MPIfG Working Paper 05/6, Juni 2005
Recht und Politik in der Reform des deutschen Föderalismus
Fritz W. Scharpf
,
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
Zusammenfassung
In der Entwicklung des deutschen Bundesstaates
lassen sich drei Phasen unterscheiden: Die anfänglich ungebremste Unitarisierung
der Gesetzgebung und Zentralisierung der Finanzbeziehungen wurde seit Mitte der
sechziger Jahre korrigiert durch die Institutionalisierung eines "kooperativen
Bundesstaates" mit eng verflochtenen Finanzbeziehungen und gesteigerten
Konsenserfordernissen in der Gesetzgebung des Bundes. Seit den neunziger Jahren
wird diese Lösung als lähmende "Politikverflechtung" kritisiert, die durch eine
klare Trennung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern ersetzt werden sollte.
Die mit dieser Zielsetzung im Herbst 2003 eingesetzte "Kommission des
Bundestages und des Bundesrates zur Modernisierung der bundesstaatlichen
Ordnung" ist jedoch wegen ihrer zu strikten Orientierung an diesem, die
Unterschiede zwischen den Ländern ignorierenden "Trennprinzip" zunächst
gescheitert.
In jeder dieser Phasen wurde die Entwicklung durch
die Interaktion zwischen den politischen Akteuren und Interventionen des
Verfassungsgerichts geprägt, wobei die ohnehin dominante Tendenz jeweils durch
die Rechtsprechung noch verstärkt und verfestigt wurde. Auch in der Arbeit der
Kommission hat Dominanz verfassungsrechtlicher Diskurse problemgerechte Lösungen
nicht begünstigt.
Abstract
There were three distinct phases in the evolution of
post-war German federalism: The initial expansion of national legislative
competencies and of centralized fiscal relations was corrected by the mid-1960s
through the institutionalization of "cooperative federalism" with tightly
integrated fiscal arrangements and very high consensus requirements for federal
legislation. After the early 1990s, however, established institutions were
criticized as a "joint decision trap" that ought to be replaced by a clear
separation of federal and Land competencies. For this purpose, a bicameral
"Commission for the Modernization of the Federal Constitution" was set up in the
Fall of 2003. It failed, however, because its commitment to the "separation
principle" could not accommodate the diversity of conditions among the German
Länder.
In each of these phases, institutional evolution was
shaped by the interaction between political actors and the interventions of the
constitutional court – which generally reinforced and perpetuated the dominant
paradigm of each period. By the same token, constitutional-law discourses were
not conducive to the constructive search for feasible and effective solutions in
the Commission.
Inhalt
1 Einleitung
Die Entwicklung des deutschen Bundesstaates wurde durch strukturelle Spannungen
und den Druck historisch-kontingenter Problemlagen geprägt, die ein stabiles
institutionelles Gleichgewicht verhindert und eskalierende Veränderungen und
Trendwenden bewirkt haben. Die ersten drei Jahrzehnte der Geschichte der
Bundesrepublik waren geprägt durch eine zunehmende Unitarisierung der
Politikinhalte bei gleichzeitig zunehmender Verflechtung zwischen den
staatlichen Ebenen und wachsenden Kooperations- und Konsenserfordernissen. Seit
den neunziger Jahren hat sich die wissenschaftliche und publizistische Kritik an
den Dysfunktionen der Politikverflechtung verschärft,[1]
und auch in der Politik
selbst haben die seit längerem vernehmbaren Forderungen nach Dezentralisierung
und Entflechtung praktische Bedeutung gewonnen.
Diese Pendelschläge der institutionellen Entwicklung waren
in manchen Phasen das quasi-evolutionäre Ergebnis interessenorientierter
Strategien der einzelnen politischen Akteure innerhalb der Spielräume der
geltenden Regeln des Grundgesetzes, während in anderen Phasen die explizite
Änderung dieser Regeln durch kollektives Handeln unter dem Erfordernis von
Zweidrittelmehrheiten im Bundestag und Bundesrat nötig und möglich war. In
beiden Konstellationen, der des "game within rules" und der des "game about rules" (Ostrom et al. 1994),
gehörte das Verfassungsgericht zu den wichtigen Mitspielern. Seine
Interpretation der Regeln konnte die Spielräume der politischen Akteure entweder
erweitern oder aber so weit verengen, daß Änderungen nur noch durch formelle
Verfassungsänderung erreicht werden konnten – womit dann zugleich zusätzliche
Vetopositionen etabliert und mit künstlicher Konfliktfähigkeit ausgestattet
wurden. Das heißt zwar nicht, daß Verfassungsrecht und
Verfassungsgerichtsbarkeit die institutionelle Dynamik hätten entweder anhalten
oder vorausschauend steuern können. Aber es bedeutet doch, daß die
Wechselwirkung zwischen evolutionärer Verfassungsentwicklung, expliziter
Verfassungspolitik und Verfassungsrechtsprechung, die auch beim jüngsten Versuch
einer Föderalismusreform im Rahmen der "Kommission von Bundestag und Bundesrat
zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" (KMbO) wieder deutlich wurde,
ein interessanter Untersuchungsgegenstand auch der politikwissenschaftlichen
Forschung sein könnte.
Im vorliegenden Aufsatz werde ich zunächst den Trend zur Unitarisierung und
Verflechtung und dann den gegenwärtigen Gegentrend skizzieren und dabei zeigen,
daß in beiden Phasen die Verfassungsrechtsprechung eine eher trendverstärkende
als moderierende oder korrigierende Funktion wahrnahm. Anschließend werde ich
die Aporien der die gegenwärtige Verfassungspolitik dominierenden
Entflechtungsdiskurse erörtern und schließlich auf die Grenzen einer rechtlich
und politisch beschränkten Verfassungsreform verweisen.
