politisch verantwortlichen (Bundes-)Gesetzgebers überließ (BVerfGE 2, 213 [1953]; 33, 224 [1972]; 43, 9 [1972]).

 

Für die Länder war die legislative Unitarisierung im Prinzip akzeptabel. Die von ihnen zu vollziehenden Bundesgesetze waren in der Wiederaufbauphase politisch wenig kontrovers. Zudem enthielten sie zumeist auch Regelungen des Verwaltungsverfahrens oder der Behördenorganisation, die nach Art. 84 Abs. 1 GG nur mit Zustimmung des Bundesrates beschlossen werden konnten. Die Regierungen konnten also die auch im besten Falle eingeschränkte und politisch wenig attraktive Autonomie des Landesgesetzgebers gegen kollektive Mitwirkungsrechte auf der Bundesebene eintauschen. Unterstützt wurde diese Neigung wiederum durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich bei der Interpretation des Art. 84 GG von einem "Einheitsprinzip" leiten ließ, demzufolge das Zustimmungserfordernis sich auf das Gesetz als Ganzes bezog. Bei fehlender Zustimmung war demnach nicht allein die Verfahrensregelung, sondern das ganze Gesetz nichtig (BVerfGE 55, 274 [1980]). Infolgedessen konnte der Bundesrat seine Zustimmung auch aus Gründen verweigern, die sich nicht auf Regelungen des Verwaltungsverfahrens oder der Behördenorganisation, sondern auf den materiellen Gehalt des Gesetzes bezogen – eine Option, die immer dann an praktischer und politischer Bedeutung gewann, wenn die parlamentarische Opposition über eine Mehrheit im Bundesrat verfügte.

 

Viel problematischer als die Unitarisierung der Gesetzgebung war aus Ländersicht die anfängliche Tendenz zu einer immer stärkeren Zentralisierung der Finanzverfassung. Bei der Verabschiedung des Grundgesetzes war die zunächst beabsichtigte Rückkehr zum großen Steuerverbund der Weimarer Zeit am Veto der Besatzungsmächte gescheitert, und nach dem "Trennprinzip" stand von den "großen" Steuern dem Bund das Aufkommen der Umsatzsteuer zu, den Ländern das der Einkommen- und Körperschaftsteuer. Im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre nahm der Bund jedoch (mit der Zustimmung des Bundesrates) auch einen immer größeren Anteil am Aufkommen der Einkommen- und Körperschaftsteuer für sich in Anspruch – und finanzierte damit wiederum ein wachsendes Volumen von zweckgebundenen Zuschüssen an die Länder. Diese dienten zwar dem Ausgleich ungleicher Problemlasten und ungleicher Steueraufkommen, aber zugleich wuchs damit die Abhängigkeit der finanzschwachen Länder von Zuwendungen des Bundes, die auf der Grundlage von Verwaltungsvereinbarungen und Haushaltsgesetzen unter zunehmend detaillierten Bedingungen vergeben wurden.

 

Obwohl diese selektive (und potentiell auch diskriminierende) "Dotationswirtschaft" sich ohne verfassungsrechtliche Grundlage entwickelt hatte, gab es angesichts der Abhängigkeit der Empfänger keine Kläger und damit auch keine verfassungsgerichtliche Remedur. Eine Gelegenheit zur Intervention gegen zentralstaatliche Ambitionen im Zuständigkeitsbereich der Länder bot erst der Versuch der Bundesregierung, ein zweites Fernsehprogramm als GmbH des Bundes und der Länder zu gründen. Da die vorbereitenden Verhandlungen über das "Adenauer-Fernsehen" nur mit den der Union angehörenden Regierungschefs geführt worden waren, beließ es das "Fernsehurteil" (BVerfGE 12, 205 [1961]) nicht bei der Feststellung einer fehlenden Bundeskompetenz zur Veranstaltung von Fernsehprogrammen, sondern rügte auch das "procedere" als Verletzung des ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes der "wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten" (S. 254), der es dem Bund verbiete, "in einer Frage des Verfassungslebens, an der alle Länder interessiert und beteiligt sind, … nach dem Grundsatz divide et impera zu handeln" (S. 255).

 

Nach der gleichen Logik war aber auch der "Wildwuchs" der freihändig oder auf der Grundlage bilateraler Vereinbarungen vergebenen Dotationen des Bundes an die Länder verfassungsrechtlich prekär und politisch kontrovers geworden. Als die Bundesregierung der Großen Koalition deshalb unter dem Einfluss des damaligen technokratischen Planungs- und keynesianischen Steuerungsoptimismus daran ging, auf der Grundlage des Gutachtens der Troeger-Kommission (1966) die Voraussetzungen für eine gesamtstaatliche Finanzplanung und antizyklische Fiskalpolitik zu schaffen, nutzten die Länder die dafür notwendige Reform der Finanzverfassung, um die einseitigen Handlungsmöglichkeiten des Bundes radikal zu beschneiden (Lehmbruch 1998: 114-125; Schönhoven 2004: 333-339). So wurde nun auch die Umsatzsteuer in den großen Steuerverbund einbezogen und der Länderanteil nach der Einwohnerzahl (und nicht nach dem örtlichen Aufkommen) verteilt, um so die Unterschiede der Finanzkraft zwischen den Ländern zu vermindern – die darüber hinaus durch einen verfassungsrechtlich geregelten horizontalen Finanzausgleich zwischen den Ländern und gesetzlich geregelte "Ergänzungszuweisungen" des Bundes weiter abgebaut werden sollten. Schließlich wurde die Dotationswirtschaft ersetzt durch die Institutionalisierung gemeinsam geplanter und finanzierter "Gemeinschaftsaufgaben" für den Hochschulbau, die Agrarstrukturpolitik, den Küstenschutz, die regionale Wirtschaftsförderung und die Forschungsförderung (Art. 91a und 91b GG) und durch die verfassungsrechtlich geregelte Zulassung von Finanzhilfen des Bundes für bestimmte Investitionen der Länder und Gemeinden (Art. 104a Abs. 4 GG).

 

Auch wenn die in Art. 91b GG ebenfalls vorgesehene gemeinsame Bildungsplanung wegen der sich bald verschärfenden ideologischen Konflikte zwischen den großen Parteien nie die erwartete praktische Bedeutung gewann, war damit die dem unitarischen Bundesstaat inhärente Zentralisierungstendenz gestoppt und durch die Strukturen eines "kooperativen Bundesstaates" (Kisker 1971) oder eben der "Politikverflechtung" (Scharpf et al. 1976) ersetzt worden. Auch diese Entwicklung wurde durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstärkt. Im Urteil zum Städtebauförderungsgesetz (BVerfGE 39, 96 [1975]) wurde dem Bund die Möglichkeit verwehrt, bei Finanzhilfeprogrammen die zu fördernden Vorhaben der Gemeinden ohne Zustimmung der jeweiligen Landesregierungen auszuwählen. Noch restriktiver war die Wirkung des Urteils zur "Strukturförderung" (BVerfGE 41, 291 [1976]), das ein auf die Ölpreiskrise reagierendes "einmaliges Sonderprogramm für Gebiete mit speziellen Strukturproblemen" für verfassungswidrig erklärte. Zwar erlaubte der neue Art. 104a Abs. 4 GG die Regelung von Finanzhilfen entweder durch Zustimmungsgesetz oder durch Verwaltungsvereinbarung auf Grund des Bundeshaushaltgesetzes. Wenn aber der zweite Weg gewählt wurde, dann durften auch bei unterschiedlicher Betroffenheit der Länder solche Vereinbarungen nur mit der förmlichen Zustimmung aller Länder geschlossen werden.[4] Mit anderen Worten: Im kooperativen Bundesstaat war politisches Handeln nur noch im allseitigen Konsens möglich.

 

 

3  Vom kooperativen Föderalismus zurück zum Trennprinzip?

 

Von den Planungs- und Kooperationshoffnungen war zunächst auch die Arbeit der 1970 eingesetzten "Enquete-Kommission Verfassungsreform" geprägt, die in ihrem ersten Zwischenbericht (1973) sogar eine verpflichtende "integrierte Gesamtplanung des Bundes und der Länder" vorgeschlagen hatte. Der Anspruch wurde freilich schon im Schlußbericht von 1976 wieder auf den einer fakultativen "gemeinsamen Rahmenplanung" zurückgenommen (Enquete-Kommission 1976, 95-150).[5] Inzwischen waren auch die Folgeprobleme eines Konsensmodells, bei dem weder der Bund noch die einzelnen Länder die Möglichkeit des autonomen Handelns behalten hatten, nicht nur für die Politikwissenschaft, sondern auch für manche Praktiker erkennbar geworden (Scharpf et al. 1977; Hesse 1977). Im Bund-Länder-Verhältnis hatte sich gezeigt, dass die Einigung durch Interessenkonflikte zwischen großen und kleinen, reicheren und ärmeren Ländern zumindest stark behindert wurde. Der Vorschlag der Neugliederungskommission, der in Westdeutschland annähernd gleich große und gleich leistungsfähige Länder hätte schaffen sollen (Ernst-Kommision 1972), war politisch gescheitert, und im Gefolge der Ölpreiskrise hatte sich erwiesen, daß weder bei den Gemeinschaftsaufgaben noch bei den Finanzhilfen eine den neuen Problemlagen entsprechende Umverteilung der Bundesmittel zwischen den Ländern im Konsens erreicht werden konnte. Kurz, dem kooperativen Föderalismus fehlte die Fähigkeit zur raschen und problemgerechten Reaktion auf krisenhafte Veränderungen der wirtschaftlichen Lage.

 

Soweit es dabei nur um die Interessen der Länder ging, waren Kompromisslösungen allerdings meist doch zu erreichen, auch wenn die der Konfliktminderung dienenden Maximen der Besitzstandswahrung und Gleichbehandlung die Wirksamkeit von Programmen verminderte und deren Kosten erhöhte (Scharpf et al. 1976; Bentele 1979; Garlichs 1980). Schließlich hatten sich ja die Beteiligten dauerhaft auf eine Struktur eingelassen, in der eigene Interessen nur im Modus der intergouvernementalen Verhandlungen erreicht werden konnten, und in der konfrontative Strategien allenfalls Blockaden, aber nicht die Durchsetzung eigener Ziele zur Folge hatten (Benz 1985, 1994). Ganz andere Spiele wurden und werden jedoch immer dann möglich, wenn – zum ersten Mal in den siebziger Jahren[6] – die Oppositionsparteien im Bund die Mehrheit im Bundesrat gewinnen und damit die Chance erhalten, dessen Zustimmungsrechte für parteipolitische Zwecke zu instrumentalisieren.