2 Vom unitarischen zum kooperativen Bundesstaat
Der "unitarische Bundesstaat" des Grundgesetzes (Hesse 1962) verdankte seine im
internationalen Vergleich einmalige institutionelle Struktur zwei
Anfangsbedingungen: einer unitarischen politischen Kultur und der Tatsache, daß
die Länder vor der Bundesrepublik existierten und ihre institutionellen
Eigeninteressen in der neuen Verfassung sichern konnten.
Die erste Bedingung, deren Wurzeln in den kulturellen Nationalismus des frühen
19. Jahrhunderts zurückreichen (Lehmbruch 2002), war durch den
Zentralisierungsschub der Weimarer Verfassung und die "Gleichschaltung" der
Länder im zentralisierten Einheitsstaat des Dritten Reiches institutionell
gestützt worden, und die Notlagen und Zwangsumsiedlungen nach dem Zusammenbruch
des Reiches hatten den normativen Stellenwert der nationalen Einheit und des
solidarischen Lastenausgleichs eher noch verstärkt als untergraben. Die
institutionell neu etablierten westdeutschen Länder konnten also die ihnen von
den Besatzungsmächten eingeräumte konstitutionelle Gestaltungsmacht zwar zur
Wiederherstellung einer an das Bismarck-Modell anknüpfenden föderalen Verfassung
nutzen, keineswegs aber zur Maximierung autonomer Gesetzgebungskompetenzen und
einer autonomen Finanzwirtschaft. Statt dessen ging es ihnen darum, ihr Monopol
für den Vollzug (fast) aller staatlichen Aufgaben zu verteidigen und über den
Bundesrat unmittelbaren Einfluß auf die Gesetzgebung des Zentralstaates zu
gewinnen.
Deshalb führte der Regelungsbedarf der Nachkriegszeit, der wie
selbstverständlich an den Bund adressiert wurde, zunächst zu einer progressiven
Unitarisierung der Gesetzgebung, die, wo nötig durch Verfassungsänderung,[2]
in erster Linie aber durch die volle Ausschöpfung der "konkurrierenden"
Gesetzgebungskompetenzen erreicht wurde. Gemessen am Text der
Verfassung, die diese Kompetenzen im Prinzip den Ländern zugeschrieben
und Bundesgesetze nur zugelassen hatte, wenn ein besonderes "Bedürfnis"
nach einheitlicher Regelung bestand (Art. 72 Abs. 2 GG), war diese
Entwicklung keineswegs unproblematisch. Sie wurde ermöglicht und
gefördert durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das
im Sinne des (von ihm ansonsten kaum praktizierten[3]) judicial self restraint die Feststellung eines solchen
Bedürfnisses fast vollständig dem Ermessen des politisch verantwortlichen (Bundes-)Gesetzgebers
überließ (BVerfGE 2, 213 [1953]; 33, 224 [1972]; 43, 9 [1972]).
Für die Länder war die legislative Unitarisierung im Prinzip akzeptabel. Die von
ihnen zu vollziehenden Bundesgesetze waren in der Wiederaufbauphase politisch
wenig kontrovers. Zudem enthielten sie zumeist auch Regelungen des
Verwaltungsverfahrens oder der Behördenorganisation, die nach Art. 84 Abs. 1 GG
nur mit Zustimmung des Bundesrates beschlossen werden konnten. Die Regierungen
konnten also die auch im besten Falle eingeschränkte und politisch wenig
attraktive Autonomie des Landesgesetzgebers gegen kollektive Mitwirkungsrechte
auf der Bundesebene eintauschen. Unterstützt wurde diese Neigung wiederum durch
die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich bei der
Interpretation des Art. 84 GG von einem "Einheitsprinzip" leiten ließ,
demzufolge das Zustimmungserfordernis sich auf das Gesetz als Ganzes bezog. Bei
fehlender Zustimmung war demnach nicht allein die Verfahrensregelung, sondern
das ganze Gesetz nichtig (BVerfGE 55, 274 [1980]). Infolgedessen konnte der
Bundesrat seine Zustimmung auch aus Gründen verweigern, die sich nicht auf
Regelungen des Verwaltungsverfahrens oder der Behördenorganisation, sondern auf
den materiellen Gehalt des Gesetzes bezogen – eine Option, die immer dann an
praktischer und politischer Bedeutung gewann, wenn die parlamentarische
Opposition über eine Mehrheit im Bundesrat verfügte.
Viel problematischer als die Unitarisierung der Gesetzgebung war aus Ländersicht
die anfängliche Tendenz zu einer immer stärkeren Zentralisierung der
Finanzverfassung. Bei der Verabschiedung des Grundgesetzes war die zunächst
beabsichtigte Rückkehr zum großen Steuerverbund der Weimarer Zeit am Veto der
Besatzungsmächte gescheitert, und nach dem "Trennprinzip" stand von den "großen"
Steuern dem Bund das Aufkommen der Umsatzsteuer zu, den Ländern das der
Einkommen- und Körperschaftsteuer. Im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre
nahm der Bund jedoch (mit der Zustimmung des Bundesrates) auch einen immer
größeren Anteil am Aufkommen der Einkommen- und Körperschaftsteuer für sich in
Anspruch – und finanzierte damit wiederum ein wachsendes Volumen von
zweckgebundenen Zuschüssen an die Länder. Diese dienten zwar dem Ausgleich
ungleicher Problemlasten und ungleicher Steueraufkommen, aber zugleich wuchs
damit die Abhängigkeit der finanzschwachen Länder von Zuwendungen des Bundes,
die auf der Grundlage von Verwaltungsvereinbarungen und Haushaltsgesetzen unter
zunehmend detaillierten Bedingungen vergeben wurden.