 

Unter diesen Bedingungen des divided government (Laver/Shepsle 1991) geht es dann im Bundesrat nicht mehr nur um die Durchsetzung oder Verteidigung der jeweiligen Landesinteressen, sondern auch um die Durchsetzung und Verteidigung des politischen Programms der im Bundestag unterlegenen Opposition und (was nicht dasselbe ist) um die Verhinderung von Erfolgen der Regierung, die deren Chancen der Wiederwahl verbessern könnten. Welches dieser drei Motive bei der Stimmabgabe der oppositionellen Ministerpräsidenten im konkreten Fall das Übergewicht erhält, hängt von vielerlei Faktoren ab, unter denen die Nähe des Wahltages gewiß eine wichtige Rolle spielt. Aber in einem Land, in dem während der Legislaturperiode des Bundestages sechzehn Landtagswahlen die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat beeinflussen und deshalb als Plebiszit über die Regierungspolitik inszeniert werden können, sind bundespolitisch bedeutsame Wahltage nie sehr fern.

 

Im divided government tritt auch der von Gerhard Lehmbruch (1976, 1998) dem deutschen Föderalismus zugeschriebene Widerspruch zwischen der kooperativen Logik intergouvernementaler Verhandlungen und der konfrontativen Logik der Konkurrenzdemokratie in voller Schärfe hervor und kann dann in der Tat die Handlungsfähigkeit der deutschen Politik blockieren (Darnstädt 2004). Zugleich wird, wenn die Opposition immer mitregiert und Entscheidungen, die am Ende keiner gewollt hat und keiner öffentlich vertreten will, hinter den verschlossenen Türen des Vermittlungsausschusses fallen, die politische Verantwortlichkeit verwischt – mit dem Ergebnis, dass der Frust der Wähler über die unfähige Regierung nicht nur die Hoffnungen der Opposition beflügelt, sondern noch mehr zu einer verallgemeinerten Parteien- und Politikverdrossenheit beiträgt. Kurz, der Reformstau im Bund wird zum Demokratieproblem.

 

Aber im kooperativen Föderalismus kann der Verlust des Bundes auch nicht der Gewinn der Länder sein. Diese haben ja seit der Finanzverfassungsreform von 1969 jeden Einfluss auf die eigenen Einnahmen verloren, die ausschließlich durch bundeseinheitliche Steuergesetze und den bundesgesetzlich geregelten horizontalen und vertikalen Finanzausgleich bestimmt werden. Ihre wichtigste Funktion ist der bundeseinheitliche Vollzug bundeseinheitlicher Gesetze auf eigene Kosten. Mit Ausnahme des Gemeinderechts, des Polizeirechts und des Schulrechts stehen ihnen kaum noch autonom auszuübende Gesetzgebungskompetenzen zu – und auch die haben sie im unitarischen und kooperativen Bundesstaat weitgehend an die Kultusministerkonferenz und andere Einrichtungen der horizontalen Selbstkoordination abgetreten (Scharpf 1989). Wenn also die Bundespolitik in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder gelähmt wird, dann erweitert dies keineswegs die Handlungsspielräume der Landespolitik. Im Gegenteil: Da die Länder den Gesamtstaat gegenüber dem Bürger vertreten, sind auch sie es, die in erster Linie mit den realen Folgeproblemen des Politikversagens konfrontiert werden.

 

Überdies haben, wenn man einmal von den Möglichkeiten parteipolitisch motivierter Oppositionsstrategien absieht, die Mitwirkungsrechte im Bundesrat aus der Sicht der Landesregierungen in dem Maße an Attraktivität verloren, wie der Inhalt der Bundesgesetze durch die Vorgaben des europäischen Rechts bestimmt wird. Die anlässlich der Maastricht-Ratifikation ertrotzten Mitwirkungsrechte des Bundesrates bei der europapolitischen Willensbildung der Bundesregierung (Art. 23 Abs. 2-7 GG) haben sich – wegen der schwierigen und langwierigen Abstimmung zwischen den Ländern – in der Praxis als wenig wirksam erwiesen. Statt dessen haben die Länder ihre Vertretungen in Brüssel ausgebaut und versuchen nun je für sich, ihre Interessen in der Frühphase der Diskussion auf europäischer Ebene unmittelbar gegenüber der europäischen Kommission zu vertreten (Finanzreport NRW 2005).

 

Für die Regierungen der Länder zahlte sich also der in den Nachkriegsjahrzehnten so attraktive Tausch von autonomen Gesetzgebungskompetenzen gegen Mitwirkungsrechte auf Bundesebene immer weniger aus, während zugleich die fiskalischen und legislativen Beschränkungen der Landespolitik immer enger und, jedenfalls aus der Sicht der westdeutschen "Geberländer", die nach der deutschen Vereinigung steigenden Lasten des Finanzausgleiches immer drückender wurden. Schon in der Gemeinsamen Verfassungskommission hatten die Länder deshalb nicht nur eine inhaltliche Verschärfung der "Bedürfnisklausel" des Art. 72 Abs. 2 GG gefordert, sondern auch ein eigenständiges "Rückholrecht" der Landtage für bundesrechtlich schon geregelte Materien, bei denen die "Erforderlichkeit" bundeseinheitlicher Regeln nicht mehr unterstellt werden konnte (Gemeinsame Verfassungskommission 1993, 65-66). Erfolg hatten sie jedoch nur mit der ersten Forderung, während die zweite am Widerstand des Bundes scheiterte und Fragen der Finanzverfassung von der Kommission gar nicht behandelt wurden.

 

Der sich ändernden Interessenlage der Länder kam ein Umschlag der Meinungen in Wissenschaft und Publizistik entgegen, wo nun statt der Vorteile des kooperativen Föderalismus dessen Nachteile hervorgehoben wurden. Auslöser war wohl weniger die politikwissenschaftliche Kritik an der Politikverflechtung als die neoliberale Version einer ökonomischen Theorie des Föderalismus,[7] die jede Form der Kooperation zwischen Regierenden als ein gegen die Regierten gerichtetes Kartell verdächtigte und demgegenüber die wohlfahrtsfördernden Wirkungen des "Systemwettbewerbs" im allgemeinen (Vanberg/Kerber 1994; Streit 1996; Windisch 1998) und des "Wettbewerbsföderalismus" im besonderen (Morath 1999) hervorhob. Als der Begriff dann aber aus der wissenschaftlichen Diskussion in die politische Praxis übernommen wurde, diente er in erster Linie zur Begründung einer Verfassungsklage der wirtschafts- und finanzstarken süd- und westdeutschen Länder, die damit eine Verminderung ihrer "konfiskatorischen" Beitragslast im horizontalen Finanzausgleich erreichen wollten (Arndt 1998; Huber 1998; Huber/Lichtblau 1998).

 

Daß dafür die Unterstützung aller Länder nicht zu gewinnen war, lag auf der Hand – insbesondere da die publizistische Unterstützung durch die FDP (Friedrich-Naumann-Stiftung 1998) und engagierte Ökonomen (Donges et al. 1998) auch keinen Zweifel daran ließ, daß mit der Durchsetzung des Konzeptes auch das Versprechen "einheitlicher" oder wenigstens "gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" (Art. 106 Ab. 3 Ziff. 2 GG, Art. 72 Abs. 2 GG) aufgekündigt werden sollte. Solche Argumente waren (jedenfalls damals) nicht nur in Ostdeutschland politisch nicht zu vermitteln. Auch das Verfassungsgericht ließ sich von den ökonomischen Argumenten nicht beeindrucken und betonte in seinem Urteil sogar noch stärker als zuvor die Bedeutung des "bundesstaatlichen Gedankens der Solidargemeinschaft".[8] Im Ergebnis hat die Assoziation mit dem Vorstoß der reichen süd- und westdeutschen Länder gegen den Finanzausgleich den "Wettbewerbsföderalismus" zum "politischen Streitbegriff" (Schatz et al. 2000) werden lassen, der trotz (oder wegen) der fortdauernden publizistischen Unterstützung durch liberale Ökonomen (Morath 1999; Donges et al. 2000) im politischen Prozeß mehr Widerstand als Zustimmung mobilisierte. In der späteren Föderalismuskommission wurde er geradezu als "Unwort" behandelt, von dem sich zu distanzieren ein Gebot der political correctness gerade für jene war, die auch auf die positiven Seiten eines politischen Wettbewerbs zwischen den Ländern hinweisen wollten.

 

Aber die faktische Tabuisierung des Begriffs änderte nichts an der zunehmenden öffentlichen Kritik an den Strukturen und Verfahrensweisen der deutschen Politikverflechtung, die immer pauschaler als Ursache des "Reformstaus" der deutschen Politik denunziert wurde. Deshalb war die Föderalismusreform seit Ende 2001 Gegenstand von intergouvernementalen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern. Als sich dabei im Sommer 2003 Ergebnisse abzeichneten, denen das Parlament nur noch hätte zustimmen können, kam es aufgrund einer Initiative des Vorsitzenden der SPD-Fraktion zur Einsetzung einer interparlamentarischen "Kommission von Bundestag und Bundesrat", in der zwar neben 16 Bundestagsabgeordneten auch alle 16 Landesregierungen, aber die Bundesregierung nur durch vier "beratende Mitglieder" vertreten waren.[9]

 

Der Einsetzung dieser Kommission waren wiederum Verhandlungen vorausgegangen, in denen es den kleinen und finanzschwachen Ländern gelungen war, sowohl die Neugliederung des Bundesgebietes als auch den Finanzausgleich und die Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen über Steuern von der Tagesordnung der Kommission auszuschließen. Darüber hinaus aber signalisierten schon die Einsetzungsbeschlüsse eine eindeutige Richtung der erwünschten Reformen: Die Gesetzgebungskompetenzen der Länder sollten erweitert, das Bundesratsveto reduziert und die Mischfinanzierung abgebaut werden. Der kooperative Föderalismus sollte zwar nicht zum Wettbewerbsföderalismus, wohl aber zu einem "Gestaltungsföderalismus" umgebaut werden, der die autonomen Handlungsmöglichkeiten der Bundespolitik und der Landespolitik zugleich stärkte. Einvernehmliches Ziel der Kommission war die möglichst klare Trennung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern.[10]

 

 

4  Die Schwierigkeiten der Entflechtung

 

Im Kern ging es dabei einerseits um die Einschränkung der Zustimmungsrechte des Bundesrates bei der Gesetzgebung des Bundes und andererseits um die Übertragung wichtiger Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder und den Abbau der Gemeinschaftsaufgaben und anderer Formen der Mischfinanzierung. Zwischen beiden bestand, daran ließen die Ministerpräsidenten in der Kommission keinen Zweifel, ein klares Quid-pro-quo: Zwar sahen im Herbst 2003 nicht nur die Regierungsparteien im Bund, sondern auch die hoffnungsfrohe parlamentarische Opposition in den Blockademöglichkeiten des Bundesrates den wichtigsten Grund für den deutschen "Reformstau" und waren deshalb – zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik – beide bereit, daran etwas zu ändern. Aber für die Ministerpräsidenten auf der (regierungsnahen) "A-Seite" und erst recht auf der (oppositionellen) "B-Seite" konnte dieses Motiv keineswegs genügen. Wenn sie denn bereit sein sollten, im Interesse ihrer Bundesparteien auf Zustimmungsrechte (und damit auch auf Möglichkeiten der eigenen Profilierung im Lichte der nationalen Öffentlichkeit) zu verzichten, dann nur im Tausch gegen wesentlich erweiterte Möglichkeiten der politischen Gestaltung auf Landesebene. Im Laufe der Beratungen freilich erwies sich dieser Tausch als wesentlich schwieriger, als zunächst auf allen Seiten angenommen worden war.