Obwohl diese selektive (und potentiell auch
diskriminierende) "Dotationswirtschaft" sich ohne verfassungsrechtliche
Grundlage entwickelt hatte, gab es angesichts der Abhängigkeit der
Empfänger keine Kläger und damit auch keine verfassungsgerichtliche
Remedur. Eine Gelegenheit zur Intervention gegen zentralstaatliche
Ambitionen im Zuständigkeitsbereich der Länder bot erst der Versuch der
Bundesregierung, ein zweites Fernsehprogramm als GmbH des Bundes und
der Länder zu gründen. Da die vorbereitenden Verhandlungen über das
"Adenauer-Fernsehen" nur mit den der Union angehörenden Regierungschefs
geführt worden waren, beließ es das "Fernsehurteil" (BVerfGE 12, 205
[1961]) nicht bei der Feststellung einer fehlenden Bundeskompetenz zur
Veranstaltung von Fernsehprogrammen, sondern rügte auch das "procedere"
als Verletzung des ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes der
"wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu
bundesfreundlichem Verhalten" (S. 254), der es dem Bund verbiete, "in
einer Frage des Verfassungslebens, an der alle Länder interessiert und
beteiligt sind, … nach dem Grundsatz divide et impera zu handeln" (S.
255).
Nach der gleichen Logik war aber auch der
"Wildwuchs" der freihändig oder auf der Grundlage bilateraler
Vereinbarungen vergebenen Dotationen des Bundes an die Länder
verfassungsrechtlich prekär und politisch kontrovers geworden. Als die
Bundesregierung der Großen Koalition deshalb unter dem Einfluss des
damaligen technokratischen Planungs- und keynesianischen
Steuerungsoptimismus daran ging, auf der Grundlage des Gutachtens der
Troeger-Kommission (1966) die Voraussetzungen für eine gesamtstaatliche
Finanzplanung und antizyklische Fiskalpolitik zu schaffen, nutzten die
Länder die dafür notwendige Reform der Finanzverfassung, um die
einseitigen Handlungsmöglichkeiten des Bundes radikal zu beschneiden
(Lehmbruch 1998: 114-125; Schönhoven 2004: 333-339). So wurde nun auch
die Umsatzsteuer in den großen Steuerverbund einbezogen und der
Länderanteil nach der Einwohnerzahl (und nicht nach dem örtlichen
Aufkommen) verteilt, um so die Unterschiede der Finanzkraft zwischen
den Ländern zu vermindern – die darüber hinaus durch einen
verfassungsrechtlich geregelten horizontalen Finanzausgleich zwischen
den Ländern und gesetzlich geregelte "Ergänzungszuweisungen" des Bundes
weiter abgebaut werden sollten. Schließlich wurde die
Dotationswirtschaft ersetzt durch die Institutionalisierung gemeinsam
geplanter und finanzierter "Gemeinschaftsaufgaben" für den
Hochschulbau, die Agrarstrukturpolitik, den Küstenschutz, die regionale
Wirtschaftsförderung und die Forschungsförderung (Art. 91a und 91b GG)
und durch die verfassungsrechtlich geregelte Zulassung von Finanzhilfen
des Bundes für bestimmte Investitionen der Länder und Gemeinden (Art.
104a Abs. 4 GG).
Auch wenn die in Art. 91b GG ebenfalls
vorgesehene gemeinsame Bildungsplanung wegen der sich bald
verschärfenden ideologischen Konflikte zwischen den großen Parteien nie
die erwartete praktische Bedeutung gewann, war damit die dem
unitarischen Bundesstaat inhärente Zentralisierungstendenz gestoppt und
durch die Strukturen eines "kooperativen Bundesstaates" (Kisker 1971)
oder eben der "Politikverflechtung" (Scharpf et al. 1976) ersetzt
worden. Auch diese Entwicklung wurde durch die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts verstärkt. Im Urteil zum
Städtebauförderungsgesetz (BVerfGE 39, 96 [1975]) wurde dem Bund die
Möglichkeit verwehrt, bei Finanzhilfeprogrammen die zu fördernden
Vorhaben der Gemeinden ohne Zustimmung der jeweiligen Landesregierungen
auszuwählen. Noch restriktiver war die Wirkung des Urteils zur
"Strukturförderung" (BVerfGE 41, 291 [1976]), das ein auf die
Ölpreiskrise reagierendes "einmaliges Sonderprogramm für Gebiete mit
speziellen Strukturproblemen" für verfassungswidrig erklärte. Zwar
erlaubte der neue Art. 104a Abs. 4 GG die Regelung von Finanzhilfen
entweder durch Zustimmungsgesetz oder durch Verwaltungsvereinbarung auf
Grund des Bundeshaushaltgesetzes. Wenn aber der zweite Weg gewählt
wurde, dann durften auch bei unterschiedlicher Betroffenheit der Länder
solche Vereinbarungen nur mit der förmlichen Zustimmung aller Länder
geschlossen werden.[4] Mit anderen Worten: Im kooperativen Bundesstaat
war politisches Handeln nur noch im allseitigen Konsens möglich.