 

 

4.1  Weniger Zustimmungsrechte des Bundesrates?

 

In der Kommission war rasch klar, daß das Bundesratsveto in Fragen der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern auf keinen Fall angetastet werden konnte. Da auch alle Entscheidungen über Steuern und Subventionen unmittelbare Auswirkungen auf die Finanzen der Länder haben, galt dafür das Gleiche. Die finanziellen Aspekte einer künftigen Reformpolitik konnten also dem Zugriff des Bundesrates gar nicht entzogen werden. Potentiellen Spielraum für die Arbeit der Kommission gab es dagegen im Bereich des Art. 84 GG, nach dem die Zustimmung des Bundesrates für alle von den Ländern zu vollziehenden Gesetze erforderlich ist, die auch das Verwaltungsverfahren oder die Behördenorganisation regeln. Rein quantitativ beruhen fast zwei Drittel der Zustimmungsfälle auf dieser Norm, und dank der oben erwähnten "Einheitstheorie" des Bundesverfassungsgerichts können damit auch die politisch bedeutsamen materiellen Regeln von Bundesgesetzen blockiert werden.

 

Die in der Kommission angestrebte Lösung war im Prinzip sehr einfach: Wenn man dem Bundesgesetzgeber verbot, das Verwaltungsverfahren oder die Behördenorganisation in den Ländern zu regeln, dann entfiel auch das Zustimmungsrecht des Bundesrates – und wenn ausnahmsweise bundeseinheitliche Verfahrensregeln notwendig waren,[11] dann sollte das Zustimmungsrecht eben wieder aufleben. Damit freilich waren nun die Länder nicht zufrieden, denen das Zustimmungsrecht nach Art. 84 GG auch die Möglichkeit bot, sich gegen Bundesgesetze zu wehren, deren Vollzug sie finanziell belastete. Nach langwierigen Verhandlungen war der Bund schließlich auch bereit, in der Finanzverfassung ein neues Zustimmungsrecht des Bundesrates bei Gesetzen mit erheblichen Kostenfolgen für die Länder zu akzeptieren.

 

Im Ergebnis hatten also die Beratungen der Kommission dem Bund kaum einen größeren politischen Handlungsspielraum gebracht: Wenn er das Veto aus Art. 84 GG vermeiden wollte, mußte er auf Verfahrensregeln verzichten – was er ja auch freiwillig hätte tun können – und er mußte dafür überdies ein neues Zustimmungsrecht in der Finanzverfassung akzeptieren. Vollends erstaunlich wird dieses Ergebnis jedoch, wenn man bedenkt, daß das Verfassungsgericht zwei Jahre zuvor gerade in dieser Frage die Position des Bundes wesentlich gestärkt hatte. Im Urteil zum Lebenspartnerschaften-Gesetz hatte das Gericht einen (bis dahin umstrittenen) Weg zur Vermeidung des Bundesratsvetos gebilligt und dabei die früher postulierte "Einheitstheorie" zu Art. 84 Abs. 1 GG faktisch außer Kraft gesetzt (BVerfG 1 BvF 1/01 v. 17.7.2002): Wenn der Bundesgesetzgeber die beabsichtigte materielle Regelung und die Regelung des Verwaltungsverfahrens in zwei formell getrennten Gesetzen verabschiedete, dann bedurfte nur das Verfahrensgesetz der Zustimmung des Bundesrates, selbst wenn die Trennung nur zu dem Zweck vorgenommen wurde, ein Bundesratsveto gegen die materielle Regelung zu vermeiden. Der Bund konnte also die Blockade parteipolitisch umstrittener materieller Regelungen vermeiden, ohne daß er auf (zumeist politisch weniger kontroverse) Verfahrens- und Organisationsregeln verzichten mußte, wenn es ihm nur gelang, diese in einem separaten Gesetz einzubringen. Kurz, hier konnte der Bund durch die Föderalismusreform kaum etwas gewinnen, was er nicht auch ohne die Reform erreichen konnte.[12]

 

 

4.2  Neue Gesetzgebungskompetenzen der Länder?

 

Seltsamerweise hat dieses Urteil jedoch in den Beratungen der Föderalismuskommission überhaupt keine Rolle gespielt. Trotzdem kann man vermuten, daß im Regierungslager die in der Kommission erreichbare Beschränkung des Bundesratsvetos zutreffend und skeptisch eingeschätzt wurde – was auch die anfängliche Zurückhaltung des Kanzleramtes in den Beratungen über erweiterte Gesetzgebungskompetenzen der Länder erklären würde. Hier war es den Ministerpräsidenten gelungen, sich in einem gemeinsamen "Positionspapier" vom 6. Mai 2004 (Kommissionsdrucksache 45) auf eine lange Liste von Kompetenzforderungen zu verständigen. Gefordert wurden neben der (weitgehend unkontroversen) Zuständigkeit für das Recht des öffentlichen Dienstes in den Ländern und dem (von der Regierungskoalition nie konzedierten) vollständigen Rückzug des Bundes aus der Bildungs- und Hochschulpolitik vor allem Kompetenzen für die regionale Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und der Abbau der Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen (bei garantierter finanzieller Kompensation).

 

Über diese Forderungen wurde vom Beginn der Sommerpause an in sechs thematisch spezialisierten "Projektgruppen" beraten, wobei die "Generalisten" aus den Staatskanzleien der Länder auf die "Spezialisten" der jeweils zuständigen Bundesressorts trafen, die im Detail und mit profunder Sachkenntnis Gründe gegen eine Kompetenzverlagerung vortrugen.[13] Da sich auch fast alle Wirtschafts-, Sozial- und Umweltverbände für den Fortbestand der Bundeskompetenzen einsetzten, war es kaum überraschend, daß nach den Berichten der Projektgruppen im Herbst 2004 die Beratungen im Plenum der Kommission mit einer sehr kleinen Zahl konsensfähiger Lösungen und einer langen Liste noch offener Streitfragen endete.[14] Deren weitere Behandlung wurde den beiden Vorsitzenden, Müntefering und Stoiber, und ihrer Konsultation ausgewählter Partner überlassen.

 

Angesichts des bis dahin erreichten Beratungsstandes war also die Kommission in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung und in ihrem regulären Verfahren von Plenarsitzungen, Arbeitsgruppen und Projektgruppen schon Anfang November 2004 gescheitert. Daß am Ende der nun anschließenden Konsultationsrunden und Konsensgespräche dann bis Mitte Dezember doch noch ein fast zustimmungsreifer gemeinsamer Vorschlag der Vorsitzenden mit einem zumindest quantitativ sehr ansehnlichen Katalog neuer Landeskompetenzen erarbeitet werden konnte (AU 0104 -neu-), verdankte man jedoch nicht nur dem Verhandlungsgeschick der Vorsitzenden, sondern vor allem einer weiteren Intervention des Bundesverfassungsgerichts, die die Agenda der Verhandlungen radikal veränderte und die Verhandlungsposition des Bundes untergrub.

 

Schon in den vorangehenden Jahren hatte das Gericht in Reaktion auf die 1994 in Kraft getretenen Änderungen bei Art. 72 Abs. 2 GG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG begonnen, eine restriktive Interpretation der "Erforderlichkeit" bundeseinheitlicher Regelungen zu entwickeln.[15] Da aber noch in keinem wichtigen Fall gegen den Bund entschieden worden war, spielten auch diese Urteile in den Beratungen der Föderalismuskommission zunächst keine Rolle. Die Verhandlungssituation änderte sich jedoch mit dem Urteil vom 27. Juli 2004, mit dem das Gericht die Einführung der "Juniorprofessur" durch eine Novelle zum Hochschulrahmengesetz für verfassungswidrig erklärte (BVerfG 2 BvF 2/02). Dabei begnügte das Gericht sich nicht mit der Feststellung, das Gesetz sei über die Grenzen einer bloßen Rahmenregelung (Art. 75 Abs. 2 GG) hinaus zu weit in die Einzelheiten gegangen und habe dem Landesgesetzgeber zu wenig Spielraum belassen, sondern es stützte die Entscheidung auch auf eine extrem restriktive Interpretation der (für die Rahmengesetzgebung und die konkurrierende Gesetzgebung gleichermaßen geltenden) "Erforderlichkeit" bundeseinheitlicher Regeln (Art. 72 Abs. 2 GG).[16] Diese wäre nur dann zu bejahen, "wenn gerade durch unterschiedliches Recht in den Ländern eine Gefahrenlage entsteht" – was etwa dann der Fall wäre, "wenn die Lebensverhältnisse sich zwischen den Ländern in einer unerträglichen Weise auseinander entwickeln …" (Abs. 128).[17]

 

Mit diesen Kriterien war jedoch nicht nur das Hochschulrahmengesetz, sondern der gesamte Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und damit der überwiegende Teil des geltenden Bundesrechts verfassungsrechtlich prekär geworden. Vom bürgerlichen Recht über das Strafrecht, den Strafprozess oder das Arbeitsrecht bis zum Straßenverkehrsrecht konnten nun alle Regelungen mit der Begründung angefochten werden, es sei nicht nachgewiesen, dass von Land zu Land unterschiedliche Regelungen schlechterdings unerträgliche wirtschaftliche oder soziale Folgeprobleme haben müssten. Die Frage der Nichtigkeit einer unter diesen Kriterien nicht "erforderlichen" Regelung konnte auch nicht nur im Bund-Länder-Streit aufgeworfen werden, sondern war von den Gerichten auch in normalen Prozessen zu prüfen und konnte dann per Vorlagebeschluß oder Verfassungsbeschwerde das Bundesverfassungsgericht erreichen.[18]

 

Damit aber hatte das Gericht ein Problem erzeugt, das bis dahin gar nicht auf der Traktandenliste der Föderalismusreform gestanden hatte, aber das nun im Verhältnis zwischen Bund und Ländern dringend einer Lösung bedurfte. Zugleich veränderte sich die Verhandlungskonstellation: Nun brauchte also der Bund die Zustimmung der Länder, um selbst den politisch ganz unstrittigen Bestand seiner gegenwärtigen Gesetzgebungskompetenzen verfassungsrechtlich abzusichern. Ein gewisses Entgegenkommen war zwar zu erwarten, weil die für den ordentlichen Vollzug des Bundesrechts verantwortlichen Länder ja auch selbst kein Interesse an grassierender Rechtsunsicherheit haben konnten. Aber es lag auf der Hand, daß der Bund dafür etwas bieten und seinen hinhaltenden Widerstand gegen alle Forderungen der Länder nach erweiterten Gesetzgebungskompetenzen aufgeben mußte.