3 Vom kooperativen Föderalismus zurück zum Trennprinzip?
Von den Planungs- und Kooperationshoffnungen war
zunächst auch die Arbeit der 1970 eingesetzten "Enquete-Kommission
Verfassungsreform" geprägt, die in ihrem ersten Zwischenbericht (1973)
sogar eine verpflichtende "integrierte Gesamtplanung des Bundes und der
Länder" vorgeschlagen hatte. Der Anspruch wurde freilich schon im
Schlußbericht von 1976 wieder auf den einer fakultativen "gemeinsamen
Rahmenplanung" zurückgenommen (Enquete-Kommission 1976, 95-150).[5]
Inzwischen waren auch die Folgeprobleme eines Konsensmodells, bei dem weder der
Bund noch die einzelnen Länder die Möglichkeit des autonomen Handelns behalten
hatten, nicht nur für die Politikwissenschaft, sondern auch für manche Praktiker
erkennbar geworden (Scharpf et al. 1977; Hesse 1977). Im Bund-Länder-Verhältnis
hatte sich gezeigt, dass die Einigung durch Interessenkonflikte zwischen großen
und kleinen, reicheren und ärmeren Ländern zumindest stark behindert wurde. Der
Vorschlag der Neugliederungskommission, der in Westdeutschland annähernd gleich
große und gleich leistungsfähige Länder hätte schaffen sollen (Ernst-Kommision
1972), war politisch gescheitert, und im Gefolge der Ölpreiskrise hatte sich
erwiesen, daß weder bei den Gemeinschaftsaufgaben noch bei den Finanzhilfen eine
den neuen Problemlagen entsprechende Umverteilung der Bundesmittel zwischen den
Ländern im Konsens erreicht werden konnte. Kurz, dem kooperativen Föderalismus
fehlte die Fähigkeit zur raschen und problemgerechten Reaktion auf krisenhafte
Veränderungen der wirtschaftlichen Lage.
Soweit es dabei nur um die Interessen der Länder ging, waren Kompromisslösungen
allerdings meist doch zu erreichen, auch wenn die der Konfliktminderung
dienenden Maximen der Besitzstandswahrung und Gleichbehandlung die Wirksamkeit
von Programmen verminderte und deren Kosten erhöhte (Scharpf et al. 1976;
Bentele 1979; Garlichs 1980). Schließlich hatten sich ja die Beteiligten
dauerhaft auf eine Struktur eingelassen, in der eigene Interessen nur im Modus
der intergouvernementalen Verhandlungen erreicht werden konnten, und in der
konfrontative Strategien allenfalls Blockaden, aber nicht die Durchsetzung
eigener Ziele zur Folge hatten (Benz 1985, 1994). Ganz andere Spiele wurden und
werden jedoch immer dann möglich, wenn – zum ersten Mal in den siebziger Jahren[6]
– die Oppositionsparteien im Bund die Mehrheit im Bundesrat gewinnen und damit
die Chance erhalten, dessen Zustimmungsrechte für parteipolitische Zwecke zu
instrumentalisieren.
Unter diesen Bedingungen des divided government (Laver/Shepsle 1991) geht es
dann im Bundesrat nicht mehr nur um die Durchsetzung oder Verteidigung der
jeweiligen Landesinteressen, sondern auch um die Durchsetzung und Verteidigung
des politischen Programms der im Bundestag unterlegenen Opposition und (was
nicht dasselbe ist) um die Verhinderung von Erfolgen der Regierung, die deren
Chancen der Wiederwahl verbessern könnten. Welches dieser drei Motive bei der
Stimmabgabe der oppositionellen Ministerpräsidenten im konkreten Fall das
Übergewicht erhält, hängt von vielerlei Faktoren ab, unter denen die Nähe des
Wahltages gewiß eine wichtige Rolle spielt. Aber in einem Land, in dem während
der Legislaturperiode des Bundestages sechzehn Landtagswahlen die
Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat beeinflussen und deshalb als Plebiszit über
die Regierungspolitik inszeniert werden können, sind bundespolitisch bedeutsame
Wahltage nie sehr fern.
Im divided government tritt auch der von Gerhard Lehmbruch (1976, 1998) dem
deutschen Föderalismus zugeschriebene Widerspruch zwischen der kooperativen
Logik intergouvernementaler Verhandlungen und der konfrontativen Logik der
Konkurrenzdemokratie in voller Schärfe hervor und kann dann in der Tat die
Handlungsfähigkeit der deutschen Politik blockieren (Darnstädt 2004). Zugleich
wird, wenn die Opposition immer mitregiert und Entscheidungen, die am Ende
keiner gewollt hat und keiner öffentlich vertreten will, hinter den
verschlossenen Türen des Vermittlungsausschusses fallen, die politische
Verantwortlichkeit verwischt – mit dem Ergebnis, dass der Frust der Wähler über
die unfähige Regierung nicht nur die Hoffnungen der Opposition beflügelt,
sondern noch mehr zu einer verallgemeinerten Parteien- und Politikverdrossenheit
beiträgt. Kurz, der Reformstau im Bund wird zum Demokratieproblem.
Aber im kooperativen Föderalismus kann der Verlust des Bundes auch nicht der
Gewinn der Länder sein. Diese haben ja seit der Finanzverfassungsreform von 1969
jeden Einfluss auf die eigenen Einnahmen verloren, die ausschließlich durch
bundeseinheitliche Steuergesetze und den bundesgesetzlich geregelten
horizontalen und vertikalen Finanzausgleich bestimmt werden. Ihre wichtigste
Funktion ist der bundeseinheitliche Vollzug bundeseinheitlicher Gesetze auf
eigene Kosten. Mit Ausnahme des Gemeinderechts, des Polizeirechts und des
Schulrechts stehen ihnen kaum noch autonom auszuübende Gesetzgebungskompetenzen
zu – und auch die haben sie im unitarischen und kooperativen Bundesstaat
weitgehend an die Kultusministerkonferenz und andere Einrichtungen der
horizontalen Selbstkoordination abgetreten (Scharpf 1989). Wenn also die
Bundespolitik in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder gelähmt wird, dann
erweitert dies keineswegs die Handlungsspielräume der Landespolitik. Im
Gegenteil: Da die Länder den Gesamtstaat gegenüber dem Bürger vertreten, sind
auch sie es, die in erster Linie mit den realen Folgeproblemen des
Politikversagens konfrontiert werden.
Überdies haben, wenn man einmal von den Möglichkeiten parteipolitisch
motivierter Oppositionsstrategien absieht, die Mitwirkungsrechte im Bundesrat
aus der Sicht der Landesregierungen in dem Maße an Attraktivität verloren, wie
der Inhalt der Bundesgesetze durch die Vorgaben des europäischen Rechts bestimmt
wird. Die anlässlich der Maastricht-Ratifikation ertrotzten Mitwirkungsrechte
des Bundesrates bei der europapolitischen Willensbildung der Bundesregierung
(Art. 23 Abs. 2-7 GG) haben sich – wegen der schwierigen und langwierigen
Abstimmung zwischen den Ländern – in der Praxis als wenig wirksam erwiesen.
Statt dessen haben die Länder ihre Vertretungen in Brüssel ausgebaut und
versuchen nun je für sich, ihre Interessen in der Frühphase der Diskussion auf
europäischer Ebene unmittelbar gegenüber der europäischen Kommission zu
vertreten (Finanzreport NRW 2005).
Für die Regierungen der Länder zahlte sich also der in den Nachkriegsjahrzehnten
so attraktive Tausch von autonomen Gesetzgebungskompetenzen gegen
Mitwirkungsrechte auf Bundesebene immer weniger aus, während zugleich die
fiskalischen und legislativen Beschränkungen der Landespolitik immer enger und,
jedenfalls aus der Sicht der westdeutschen "Geberländer", die nach der deutschen
Vereinigung steigenden Lasten des Finanzausgleiches immer drückender wurden.
Schon in der Gemeinsamen Verfassungskommission hatten die Länder deshalb nicht
nur eine inhaltliche Verschärfung der "Bedürfnisklausel" des Art. 72 Abs. 2 GG
gefordert, sondern auch ein eigenständiges "Rückholrecht" der Landtage für
bundesrechtlich schon geregelte Materien, bei denen die "Erforderlichkeit"
bundeseinheitlicher Regeln nicht mehr unterstellt werden konnte (Gemeinsame
Verfassungskommission 1993, 65-66). Erfolg hatten sie jedoch nur mit der ersten
Forderung, während die zweite am Widerstand des Bundes scheiterte und Fragen der
Finanzverfassung von der Kommission gar nicht behandelt wurden.
Der sich ändernden Interessenlage der Länder kam ein Umschlag der Meinungen in
Wissenschaft und Publizistik entgegen, wo nun statt der Vorteile des
kooperativen Föderalismus dessen Nachteile hervorgehoben wurden. Auslöser war
wohl weniger die politikwissenschaftliche Kritik an der Politikverflechtung als
die neoliberale Version einer ökonomischen Theorie des Föderalismus,[7] die jede
Form der Kooperation zwischen Regierenden als ein gegen die Regierten
gerichtetes Kartell verdächtigte und demgegenüber die wohlfahrtsfördernden
Wirkungen des "Systemwettbewerbs" im allgemeinen (Vanberg/Kerber 1994; Streit
1996; Windisch 1998) und des "Wettbewerbsföderalismus" im besonderen (Morath
1999) hervorhob. Als der Begriff dann aber aus der wissenschaftlichen Diskussion
in die politische Praxis übernommen wurde, diente er in erster Linie zur
Begründung einer Verfassungsklage der wirtschafts- und finanzstarken süd- und
westdeutschen Länder, die damit eine Verminderung ihrer "konfiskatorischen"
Beitragslast im horizontalen Finanzausgleich erreichen wollten (Arndt 1998;
Huber 1998; Huber/Lichtblau 1998).
Daß dafür die Unterstützung aller Länder nicht zu gewinnen war, lag auf der Hand
– insbesondere da die publizistische Unterstützung durch die FDP
(Friedrich-Naumann-Stiftung 1998) und engagierte Ökonomen (Donges et al. 1998)
auch keinen Zweifel daran ließ, daß mit der Durchsetzung des Konzeptes auch das
Versprechen "einheitlicher" oder wenigstens "gleichwertiger Lebensverhältnisse
im Bundesgebiet" (Art. 106 Ab. 3 Ziff. 2 GG, Art. 72 Abs. 2 GG) aufgekündigt
werden sollte. Solche Argumente waren (jedenfalls damals) nicht nur in
Ostdeutschland politisch nicht zu vermitteln. Auch das Verfassungsgericht ließ
sich von den ökonomischen Argumenten nicht beeindrucken und betonte in seinem
Urteil sogar noch stärker als zuvor die Bedeutung des "bundesstaatlichen
Gedankens der Solidargemeinschaft".[8] Im Ergebnis hat die Assoziation mit dem
Vorstoß der reichen süd- und westdeutschen Länder gegen den Finanzausgleich den
"Wettbewerbsföderalismus" zum "politischen Streitbegriff" (Schatz et al. 2000)
werden lassen, der trotz (oder wegen) der fortdauernden publizistischen
Unterstützung durch liberale Ökonomen (Morath 1999; Donges et al. 2000) im
politischen Prozeß mehr Widerstand als Zustimmung mobilisierte. In der späteren
Föderalismuskommission wurde er geradezu als "Unwort" behandelt, von dem sich zu
distanzieren ein Gebot der political correctness gerade für jene war, die auch
auf die positiven Seiten eines politischen Wettbewerbs zwischen den Ländern
hinweisen wollten.