 

Nachdem die vom Juniorprofessur-Urteil geschaffene neue Zwangslage in der SPD-Fraktion (Kommissionsdrucksache 0077) und in der Regierung verstanden worden war, bewog das Bundeskanzleramt in einem "Beichtstuhlverfahren" die Ressorts zur Beschränkung auf ihre jeweiligen "Kernkompetenzen". Bis Anfang November entstand so ein zumindest quantitativ durchaus ansehnlicher Katalog von Gesetzgebungskompetenzen, die der Bund zur Übertragung auf die Länder anbot – von denen am Ende allerdings nicht alle auch von den Ländern akzeptiert wurden.[19] Im Gegenzug waren die Länder auch bereit, wenigstens einen Teil der konkurrierenden Kompetenzen entweder in die ausschließliche Kompetenz des Bundes zu überführen, oder sie explizit von der Erforderlichkeitsklausel freizustellen. Damit hätte der Bund zwar noch nichts gewonnen, aber er hätte wenigstens die vom Juniorprofessur-Urteil ausgehenden Risiken für den Bestand des konkurrierenden Bundesrechts erheblich vermindern können.

 

Im Vergleich zu dem Anfang November in der Kommission erreichten Stand der Beratungen hätten die Länder dagegen deutlich mehr Gesetzgebungskompetenzen gewonnen. Trotzdem lehnten sie am 17. Dezember 2004 das von den Vorsitzenden erreichte Verhandlungsergebnis ab. Zur Begründung verwies Ministerpräsident Stoiber auf die Weigerung der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen, auf alle Mitwirkungsmöglichkeiten im Bildungsbereich zu verzichten. Dieses Thema war in der Kommission von Anfang an kontrovers gewesen, und es hatte in der Beratungsphase auch keine ernsthafte Suche nach konstruktiven und konsensfähigen Lösungen gegeben, auf die die Vorsitzenden in der hektischen Schlußphase hätten zurückgreifen können. Aber angesichts der schon erreichten oder jedenfalls erreichbaren Einigung bei allen anderen Themen, die auf der Tagesordnung der Föderalismuskommission gestanden hatten, und angesichts der Kompetenzgewinne, die die Länder dabei erzielt hätten, erscheint ihre Reaktion dennoch irrational. Schließlich blieb es ja auch im Falle der Ablehnung beim Status Quo der Bundeskompetenzen im Bildungsbereich – und diese schrumpften ohnehin wie Schnee an der Sonne unter der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.[20] Die Ablehnung wird erst verständlich, wenn man statt der bisher unterstellten Gleichrichtung nun die Unterschiede der Interessenlage zwischen den Ländern in die Betrachtung einbezieht.

 

 

5

Interessenkonflikte zwischen den Ländern als Restriktion der Entflechtung

 

Die institutionelle Entwicklung des deutschen Föderalismus war von Anfang an geprägt durch das Spannungsverhältnis zwischen der realen Ungleichheit der Länder und dem von der Verfassung verbürgten Anspruch auf "einheitliche" oder (seit 1994) zumindest "gleichwertige Lebensverhältnisse". Dieses Spannungsverhältnis konnte unter den Bedingungen des stetigen, raschen Wirtschaftswachstums der Nachkriegsjahrzehnte durch die zuvor beschriebene Perfektionierung des kooperativen Föderalismus in erstaunlich hohem Maße ausgeglichen werden. Aber die Montankrise der sechziger Jahre und die Ölpreiskrisen der siebziger Jahre hatten den Ausgleich der Wirtschaftskraft schon zwischen den westdeutschen Ländern als Sisyphus-Arbeit erscheinen lassen, die nach dem wirtschaftlichen Scheitern der deutschen Vereinigung vollends aussichtslos erschien. Was statt dessen möglich war und erreicht wurde, war die Einheitlichkeit der staatlichen Leistungen – durch die bundeseinheitliche Sozialversicherung, bundeseinheitliche Regeln für die Sozialhilfe und den vertikalen und horizontalen Finanzausgleich, der die Unterschiede in der Finanzkraft der Länder immer weiter egalisierte. Aber in dem Maße, wie die wirtschaftliche Auseinanderentwicklung durch die Egalisierung staatlicher Leistungen kompensiert wurde, wuchsen auch die wirtschaftlichen Entzugseffekte und die finanziellen Belastungen in den wirtschaftsstärkeren süd- und westdeutschen Ländern.

 

Für deren Interessen (und nur für diese) hatte der Bundesrat seine Nützlichkeit verloren, weil dort seit der deutschen Vereinigung die finanzschwachen Länder die Mehrheit hatten. Der Versuch, über Verfassungsklagen gegen den geltenden Finanzausgleich das Ausmaß der fiskalischen Umverteilung zu vermindern, brachte nur minimale Erfolge.[21] Zugleich wurde aber der 2001 ausgehandelte Finanzausgleich zusammen mit zusätzlichen Leistungen des Bundes für die neuen Bundesländer ("Solidarpakt II") bis 2019 festgeschrieben, und es gelang den finanzschwachen und kleinen Ländern, dieses Ergebnis und auch das Thema einer Neugliederung des Bundesgebietes von vornherein von der Tagesordnung der Föderalismuskommission auszuschließen. Nachdem dies akzeptiert war und von allen Ministerpräsidenten loyal eingehalten wurde, hatte das Interesse der finanzschwachen Länder an einer Föderalismusreform fast nur noch defensiven Charakter: Es ging darum, jede Verschlechterung ihres finanziellen Status Quo zu verhindern und zugleich Änderungen zu vermeiden, die den wirtschaftlichen Abstand zu den erfolgreicheren Ländern vergrößern könnten.

 

Unter diesen Umständen konnte sich das Interesse der wirtschafts- und finanzstarken Länder an größeren Handlungsspielräumen für eine autonome Landespolitik nur noch auf die Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen[22] richten. Hier gelang es ihnen zunächst auch, die Zustimmung aller Ministerpräsidenten zu einem gemeinsamen "Positionspapier" zu gewinnen, in dem die Übertragung zahlreicher Materien (oder hilfsweise die Einräumung von Zugriffsrechten der Landtage) gefordert wurde. Zu dieser Liste gehörten – neben der vom Bund nicht bestrittenen Zuständigkeit für die Rechtsverhältnisse des öffentlichen Dienstes in den Ländern und neben der vom Bund nie konzedierten ausschließlichen Zuständigkeit für das Bildungswesen "von der Kinderkrippe bis zur Habilitation" – so wichtige Gestaltungsaufgaben wie die regionale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik oder das Recht der öffentlichen Fürsorge. Von dieser Liste war freilich am Ende der Verhandlungen wenig übrig geblieben, was die Forderungen der leistungsstarken Länder hätte befriedigen können. Nach der Reaktion der Bundesregierung auf die Implikationen des Juniorprofessur-Urteils hatte sich zwar die Zahl der zur Übertragung auf die Länder angebotenen Kompetenzbereiche erhöht, nicht aber deren Bedeutung. Im wesentlichen ging es dabei um eng definierte Teilbereiche aus einem größeren Zusammenhang – so etwa das Heimrecht aus dem Zusammenhang der öffentlichen Fürsorge, das Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten und der Spielhallen aus dem Wirtschaftsrecht oder den Sport- und Freizeitlärm aus dem Zusammenhang der Lärmbekämpfung. Aus der Sicht der leistungsstarken Länder waren dies "Quisquilien", ausgewählt nach der Maxime "das Wichtige für den Bund, den Kleinkram für die Länder", mit denen sich politisch oder wirtschaftlich bedeutsame Gestaltungsspielräume nicht gewinnen ließen. Wenn das alles war, und wenn der Bund auch seine Restkompetenzen im Bildungswesen nicht aufgeben wollte, dann lohnte sich die ganze Reform nicht mehr. "Dafür waren wir nicht angetreten!" (Interview 31.1.2005)

 

 

6  Aporien des Trennprinzips

 

Dies war gewiß auch eine emotionale Reaktion, die bei ruhigerer Überlegung die Rückkehr an den Verhandlungstisch nicht verhindert hätte. In der Tat haben die Vorsitzenden der vor Weihnachten gescheiterten Kommission nach Ostern ihre Gespräche wieder aufgenommen und sie sollen dabei, wie man hört, einer Einigung "bis auf Millimeter" nahe gekommen sein. Ohne die Nordrhein-Westfalen-Wahl wären die Ergebnisse wohl auch in der laufenden Legislaturperiode noch umgesetzt worden.

 

Jedoch wäre dies nur eine kleine Reform gewesen, die weder die Autonomieinteressen der leistungsfähigen Länder befriedigen noch die Blockade bundespolitischer Entscheidungen hätte vermeiden können. Aber weshalb hatten die Beratungen in der Kommission und die anschließenden Verhandlungen zu diesem in der Tat unbefriedigenden Ergebnis (Hesse 2005) geführt? Vordergründige Ursachen waren gewiß der Widerstand der Bundesministerien gegen noch weiterreichende Kompetenzverzichte und die Angst der leistungsschwachen Länder vor den Risiken des Wettbewerbsföderalismus. Die dahinter liegende Ursache war jedoch ein falsches Reformkonzept, das eben diese Reaktionen provozieren mußte.

 

Die Beratungen in der Kommission und auch die Stellungnahmen der Ministerpräsidenten und der Bundesregierung waren von einer einfachen Maxime geleitet: Wenn die Politikverflechtung das Problem war, dann mußte Entflechtung die Lösung sein – und die Entflechtung mußte durch eine klare Trennung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern erreicht werden. Aber diese Fixierung auf das "Trennprinzip" war unrealistisch, weil sie die Ursachen nicht berücksichtigte, die in den vergangenen Jahrzehnten die Verflechtung hervorgebracht hatten, und die auch heute noch weiter wirksam sind. Die beiden wichtigsten dieser Ursachen sind der Mehrebenencharakter der meisten wichtigen Politikfelder und die ungleichen Probleme, Kapazitäten und Interessen der Länder. Die erste erklärt den Widerstand der Bundesressorts, die zweite die Bedenken der kleinen und finanzschwachen Länder gegen die Übertragung großer Kompetenzbereiche auf die Länder. Ich will hier zunächst nur auf das Mehrebenenproblem eingehen:

 

In jeder vertikal differenzierten Entscheidungsorganisation muß die Zuordnung der Kompetenzen auf die unterschiedlichen Ebenen geregelt werden. Die (ältere) ökonomische Theorie des Föderalismus hatte, von einer normativen Präferenz für bürgernahe Entscheidungen und dezentrale Kompetenzen ausgehend, unter dem Stichwort des fiscal federalism (Oates 1972, 1977) funktionale Kriterien formuliert, die dennoch für die Zuordnung zu einer höheren Ebene mit umfassenderer Zuständigkeit sprechen. Zu diesen gehören die möglichen negativen externen Effekte lokaler Entscheidungen, die möglichen Mobilitätshindernisse für Bürger und Unternehmen, der Ressourcenbedarf öffentlicher Infrastruktur und schließlich Umverteilungsziele, die nur innerhalb des Gesamtstaates erreicht werden können. Der reale Staatsaufbau reflektiert jedoch nicht nur diese funktionalistischen Kriterien, sondern auch kulturell geprägte normative Präferenzen – so etwa die französische Hochschätzung nationaler Einheit und Einheitlichkeit, die schweizerische Toleranz für regionale und lokale Unterschiede oder die belgische Fixierung auf die kollektive Identität der Sprachgemeinschaften.

 

Unter der funktionalen Perspektive kann man heute in jedem einigermaßen wichtigen Politikfeld – sei es die Wirtschaftspolitik, die Arbeitsmarktpolitik, die Sozialpolitik, die Umweltpolitik, die Bildungspolitik,[23] die Forschungspolitik oder die Sicherheitspolitik – feststellen, daß manche Aspekte nur noch auf der europäischen Ebene geregelt werden können, während andere national und wieder andere regional oder sogar lokal unterschiedliche Lösungen erlauben oder sogar erfordern. Fordert man also eine "klare Trennung" der Kompetenzen, dann kommt man unter den Bedingungen einer zunehmenden Mobilität der Bürger und Unternehmen und der zunehmenden Interdependenz der Problemlagen fast unvermeidlich zu einer immer weitergehenden Zentralisierung öffentlicher Aufgaben auf der jeweils höheren – nationalen oder europäischen – Ebene. Dagegen kann unter den kulturell-normativen Kriterien sowohl eine funktional unnötige Überzentralisierung als auch die ökonomisch ineffiziente oder schädliche Verteidigung lokaler und regionaler Kompetenzen legitimiert werden.

 

Das deutsche Verfassungsrecht behilft sich hier mit einer doppelten, teils der normativ-kulturellen, teils der funktionalistischen Logik verpflichteten Lösung. Der ersten entspricht die Unterstellung, daß der Verfassungsgeber (faktisch also die Landesregierungen des Jahres 1949) bestimmte Aufgaben kategorisch – also ohne Rücksicht auf funktionale Erfordernisse – den Ländern vorbehalten habe.[24] Dies gilt etwa für den Bereich einer der von den Ländern sehr umfassend definierten "Kulturpolitik" einschließlich der Bildungs-, Forschungs- und Medienpolitik. Wenn trotzdem die funktionalen Koordinationserfordernisse unabweisbar werden oder die regionale Finanzkraft nicht ausreicht, so das Bundesverfassungsgericht in dem oben zitierten "Fernsehurteil" (BVerfGE 12, 205, 251-252 [1960]), dann muß eben die horizontale Selbstkoordination zwischen den Ländern und die gemeinsame Finanzierung durch die "Ländergesamtheit" – also die lähmendste Form der Politikverflechtung – die Funktionslücke füllen.

 

In dem viel breiteren Zwischenbereich der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung gilt dagegen die funktionale Logik der "Erforderlichkeitsklausel" des Art. 72 Abs. 2 GG (der auf der europäischen Ebene das Subsidiaritätsprinzip entspricht). Sie geht aus von einer Generalzuständigkeit der Länder und begrenzt den Bund auf Teilbereiche, für die die funktionale Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung dargetan werden kann. Der Intention nach berücksichtigt diese Lösung also die Mehrebenenproblematik. Allerdings kann diese Lösung weder aus der Sicht des Bundes noch aus der der gestaltungswilligen Länder befriedigen.

 

Solange das Gericht die Interpretation der Klausel als Frage des gesetzgeberischen Ermessens hatte behandeln können, war die vorhersehbare Folge die oben beschriebene immer weitergehende Unitarisierung. Wenn aber jetzt der Gesetzgeber sich an den Kriterien des Juniorprofessur-Urteils orientieren sollte, so müßte er aus der zu regelnden Materie jeweils die Teilaspekte aussparen, für die die Schädlichkeit unterschiedlichen Landesrechts nicht begründet werden kann. Mit anderen Worten, der Bundesgesetzgeber muß antizipieren, was die einzelnen Landtage in den ausgesparten Regelungsbereichen unternehmen könnten, um auf dieser Grundlage die wahrscheinlichen Wirkungen unterschiedlicher Regelungen abzuschätzen und die Bereiche, in denen er keine Probleme erwartet, von der bundesgesetzlichen Regelung auszusparen. Daß bei einer solchen antizipierenden Beurteilung die Bedenken überwiegen werden, steht zu erwarten. Deshalb kann man damit rechnen, daß auch in Zukunft die vom Bundesgesetzgeber ausgesparten Regelungslücken recht eng umschrieben sein werden. Sie können nun zwar von Fall zu Fall vom Bundesverfassungsgericht erweitert werden,[25] aber sie bleiben Lückenkompetenzen, deren Reichweite und Verfügbarkeit von Entscheidungen des Bundesgesetzgebers oder des Bundesverfassungsgerichts und nicht von landespolitischen Initiativen abhängt. Kurz, für Länder, die autonome politische Gestaltungsmöglichkeiten anstrebenden, können auch der neugefaßte Art. 72 Abs. 2 GG und die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[26] keine attraktive Perspektive eröffnen.

 

Wenn aber statt der auf die Mehrebenenproblematik reagierenden Beschränkung des Bundesgesetzgebers durch die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG die eindeutige und endgültige Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen nach dem "Trennprinzip" gefordert wird, so treten die gleichen Probleme in noch verschärftem Maße auf: Nun müßte der Verfassungsgesetzgeber oder die Föderalismuskommission die künftig möglichen Problemlagen und die wahrscheinlichen Inhalte und Wirkungen möglicher Landesgesetze abschätzen und bewerten, wenn sie mit guten Gründen die dauerhafte Übertragung der Vollkompetenz auf die Länder für unschädlich erklären sollen. Auch wenn man hier die institutionellen Eigeninteressen der Bundesressorts und der Interessenverbände ignoriert, wird allein die große Unsicherheit aller Prognosen ein sehr vorsichtiges Vorgehen nahelegen – mit der Folge, daß der am Trennprinzip orientierte Verfassungsgesetzgeber den Ländern ebenfalls nur sehr eng umschriebene, aus Bundessicht ganz ungefährliche Gesetzgebungskompetenzen zuweisen wird.

 

Hinzu kommt das zweite Grundproblem des deutschen Föderalismus – die wachsende Spannung zwischen dem in der Verfassung und der politischen Kultur verankerten Anspruch auf einheitliche oder zumindest gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet und der realen Ungleichheit zwischen den großen und wirtschaftlich leistungsfähigen und den kleinen und/oder wirtschaftsschwachen deutschen Ländern. Auf der einen Seite steht Nordrhein-Westfalen, das mit mehr als 18 Millionen Einwohnern der sechstgrößte Mitgliedstaat der Europäischen Union sein könnte, während Bremen mit weniger als 700 000 und das Saarland mit einer Million Einwohnern so klein und arm sind, daß sie selbst zur Unterhaltung ihrer Regierungen und Parlamente eines besonderen Bundeszuschusses zu den "Kosten der politischen Führung" brauchen. Zugleich beläuft sich das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in Thüringen nur auf knapp 63 Prozent der Wirtschaftskraft Hessens (und auf nur 54 Prozent im Vergleich zum reichen Stadtstaat Hamburg). Auch wenn man also von den soeben diskutierten Mehrebenenproblemen absehen könnte, müßte eine Kompetenztrennung zwischen Bund und Ländern, die für Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen funktional angemessen wäre, zu einer Verfassung führen, die der Lage der ostdeutschen und der kleinen und finanzschwachen westdeutschen Länder keineswegs gerecht würde.

 

Die schwachen Länder haben also gute Gründe für ihre skeptische oder ablehnende Reaktion auf Kompetenzforderungen, die ihre Kapazität überfordern. Hinzu kommt ihre in manchen Fällen übertriebene (weil über-generalisierte)[27] Angst vor einem innerdeutschen Standortwettbewerb, der ihren Rückstand gegenüber den wirtschaftsstarken Ländern noch vergrößern könnte. Dieser Interessenlage entsprachen die vor der Einsetzung der Föderalismuskommission fixierten Diskussionsverbote. Dagegen war die einvernehmliche Präsentation weitgehender Kompetenzforderungen im Positionspapier der Ministerpräsidenten vom 7. Mai 2004 das Ergebnis von Kompromissen, mit denen eine gemeinsame Front gegen den Bund aufgebaut wurde – die aber schon unter den Argumenten der Bundesressorts in den Projektgruppen wieder bröckelte. Den schwachen Ländern gingen dann in der Verhandlungsphase sogar die Kompetenzangebote des Bundes zu weit, und als dieser die geforderte finanzielle Kompensation nicht auf alle Zeiten garantieren wollte, rückte man auch von der Forderung nach Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben ab. Kurz, das Interesse der schwachen Länder an der Föderalismusreform war in erster Linie defensiver Art. Es ging darum, drohende Verschlechterungen des Status Quo zu verhindern, und wenn die beinahe vereinbarte Reform denn am Dissens über die Kompetenzen in Bildungspolitik scheitern sollte, dann hatte man wenig Grund, ihr nachzutrauern.[28]

 

 

7  Optionen des asymmetrischen Föderalismus

 

Man kann die soeben diskutierten Gesichtspunkte in folgendem Schema auf den Punkt bringen: Die Föderalismusreform versuchte vier Kriterien zu erfüllen, von denen aber jeweils nur drei gleichzeitig erfüllbar sind:

 

– die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den Ländern;

– die garantierte Existenz ungleicher Länder;

– einheitliche Bund-Länder-Beziehungen;

– autonome Handlungsspielräume der Länder.