Aber die faktische Tabuisierung des Begriffs
änderte nichts an der zunehmenden öffentlichen Kritik an den Strukturen
und Verfahrensweisen der deutschen Politikverflechtung, die immer
pauschaler als Ursache des "Reformstaus" der deutschen Politik
denunziert wurde. Deshalb war die Föderalismusreform seit Ende 2001
Gegenstand von intergouvernementalen Verhandlungen zwischen Bund und
Ländern. Als sich dabei im Sommer 2003 Ergebnisse abzeichneten, denen
das Parlament nur noch hätte zustimmen können, kam es aufgrund einer
Initiative des Vorsitzenden der SPD-Fraktion zur Einsetzung einer
interparlamentarischen "Kommission von Bundestag und Bundesrat", in der
zwar neben 16 Bundestagsabgeordneten auch alle 16 Landesregierungen,
aber die Bundesregierung nur durch vier "beratende Mitglieder"
vertreten waren.[9]
Der Einsetzung dieser Kommission waren wiederum Verhandlungen vorausgegangen, in
denen es den kleinen und finanzschwachen Ländern gelungen war, sowohl die
Neugliederung des Bundesgebietes als auch den Finanzausgleich und die
Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen über Steuern von der Tagesordnung der
Kommission auszuschließen. Darüber hinaus aber signalisierten schon die
Einsetzungsbeschlüsse eine eindeutige Richtung der erwünschten Reformen: Die
Gesetzgebungskompetenzen der Länder sollten erweitert, das Bundesratsveto
reduziert und die Mischfinanzierung abgebaut werden. Der kooperative
Föderalismus sollte zwar nicht zum Wettbewerbsföderalismus, wohl aber zu einem
"Gestaltungsföderalismus" umgebaut werden, der die autonomen
Handlungsmöglichkeiten der Bundespolitik und der Landespolitik zugleich stärkte.
Einvernehmliches Ziel der Kommission war die möglichst klare Trennung der
Zuständigkeiten von Bund und Ländern.[10]
4 Die Schwierigkeiten der Entflechtung
Im Kern ging es dabei einerseits um die Einschränkung der Zustimmungsrechte des
Bundesrates bei der Gesetzgebung des Bundes und andererseits um die Übertragung
wichtiger Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder und den Abbau der
Gemeinschaftsaufgaben und anderer Formen der Mischfinanzierung. Zwischen beiden
bestand, daran ließen die Ministerpräsidenten in der Kommission keinen Zweifel,
ein klares Quid-pro-quo: Zwar sahen im Herbst 2003 nicht nur die
Regierungsparteien im Bund, sondern auch die hoffnungsfrohe parlamentarische
Opposition in den Blockademöglichkeiten des Bundesrates den wichtigsten Grund
für den deutschen "Reformstau" und waren deshalb – zum ersten Mal in der
Geschichte der Bundesrepublik – beide bereit, daran etwas zu ändern. Aber für
die Ministerpräsidenten auf der (regierungsnahen) "A-Seite" und erst recht auf
der (oppositionellen) "B-Seite" konnte dieses Motiv keineswegs genügen. Wenn sie
denn bereit sein sollten, im Interesse ihrer Bundesparteien auf
Zustimmungsrechte (und damit auch auf Möglichkeiten der eigenen Profilierung im
Lichte der nationalen Öffentlichkeit) zu verzichten, dann nur im Tausch gegen
wesentlich erweiterte Möglichkeiten der politischen Gestaltung auf Landesebene.
Im Laufe der Beratungen freilich erwies sich dieser Tausch als wesentlich
schwieriger, als zunächst auf allen Seiten angenommen worden war.
4.1 Weniger Zustimmungsrechte des Bundesrates?
In der Kommission war rasch klar, daß das Bundesratsveto in Fragen der
Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern auf keinen Fall angetastet werden
konnte. Da auch alle Entscheidungen über Steuern und Subventionen unmittelbare
Auswirkungen auf die Finanzen der Länder haben, galt dafür das Gleiche. Die
finanziellen Aspekte einer künftigen Reformpolitik konnten also dem Zugriff des
Bundesrates gar nicht entzogen werden. Potentiellen Spielraum für die Arbeit der
Kommission gab es dagegen im Bereich des Art. 84 GG, nach dem die Zustimmung des
Bundesrates für alle von den Ländern zu vollziehenden Gesetze erforderlich ist,
die auch das Verwaltungsverfahren oder die Behördenorganisation regeln. Rein
quantitativ beruhen fast zwei Drittel der Zustimmungsfälle auf dieser Norm, und
dank der oben erwähnten "Einheitstheorie" des Bundesverfassungsgerichts können
damit auch die politisch bedeutsamen materiellen Regeln von Bundesgesetzen
blockiert werden.
Die in der Kommission angestrebte Lösung war im Prinzip sehr einfach: Wenn man
dem Bundesgesetzgeber verbot, das Verwaltungsverfahren oder die
Behördenorganisation in den Ländern zu regeln, dann entfiel auch das
Zustimmungsrecht des Bundesrates – und wenn ausnahmsweise bundeseinheitliche
Verfahrensregeln notwendig waren,[11] dann sollte das Zustimmungsrecht eben wieder
aufleben. Damit freilich waren nun die Länder nicht zufrieden, denen das
Zustimmungsrecht nach Art. 84 GG auch die Möglichkeit bot, sich gegen
Bundesgesetze zu wehren, deren Vollzug sie finanziell belastete. Nach
langwierigen Verhandlungen war der Bund schließlich auch bereit, in der
Finanzverfassung ein neues Zustimmungsrecht des Bundesrates bei Gesetzen mit
erheblichen Kostenfolgen für die Länder zu akzeptieren.