 

In Bundesstaaten wie der Schweiz und den Vereinigten Staaten spielt das erste dieser Kriterien allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle. Deshalb hat auch der kleinste schweizerische Kanton mehr politischen Handlungsspielraum als das Land Nordrhein-Westfalen und niemand käme in der Schweiz oder auch in den Vereinigten Staaten auf die Idee, über eine territoriale Neugliederung zum Zwecke einer Angleichung der Gliedstaaten auch nur nachzudenken. Bei uns dagegen hat der Anspruch auf gleichwertige Lebensverhältnisse Verfassungsrang und zugleich wird auch die lange Zeit angestrebte Länderneugliederung heute politisch ausgeschlossen. Wenn man diese beiden Festlegungen als Restriktion behandelt, dann kann eine Föderalismusreform nur noch entweder das dritte oder das vierte Kriterium (aber nicht beide zusammen) erfüllen.

 

Wählt man die Einheitlichkeit der Bund-Länder-Beziehungen, dann war Autonomie der Landespolitik nur auf dem für die kleinen und wirtschaftsschwachen Länder akzeptablen Niveau zu erreichen. Mit anderen Worten: Der von Müntefering und Stoiber zur Übertragung an die Länder vorgesehene Kompetenzkatalog war vermutlich das beste, was unter der Maxime des Trennprinzips erreicht werden konnte. Will man statt dessen die autonomen Handlungsspielräume der Landespolitik wesentlich erweitern, dann muß man asymmetrische Bund-Länder-Beziehungen in Kauf nehmen (Agranoff 1999). Eine Option, die dies erlaubt hätte, hat in der Tat auch in den Beratungen der Kommission eine Rolle gespielt.

 

 

7.1  Abweichungsrechte

 

Das Positionspapier der Ministerpräsidenten vom 7. Mai 2004 hatte in zahlreichen Fällen statt der in erster Linie geforderten Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen als zweitbeste Lösung ein "Zugriffsrecht" der Landtage vorgeschlagen. Die Idee geht zurück auf ein Sondervotum des Hamburger Senators Dr. Heinsen, der 1976 im Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform einen neuen Art. 72a GG vorgeschlagen hatte:

 

Abweichend von Art. 72 Abs. 1 können die Länder im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesgesetz ersetzen oder ergänzen, wenn nicht der Bundestag innerhalb von drei Monaten nach Zuleitung Einspruch erhebt. (Enquete-Kommission, 76)

 

Heinsen war es damals in erster Linie darum gegangen, die "Sperrwirkung" des vorhandenen Bundesrechts zu lockern und die experimentierende Suche nach besseren Lösungen in den einzelnen Ländern zu ermöglichen – ein Problem, das sich inzwischen noch verschärft hat, weil die Verfassungsreform von 1994 durch die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 zwar die Zulässigkeit bundesgesetzlicher Regelungen eingeschränkt, aber die Weitergeltung des alten Rechts durch Art. 125 Abs. 2 GG geradezu zementiert hat.

 

In der Kommission wurde eine Variante des Vorschlags für den Sonderfall des Art. 84 GG genutzt: Wenn der Bundesgesetzgeber ausnahmsweise doch das Verwaltungsverfahren glaubte regeln zu müssen, so konnten die Länder von diesen Regeln abweichen – und nur falls solche Abweichungen ausgeschlossen werden sollten, bedurfte das Gesetz der Zustimmung des Bundesrats. Einer generellen Übernahme dieser Lösung für den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung stand jedoch die Dominanz des "Trennprinzips" entgegen. Nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Länder wollten über Zugriffsrechte erst dann verhandeln, wenn der Versuch einer klaren Trennung der Kompetenzen erfolglos blieb.

 

Im Idealfall sollte also der gegenwärtige Bestand der Rahmengesetzgebung und der konkurrierenden Gesetzgebung neu aufgeteilt und entweder der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes oder der ausschließlichen Gesetzgebung der Länder zugewiesen werden.[29] Da sich aber schon im Sommer abzeichnete, daß dieses Ideal kaum zu erreichen war, wurde eine Projektgruppe beauftragt, für einen hoffentlich kleinen Restbestand der konkurrierenden Gesetzgebung die Möglichkeit von Zugriffs- oder Abweichungsrechten der Länder zu prüfen. Die Projektgruppe war jedoch nicht in der Lage, bis zum Herbst einen konsensualen Vorschlag vorzulegen, und in den abschließenden Konsultationen der Vorsitzenden konnten neue Lösungen nicht mehr entwickelt werden.

 

 

7.2  Optionen und Bedenken

 

Der Hauptgrund für den Dissens in der Projektgruppe war die Forderung der Länder nach einem "unkonditionierten" und absoluten Abweichungsrecht. Das Landesgesetz sollte das Bundesrecht ohne sachliche Beschränkung und dauerhaft verdrängen können (PAU-1/003; PAU-1/0013). Dafür war die Zustimmung der Bundesseite nicht zu gewinnen. Umgekehrt hatte der Vorschlag eines Bundestagsabgeordneten, der das Abweichungsrecht als bundesgesetzliche "Öffnungsklausel" gestalten wollte, bei den Ländern keine Chance (PAU-1/018). Dagegen fand die von den Abgeordneten Stünker (SPD) und Röttgen (CDU) vorgeschlagene Lösung (PAU-1/017), die das Zugriffsrecht der Länder mit einer für Bund und Länder gleichermaßen geltenden Lex-posterior-Regelung koppeln wollte, nicht nur die Zustimmung anderer Abgeordneter, sondern stieß auch bei einigen Ländern zumindest auf Diskussionsbereitschaft.

 

Dagegen lehnten die meisten juristischen Sachverständigen und die Bundesjustizministerin Zugriffs- oder Abweichungsrechte der Länder grundsätzlich ab (Protokollvermerk 7. Sitzung der Arbeitsgruppe 1 v. 30.9.2004; AU 0083; AU 0086; AU 0087). Maßgeblich waren hier in erster Linie verfassungssystematische Bedenken und die zu erwartende Unübersichtlichkeit der Rechtsordnung, wenn man erst sechzehn Landesrechte konsultieren müsse, um festzustellen, wo denn eine bundesgesetzliche Regelung tatsächlich gelte (AU 0086, S. 3). Hinzu kam die Befürchtung, die Lex-posterior-Regelung des Stünker/Röttgen-Vorschlags könnte ein die Rechtssicherheit gefährdendes "Pingpong" zwischen Bundesgesetz, abweichendem Landesgesetz, korrigierendem Bundesgesetz und weiterer Abweichung zur Folge haben.

 

Dies war gewiß nicht die einzige Schwäche des Vorschlags. Gravierender erscheint mir, daß er sich auf die Forderung der Länder nach einem "unkonditionierten" Abweichungsrecht eingelassen hatte und deshalb – wie in der Diskussion deutlich wurde – diese Lösung nur für wenige und eng definierte Kompetenzbereiche in Betracht ziehen wollte. Damit aber hätte das Interesse der leistungsstarken Länder an erweiterten Möglichkeiten der politischen Gestaltung auf Landesebene gerade nicht befriedigt werden können. Solche weitreichenden Gestaltungschancen waren, wenn überhaupt, nur durch "konditionierte" Abweichungsrechte zu gewinnen, die die Möglichkeit einer Überprüfung unter gesamtstaatlichen Kriterien vorsahen.

 

Dafür gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten:

–  die schon von Heinsen vorgeschlagene "politische" Konditionierung, die die Ausübung des Zugriffsrechts einem Widerspruchsrecht des Bundestages (oder besser, einen gemeinsamen Widerspruchsrecht von Bundestag und Bundesrat) unterwirft, oder

–  eine "rechtliche" Konditionierung, die die Ausübung des Zugriffsrechts sachlich beschränkt durch eine "umgekehrte Bedürfnisklausel" (oder besser: eine "Gemeinverträglichkeitsklausel"). Abweichende Regelungen wären demnach zulässig, soweit dadurch weder die Interessen anderer Länder noch gesamtstaatliche Erfordernisse verletzt würden. Über Interpretation und Anwendung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe hätte das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden.

 

Die erste dieser Lösungen war in der Projektgruppe auf die anfängliche Ablehnung der Länder gestoßen, und die zweite wurde dort offenbar gar nicht diskutiert.[30] Auf jeden Fall gab es während der kurzen Konsultationsphase vor dem schließlichen Scheitern der Kommissionsarbeit keine Gelegenheit mehr für konstruktive Beratungen über die eine oder andere Variante eines konditionierten Zugriffsrechts. Aus meiner, auch in der Kommission vertretenen Sicht, lag hier jedoch die einzige, oder jedenfalls die beste Chance für eine Lösung, die den Handlungsspielraum der leistungsstarken und politisch ambitionierten Länder erweitern könnte, ohne zugleich die Ängste der kleinen und finanzschwachen Länder zu aktivieren (Kommissionsdrucksachen 007, 9-10; 71 -neu-a; 80).

 

 

7.3  Vorteile konditionierter Abweichungsrechte

 

Im Vergleich zu dem Versuch, eine strikte Trennung von Bundes- und Landeskompetenzen zu erreichen, anerkennen Zugriffsrechte die Realität der Mehrebenenproblematik und damit die Möglichkeit, daß in ein und demselben Politikfeld zentralstaatliche und gliedstaatliche Regelungen aus jeweils guten Gründen nebeneinander stehen sollten. Dies gilt, wie schon gesagt, auch für die bisherige Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG. Aber im Vergleich zu dieser würde hier der Bund nicht zu einer lückenhaften Gesetzgebung gezwungen, sondern könnte eine gegebene Materie im Zusammenhang, systematisch und ohne Beschränkung durch eine Erforderlichkeitsklausel[31] regeln.

 

Noch größer wären aber die Vorteile für die an politischen Gestaltungschancen interessierten Länder. Während sie im geltenden Recht für die Beseitigung der Sperrwirkung des geltenden Bundesrechts entweder auf den Bundesgesetzgeber selbst (Art. 72 Abs. 3 GG) oder auf das Bundesverfassungsgericht[32] angewiesen sind, läge nun das Recht der politischen Initiative sofort und jederzeit bei ihnen selbst. Freilich unterläge diese Initiative einer entweder politischen oder rechtlichen Überprüfung durch gesamtstaatliche Instanzen. Die von einigen Ländern als Symbol ihrer "Staatlichkeit" angestrebte volle Souveränität im jeweiligen Politikfeld läßt sich so in der Tat nicht erreichen.

 

Aber bei pragmatischer Betrachtung unterschiede sich diese Überprüfung in höchst vorteilhafter Weise von der Prüfung, die der Verfassungsgeber anstellen muß, wenn es darum geht, eine Kompetenz ganz und dauerhaft auf die Länder zu übertragen oder ein unkonditioniertes Zugriffsrecht zuzulassen. In beiden Fällen muß die Entscheidung auf spekulative Hypothesen über die möglichen Inhalte und Folgen einer künftigen Landespolitik gestützt werden – und in der Diskussion darüber gewinnen, das hat sich auch in den Beratungen der Kommission immer wieder gezeigt, Worst-case-Szenarien und exempla ad horrendum fast unvermeidlicherweise ein rhetorisches Übergewicht. Schließlich will ja niemand leichtfertig mit der Verfassung umgehen. Auch deshalb waren die Kompetenzforderungen der Länder in der Kommission so wenig erfolgreich.

 

Ganz anders ist die Situation, wenn ein Land von seinem Abweichungsrecht Gebrauch gemacht hat. Hier geht es um konkrete Regelungen, mit denen ein Landtag aus gegebenem Anlaß und nach politischer Diskussion von vorgegebenen Regeln des Bundesrechts abweichen will. Dabei wird man unterstellen können, daß dieser Landtag in Antizipation der Überprüfung gute Gründe für sein Vorhaben anführen kann und schon von sich aus sowohl für die Kompatibilität der neuen Regeln mit denen des fortgeltenden Bundesrechts als auch für deren Verträglichkeit mit den Interessen anderer Länder gesorgt hat. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, wird es im Falle einer rechtlichen Überprüfung dem Verfassungsgericht, und im Falle der politischen Überprüfung dem Bundestag und erst recht dem Bundesrat schwerfallen, dem Landesgesetz die Geltung zu versagen. Kurz, das konditionierte Abweichungsrecht befreit die Kompetenzdiskussion von der Dominanz abstrakt-spekulativer Bedenken und es motiviert zugleich zur Suche nach gemeinverträglichen – und damit auch aus gesamtstaatlicher Sicht akzeptablen – Mitteln zur Verwirklichung landespolitischer Ziele.

 

Noch schwerer wiegt ein Vorzug, der in der Kommission von den juristischen Sachverständigen und der Bundesjustizministerin gerade als stärkster Einwand gegen Zugriffsrechte bewertet wurde: Am Ende wird nicht in allen Ländern dasselbe Gesetz gelten. Gewiß wird auch der Bundesgesetzgeber in Antizipation der Abweichungsmöglichkeiten nach Regelungen suchen, die für alle Länder akzeptabel sein sollten. Aber wenn das nicht gelingt, dann würde er gut daran tun, das Bundesgesetz an der Lage der aus eigener Kraft weniger handlungsfähigen Länder zu orientieren. Diese könnten es dann, da das von den Restriktionen des Art. 72 Abs. 2 GG befreite Bundesgesetz die jeweilige Materie vollständig regeln kann, dabei bewenden lassen, während die leistungsstarken und politisch selbstbewußten Länder das Bundesrecht ergänzen oder ersetzen könnten. Das Ergebnis wäre eine asymmetrische Rechtsstruktur, in der das Bundesrecht in einigen Ländern eine niedrigere Regelungstiefe aufweist als im übrigen Bundesgebiet. Genau dies wäre aber eine wünschenswerte Entwicklung, die der asymmetrischen Problemstruktur und der asymmetrischen Leistungsfähigkeit der deutschen Länder entspräche. Im Vergleich zu diesem Vorteil müßten die Nachteile für die Rechtswissenschaft und die juristische Ausbildung (in der das Landesrecht nie eine besondere Rolle gespielt hat) wohl ebenso in Kauf genommen werden wie die verfassungsästhetische Irritation und dogmatische Anomalie[33] eines nur partiell geltenden Bundesrechts.

 

 

8  Recht und Politik im Spiegel der Föderalismusreform: Vier Thesen

 

Hier ist nicht der Platz für einen vertiefenden Beitrag zum Stand der politikwissenschaftlichen Reflexion über das Verhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungspolitik oder von Verfassungsgerichten und politischen Instanzen (Landfried 1984; Alter 2001; Stone Sweet 2004). Statt dessen will ich hier lediglich einige der in der bisherigen Darstellung enthaltenen Aspekte in vier Thesen zusammenfassen.

 

1. Die (deutsche) Staatspraxis wird in besonders hohem Maße durch die Anerkennung verfassungsrechtlicher Normen und die Antizipation verfassungsgerichtlicher Interventionen beschränkt. Im Vergleich zu Ländern ohne (oder mit einer weniger interventionsfreudigen) Verfassungsgerichtsbarkeit haben deshalb verfassungsrechtliche Argumente einen ungewöhnlich starken Einfluß im politischen Prozeß. Dies gilt auch im Prozeß der Verfassungsreform, weil ja jeder Änderungsvorschlag auf ein Umfeld anderer Verfassungsnormen trifft, die nicht zur selben Zeit zur Disposition stehen.

 

2. Das von der Verfassungsgerichtsbarkeit in Anspruch genommene Monopol legitimer Verfassungsinterpretation hat Wirkungen auf die Machtverteilung im politischen Prozeß: Für die vom Gericht entschiedene Sachfrage wird jede Gruppierung, die entweder im Bundestag oder im Bundesrat über ein Drittel der Stimmen verfügt, mit Vetomacht ausgestattet. Die Verfassungsrechtsprechung verstärkt also die Blockadetendenzen der Politikverflechtung.

 

3. Verfassungsrechtliche Diskurse können im Prinzip nur Normen aus Normen ableiten. Ihnen fehlen die theoretischen und methodischen Instrumente für eine Realanalyse der regelungsbedürftigen gesellschaftlichen Probleme oder der Anreizwirkung verfassungsrechtlicher Entscheidungen auf das Verhalten der politischen Akteure.

 

4. Mangels eigenständiger Erkenntnisgrundlagen sind verfassungsrechtliche Diskurse bei der Beurteilung nicht eindeutig vorentschiedener Fragen auf den Zeitgeist angewiesen. Die daraus gewonnenen Entscheidungsprämissen werden jedoch durch die deduktive Logik juristischer Diskurse generalisiert und durch die Machteffekte des Verfassungsurteils gegen Änderungsversuche geschützt. Im Prinzip verstärkt und perpetuiert deshalb das Verfassungsrecht einen einmal aufgenommenen Trend.

 

So hat die frühe Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG die flächendeckende Unitarisierung der Gesetzgebung erst möglich gemacht. Sobald aber mit der (dem Zeitgeist verpflichteten) Finanzverfassungsreform von 1969 die Wende von der Zentralisierung zum kooperativen Föderalismus vollzogen war, hat das Gericht mit den Urteilen zur "Einheitstheorie" bei Art. 84 GG und zur Einstimmigkeit bei Vereinbarungen über die Finanzhilfen die Konsenszwänge und mit seinen Urteilen zum Finanzausgleich die Solidaritätsanforderungen maximiert. Nachdem aber die Kritik an der deutschen Politikverflechtung immer lauter und auch von der Verfassungsreform von 1994 wenigstens ansatzweise aufgenommen wurde, war auch das Gericht zu einer neuen Trendwende bereit. Es beschränkte die Anwendung der "Einheitstheorie" bei Art. 84 GG und eröffnete so dem Bundesgesetzgeber einen Weg zur Umgehung des Bundesratsvetos, und es nutzte die Verfassungsänderung von 1994 zu einer radikalen und nun wiederum trendverstärkenden Neuinterpretation der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG.

 

In jeder dieser Phasen kann man die endogene Entwicklung des Verfassungsrechts als prinzipienorientiert, aber eben deshalb auch problemblind charakterisieren. Ähnliches gilt mit wenigen Ausnahmen auch für die dogmatischen und verfassungssystematischen Argumente in der Kommission. In diesem Bezugsrahmen waren Analysen und Vorschläge, die die perversen Anreize der bestehenden Verfassung hätten überwinden können, kaum zu erwarten. Die im engeren Sinne politischen Akteure dagegen, insbesondere die Vertreter der Bundesregierung und die Landesregierungen, verfolgten ihre jeweiligen institutionellen Eigeninteressen unter den Restriktionen des vom Gericht interpretierten verfassungsrechtlichen Status Quo und der ihnen dadurch zufallenden Verhandlungsmacht. Problemorientierte und am Gesamtinteresse orientierte Beiträge kamen allenfalls von den Bundestagsabgeordneten beider Lager, aber diese allein hatten nicht die Kraft, die doppelte Beschränktheit status-quo-orientierter verfassungsrechtlicher Diskurse und partikulärer politisch-institutioneller Interessen zu überwinden. So endete der Versuch, die Politikverflechtungsfalle unter den durch das Erfordernis von Zweidrittelmehrheiten in beiden Kammern verschärften Bedingungen der Politikverflechtung aufzubrechen, doch wieder im Status Quo.

 

 

 

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Endnoten

 

1

Die Kritik teilt viele Prämissen mit der Polemik gegen die Konsenszwänge und Veränderungswiderstände des korporatistischen "deutschen Modells" oder des "rheinischen Kapitalismus".

 

2

Bis Ende 1976 war dies schon 12mal geschehen (Enquete-Kommission 1976, 54).

 

3

Van Ooyen (2005); Scharpf (1970). Die Rechtsprechung zur Bedürfnisklausel war eine der ganz seltenen Parallelen zur Political-question-Rechtsprechung der US Supreme Court (Scharpf 1965).

 

 

4

In dieselbe Richtung einer Verstärkung des kooperativen und solidarischen Föderalismus zielten auch die zahlreichen Urteile zum föderalen Finanzausgleich, auf die ich hier nicht näher eingehen kann (Renzsch 1989, 1991).

 

5

Ein Hinweis auf die beginnende Skepsis gegenüber der Tendenz zur weiteren Unitarisierung und Verflechtung waren auch die Vorschläge zu einer inhaltlichen Verschärfung und verfassungsgerichtlichen Kontrolle der "Bedürfnisklausel" des Art. 72 Abs. 2 GG (Enquete-Kommission 1976, 63-66), die jedoch damals vom Verfassungsgesetzgeber nicht aufgegriffen wurden.

 

6

Der kurzlebige Versuch der SPD und der FDP in den fünfziger Jahren durch Koalitionswechsel in den Ländern die Westverträge Adenauers zu blockieren blieb noch ohne dauerhaften Einfluß auf die Verfassungspraxis.

 

7

Sie ist von der älteren ("finanzwissenschaftlichen") Theorie des Föderalismus zu unterscheiden, der es um die optimale Zuordnung der Staatsfunktionen auf die einzelnen Ebenen territorial gegliederter Gemeinwesen gegangen war (Oates 1977). Während diese den staatlichen Akteuren im Prinzip eine (durch die Kompetenzordnung definierte und begrenzte) Gemeinwohlorientierung unterstellte, geht jene von deren ausschließlicher Orientierung am eigenen Nutzen aus, die nur durch institutionalisierte Konkurrenz in Schach gehalten werden könnte (Sinn 1992).