Im Ergebnis hatten also die Beratungen der Kommission dem Bund kaum einen
größeren politischen Handlungsspielraum gebracht: Wenn er das Veto aus Art. 84
GG vermeiden wollte, mußte er auf Verfahrensregeln verzichten – was er ja auch
freiwillig hätte tun können – und er mußte dafür überdies ein neues
Zustimmungsrecht in der Finanzverfassung akzeptieren. Vollends erstaunlich wird
dieses Ergebnis jedoch, wenn man bedenkt, daß das Verfassungsgericht zwei Jahre
zuvor gerade in dieser Frage die Position des Bundes wesentlich gestärkt hatte.
Im Urteil zum Lebenspartnerschaften-Gesetz hatte das Gericht einen (bis dahin
umstrittenen) Weg zur Vermeidung des Bundesratsvetos gebilligt und dabei die
früher postulierte "Einheitstheorie" zu Art. 84 Abs. 1 GG faktisch außer Kraft
gesetzt (BVerfG 1 BvF 1/01 v. 17.7.2002): Wenn der Bundesgesetzgeber die
beabsichtigte materielle Regelung und die Regelung des Verwaltungsverfahrens in
zwei formell getrennten Gesetzen verabschiedete, dann bedurfte nur das
Verfahrensgesetz der Zustimmung des Bundesrates, selbst wenn die Trennung nur zu
dem Zweck vorgenommen wurde, ein Bundesratsveto gegen die materielle Regelung zu
vermeiden. Der Bund konnte also die Blockade parteipolitisch umstrittener
materieller Regelungen vermeiden, ohne daß er auf (zumeist politisch weniger
kontroverse) Verfahrens- und Organisationsregeln verzichten mußte, wenn es ihm
nur gelang, diese in einem separaten Gesetz einzubringen. Kurz, hier konnte der
Bund durch die Föderalismusreform kaum etwas gewinnen, was er nicht auch ohne
die Reform erreichen konnte.[12]
4.2 Neue Gesetzgebungskompetenzen der Länder?
Seltsamerweise hat dieses Urteil jedoch in den
Beratungen der Föderalismuskommission überhaupt keine Rolle gespielt.
Trotzdem kann man vermuten, daß im Regierungslager die in der
Kommission erreichbare Beschränkung des Bundesratsvetos zutreffend und
skeptisch eingeschätzt wurde – was auch die anfängliche Zurückhaltung
des Kanzleramtes in den Beratungen über erweiterte
Gesetzgebungskompetenzen der Länder erklären würde. Hier war es den
Ministerpräsidenten gelungen, sich in einem gemeinsamen
"Positionspapier" vom 6. Mai 2004 (Kommissionsdrucksache 45) auf eine
lange Liste von Kompetenzforderungen zu verständigen. Gefordert wurden
neben der (weitgehend unkontroversen) Zuständigkeit für das Recht des
öffentlichen Dienstes in den Ländern und dem (von der
Regierungskoalition nie konzedierten) vollständigen Rückzug des Bundes
aus der Bildungs- und Hochschulpolitik vor allem Kompetenzen für die
regionale Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und der Abbau
der Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen (bei garantierter
finanzieller Kompensation).
Über diese Forderungen wurde vom Beginn der Sommerpause an in sechs thematisch
spezialisierten "Projektgruppen" beraten, wobei die "Generalisten" aus den
Staatskanzleien der Länder auf die "Spezialisten" der jeweils zuständigen
Bundesressorts trafen, die im Detail und mit profunder Sachkenntnis Gründe gegen
eine Kompetenzverlagerung vortrugen.[13] Da sich auch fast alle Wirtschafts-,
Sozial- und Umweltverbände für den Fortbestand der Bundeskompetenzen einsetzten,
war es kaum überraschend, daß nach den Berichten der Projektgruppen im Herbst
2004 die Beratungen im Plenum der Kommission mit einer sehr kleinen Zahl
konsensfähiger Lösungen und einer langen Liste noch offener Streitfragen endete.[14]
Deren weitere Behandlung wurde den beiden Vorsitzenden, Müntefering und Stoiber,
und ihrer Konsultation ausgewählter Partner überlassen.
Angesichts des bis dahin erreichten Beratungsstandes war also die Kommission in
ihrer ursprünglichen Zusammensetzung und in ihrem regulären Verfahren von
Plenarsitzungen, Arbeitsgruppen und Projektgruppen schon Anfang November 2004
gescheitert. Daß am Ende der nun anschließenden Konsultationsrunden und
Konsensgespräche dann bis Mitte Dezember doch noch ein fast zustimmungsreifer
gemeinsamer Vorschlag der Vorsitzenden mit einem zumindest quantitativ sehr
ansehnlichen Katalog neuer Landeskompetenzen erarbeitet werden konnte (AU 0104
-neu-), verdankte man jedoch nicht nur dem Verhandlungsgeschick der
Vorsitzenden, sondern vor allem einer weiteren Intervention des
Bundesverfassungsgerichts, die die Agenda der Verhandlungen radikal veränderte
und die Verhandlungsposition des Bundes untergrub.