 

8

BVerfGE 101, 158 (1999). Das Urteil erklärte allerdings die damals geltenden Regeln für den Finanzausgleich mangels klar definierter Maßstäbe für dringend reformbedürftig.

 

9

Zusätzlich gehörten der Kommission als Mitglieder ohne Stimmrecht einige Vertreter der Landtage und der kommunalen Spitzenverbände sowie zwölf Sachverständige an (darunter acht Juristen, zwei Ökonomen und zwei Politikwissenschaftler).

 

10

Die Arbeit der Kommission wurde jetzt in einer vollständigen Dokumentation, ergänzt durch eine umfassende Materialsammlung auf CD, verfügbar gemacht (Bundestag/Bundesrat 2005). Auf diese beziehen sich die nachfolgenden Verweise auf Kommissionsdrucksachen, Arbeitsunterlagen (AU und PAU) und Protokollvermerke. Einen guten Überblick über die Aufgaben, das Verfahren und die Ergebnisse der Kommission bietet auch Schubert (2005).

 

11

Von seiten der Bundesregierung und der juristischen Sachverständigen wurde dafür auf den in manchen Fällen sehr engen Zusammenhang zwischen dem (materiellen) Gesetzeszweck und dem beim Vollzug anzuwendenden Verfahren hingewiesen.

 

12

Durch die Konzession eines neuen Zustimmungsrechts bei Bundesgesetzen mit erheblichen Kostenfolgen für die Länder verschlechterte sich die Position des Bundes sogar, denn dieses Zustimmungsrecht hätte eine formale Trennung von der materiellen Regelung nicht mehr zugelassen.

 

Trotzdem präsentierten die Ministerpräsidenten die erreichte Einigung in diesen Punkten als eine weitreichende Konzession der Länder, die der Bund nicht in ausreichendem Maße durch den Verzicht auf substantiell bedeutsame Gesetzgebungskompetenzen honoriert habe. Vgl. die Erklärung von Ministerpräsident Stoiber anläßlich des Scheiterns der Kommissionsarbeit am 17.12.2004 (Kommissionsprotokoll 11. Sitzung).

 

13

Die Asymmetrie dieser Diskussionen illustriert die Bemerkung eines hohen Beamten der Länderseite: "Wir haben kompetenzrechtlich argumentiert, aber man hat uns zweistündige Vorträge über Kinderbetreuung gehalten" (Interview 31.1.2005).

 

14

Sitzungsprotokolle der 9. Sitzung vom 14. Oktober 2004 und der 10. Sitzung vom 4. November 2004.

 

15

So vor allem das Altenpflege-Urteil (BVerfG 2 BvF 1/01 v. 24.10.2002). Ähnlich das Ladenschluß-Urteil (BVerfG 1 BvR 632/02 v. 9.6.2004).

 

16

Der Grund für diese Ausweitung der Entscheidungsgrundlage zeigte sich im späteren Urteil zu den Studiengebühren (BVerfG 2 BvF 1/03 v. 26.1.2005), wo der Rahmencharakter der Regelung nicht bestritten werden konnte und das Gericht deshalb gezwungen war, sich allein auf die früheren Ausführungen zur "Erforderlichkeit" nach Art. 72 Abs. 2 GG zu stützen.

 

17

Ganz ähnliche Formeln hatte das Gericht schon im "Altenpflege-Urteil" vom 24.10.2002 (BVerfGE 106, 62) verwendet. Aber da damals die Verfassungsmäßigkeit des angegriffenen Bundesgesetzes bestätigt worden war, hatten die formulierten Kriterien zunächst keinen Einfluß auf die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung und die Diskussion in der Kommission gehabt.

 

18

Dies gilt für Bundesrecht, das nach dem 15.11.1994 erlassen oder wesentlich geändert wurde. Für früheres Recht ist die Lage aber nicht weniger prekär. Es gilt als Bundesrecht fort und könnte von den Ländern nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Bundesgesetzgebers geändert werden (Art. 125a Abs. 2 GG), was aber bisher nicht geschehen ist. Da aber auch dem Bundesgesetzgeber die Zuständigkeit für nicht "erforderliche" Regelungen fehlt, käme es zu einer Versteinerung des alten Bundesrechts, die vom Verfassungsgericht nur wenig gelockert wurde: Der Bund kann altes Recht zwar nicht mehr durch eine neue Regelung ersetzen, immerhin aber noch in Einzelheiten modifizieren: BVerfG 1 BvR 636/02 vom 9. Juni 2004 (Ladenschlußgesetz).

 

19

Die wichtigste Differenz betraf die Gesetzgebungskompetenz zur Festsetzung der Steuersätze für die allein den Ländern zufließenden Steuern. Obwohl der Bundesfinanzminister gezeigt hatte, auf welche Weise Rückwirkungen auf den Finanzausgleich vermieden werden konnten, gaben die wirtschaftsschwachen Länder ihren Widerstand nicht auf und die anderen Ministerpräsidenten fühlten sich deshalb weiterhin an frühere Abreden gebunden. Akzeptiert wurden dann lediglich Hebesatzrechte bei der Grunderwerbsteuer.

 

20

Auf das Urteil des Zweiten Senats, das im Juli 2004 die Einführung der Juniorprofessur für verfassungswidrig erklärt hatte, folgte schon im Januar 2005 die Aufhebung des bundesrechtlichen Verbots von Studiengebühren (BVerfG 2 BvF 1/03 v. 26.1.2005).

 

21

Die Abfolge von Urteilen des Verfassungsgerichts zum Finanzausgleich und der Umgang der Politik mit diesen Urteilen erforderten eine ausführlichere Darstellung, die den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde (Renzsch 1991, 2004).

 

22

Auch da hatten die finanzschwachen Länder in ihrer Angst vor dem "Wettbewerbsföderalismus" darauf bestanden, daß Gesetzgebungskompetenzen der Länder über die eigenen Steuern nicht gefordert werden durften. Im Interesse eines einheitlichen Auftretens gegenüber dem Bund haben sich die Ministerpräsidenten aller Länder daran auch gehalten.

 

23

Für die Bildungspolitik wurde dies in zwei von vier politischen Stiftungen (Bertelsmann, Konrad-Adenauer, Marktwirtschaft und Friedrich-Naumann) in Auftrag gegebenen Gutachten dokumentiert: Buse (2004); Schneider (2005).

 

24

Das gleiche gilt umgekehrt für die Bereiche, die dem Bund in ausschließliche Gesetzgebungskompetenz zugewiesen sind.

 

25

Ob das Verfassungsgericht, das ja vor denselben Problemen einer antizipierenden Beurteilung stünde, den Ländern sehr viel helfen würde, ist jedenfalls nicht sicher. Immerhin ergingen ja die beiden länderfreundlichen Urteile (Juniorprofessur und Studiengebühren) in einem Politikfeld, in dem die Länderkompetenz ohnehin nur mit normativ-kulturellen, aber nicht mit funktionalen Argumenten begründet werden kann. Für die Gesetzgebung außerhalb dieses Reservats dürfte deshalb eher das Urteil zum Altenpflegegesetz Präjudizwirkung gewinnen, wo das Gericht nach der Formulierung vieler länderfreundlicher Kriterien am Ende die bundesgesetzliche Regelung der Ausbildung von Altenpflegern dann doch mit sehr kursorischer Begründung unter dem Gesichtspunkt der "Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse" für erforderlich hielt (BVerfG 2 BvF 1/01 v. 24.10.2002, Absätze 360-378).

 

26

Schon die Notwendigkeit, ein zu weitgehendes Bundesgesetz zunächst in einem langwierigen Verfahren "wegklagen" zu müssen, wird zumeist mit der zeitlichen Dynamik der Landespolitik in Konflikt geraten. Überdies zwänge die erfolgreiche Nichtigkeitsklage eines Landes auch alle anderen zum Handeln, ohne daß es dafür auf deren politische Agenda ankäme.

 

27

In der Kommission habe ich zu zeigen versucht, daß das Risiko eines ruinösen Steuerwettbewerbs nur bei wenigen Steuerquellen besteht (Kommissionsdrucksache 0047).

 

28

Für die finanzschwachen Länder wäre insbesondere die in der Schlußphase durchgesetzte Beschränkung von Finanzhilfen des Bundes auf "Vorhaben, die nicht Gegenstand der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes sind" im Vorentwurf der Vorsitzenden vom 13.12.2004 (AU 0104 -neu-, Art. 104b -neu-) zu einem großen Problem geworden.

 

29

Am Ende der Verhandlungen stand schließlich im Vorentwurf der Vorsitzenden vom 13.12.2004 (AU 0104 -neu-) eine in der Kommission nie diskutierte neue Vierteilung des Bestandes der konkurrierenden Gesetzgebung: (1) ausschließliche Bundeskompetenz, (2) ausschließliche Landeskompetenz, (3) konkurrierende Kompetenz des Bundes ohne Beschränkung durch eine Erforderlichkeitsklausel und (4) konkurrierende Kompetenz des Bundes unter Anwendung der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG (AU 0104 -neu-). Mit dieser (sinnvollen) Differenzierung würden die Risiken, die sich aus dem Juniorprofessur-Urteil für die zwischen Bund und Ländern unstrittigen Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung ausgeschaltet. Wenn also über das Zugriffsrecht weiter beraten worden wäre, hätte es auf den Bereich (4) beschränkt werden können.

 

30

Sie wurde in einem späteren Beitrag der Sachverständigen Grimm und Schneider zwar nicht befürwortet, aber immerhin für realisierbar gehalten (AU 0086, 7).

 

31

In der Kommission gingen alle Seiten davon aus, daß Zugriffsrechte und auch einfachgesetzliche Öffnungsklauseln die Befreiung von Art. 72 Abs. 2 impliziert. Im Prinzip gilt das auch für Zustimmungsrechte des Bundesrats, soweit diese nicht in der Finanzverfassung begründet sind.

 

32

Bei Gesetzen, die vor dem 15.11.1994 erlassen wurden, könnten die Länder wegen Art. 125a Abs. 2 GG noch nicht einmal nach einem für sie günstigen Urteil tätig werden, sondern müßten immer noch auf die Freigabe durch den Bundesgesetzgeber warten.

 

33

Wird die Abweichung von der Verfassung gestattet, ist auch Art. 31 GG kein Hindernis.

 


Copyright © 2005 Fritz W. Scharpf

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MPIfG:  MPIfG Working Paper 05/6

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[Zuletzt geändert am 29.03.2007 10:59]