Schon in den vorangehenden Jahren hatte das Gericht in Reaktion auf die 1994 in
Kraft getretenen Änderungen bei Art. 72 Abs. 2 GG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG
begonnen, eine restriktive Interpretation der "Erforderlichkeit"
bundeseinheitlicher Regelungen zu entwickeln.[15] Da aber noch in keinem wichtigen
Fall gegen den Bund entschieden worden war, spielten auch diese Urteile in den
Beratungen der Föderalismuskommission zunächst keine Rolle. Die
Verhandlungssituation änderte sich jedoch mit dem Urteil vom 27. Juli 2004, mit
dem das Gericht die Einführung der "Juniorprofessur" durch eine Novelle zum
Hochschulrahmengesetz für verfassungswidrig erklärte (BVerfG 2 BvF 2/02). Dabei
begnügte das Gericht sich nicht mit der Feststellung, das Gesetz sei über die
Grenzen einer bloßen Rahmenregelung (Art. 75 Abs. 2 GG) hinaus zu weit in die
Einzelheiten gegangen und habe dem Landesgesetzgeber zu wenig Spielraum
belassen, sondern es stützte die Entscheidung auch auf eine extrem restriktive
Interpretation der (für die Rahmengesetzgebung und die konkurrierende
Gesetzgebung gleichermaßen geltenden) "Erforderlichkeit" bundeseinheitlicher
Regeln (Art. 72 Abs. 2 GG).[16] Diese wäre nur dann zu bejahen,
"wenn gerade durch
unterschiedliches Recht in den Ländern eine Gefahrenlage entsteht" – was etwa
dann der Fall wäre, "wenn die Lebensverhältnisse sich zwischen den Ländern in
einer unerträglichen Weise auseinander entwickeln …" (Abs. 128).[17]
Mit diesen Kriterien war jedoch nicht nur das Hochschulrahmengesetz, sondern der
gesamte Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und damit der überwiegende Teil
des geltenden Bundesrechts verfassungsrechtlich prekär geworden. Vom
bürgerlichen Recht über das Strafrecht, den Strafprozess oder das Arbeitsrecht
bis zum Straßenverkehrsrecht konnten nun alle Regelungen mit der Begründung
angefochten werden, es sei nicht nachgewiesen, dass von Land zu Land
unterschiedliche Regelungen schlechterdings unerträgliche wirtschaftliche oder
soziale Folgeprobleme haben müssten. Die Frage der Nichtigkeit einer unter
diesen Kriterien nicht "erforderlichen" Regelung konnte auch nicht nur im
Bund-Länder-Streit aufgeworfen werden, sondern war von den Gerichten auch in
normalen Prozessen zu prüfen und konnte dann per Vorlagebeschluß oder
Verfassungsbeschwerde das Bundesverfassungsgericht erreichen.[18]
Damit aber hatte das Gericht ein Problem erzeugt, das bis dahin gar nicht auf
der Traktandenliste der Föderalismusreform gestanden hatte, aber das nun im
Verhältnis zwischen Bund und Ländern dringend einer Lösung bedurfte. Zugleich
veränderte sich die Verhandlungskonstellation: Nun brauchte also der Bund die
Zustimmung der Länder, um selbst den politisch ganz unstrittigen Bestand seiner
gegenwärtigen Gesetzgebungskompetenzen verfassungsrechtlich abzusichern. Ein
gewisses Entgegenkommen war zwar zu erwarten, weil die für den ordentlichen
Vollzug des Bundesrechts verantwortlichen Länder ja auch selbst kein Interesse
an grassierender Rechtsunsicherheit haben konnten. Aber es lag auf der Hand, daß
der Bund dafür etwas bieten und seinen hinhaltenden Widerstand gegen alle
Forderungen der Länder nach erweiterten Gesetzgebungskompetenzen aufgeben mußte.
Nachdem die vom Juniorprofessur-Urteil
geschaffene neue Zwangslage in der SPD-Fraktion (Kommissionsdrucksache
0077) und in der Regierung verstanden worden war, bewog das
Bundeskanzleramt in einem "Beichtstuhlverfahren" die Ressorts zur
Beschränkung auf ihre jeweiligen "Kernkompetenzen". Bis Anfang November
entstand so ein zumindest quantitativ durchaus ansehnlicher Katalog von
Gesetzgebungskompetenzen, die der Bund zur Übertragung auf die Länder
anbot – von denen am Ende allerdings nicht alle auch von den Ländern
akzeptiert wurden.[19]
Im Gegenzug waren die Länder auch bereit, wenigstens einen Teil der
konkurrierenden Kompetenzen entweder in die ausschließliche Kompetenz des Bundes
zu überführen, oder sie explizit von der Erforderlichkeitsklausel freizustellen.
Damit hätte der Bund zwar noch nichts gewonnen, aber er hätte wenigstens die vom
Juniorprofessur-Urteil ausgehenden Risiken für den Bestand des konkurrierenden
Bundesrechts erheblich vermindern können.
Im Vergleich zu dem Anfang November in der Kommission erreichten Stand der
Beratungen hätten die Länder dagegen deutlich mehr Gesetzgebungskompetenzen
gewonnen. Trotzdem lehnten sie am 17. Dezember 2004 das von den Vorsitzenden
erreichte Verhandlungsergebnis ab. Zur Begründung verwies Ministerpräsident
Stoiber auf die Weigerung der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen, auf
alle Mitwirkungsmöglichkeiten im Bildungsbereich zu verzichten. Dieses Thema war
in der Kommission von Anfang an kontrovers gewesen, und es hatte in der
Beratungsphase auch keine ernsthafte Suche nach konstruktiven und konsensfähigen
Lösungen gegeben, auf die die Vorsitzenden in der hektischen Schlußphase hätten
zurückgreifen können. Aber angesichts der schon erreichten oder jedenfalls
erreichbaren Einigung bei allen anderen Themen, die auf der Tagesordnung der
Föderalismuskommission gestanden hatten, und angesichts der Kompetenzgewinne,
die die Länder dabei erzielt hätten, erscheint ihre Reaktion dennoch irrational.
Schließlich blieb es ja auch im Falle der Ablehnung beim Status Quo der
Bundeskompetenzen im Bildungsbereich – und diese schrumpften ohnehin wie Schnee
an der Sonne unter der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.[20] Die
Ablehnung wird erst verständlich, wenn man statt der bisher unterstellten
Gleichrichtung nun die Unterschiede der Interessenlage zwischen den Ländern in
die Betrachtung einbezieht.
Die institutionelle Entwicklung des deutschen Föderalismus war von Anfang an
geprägt durch das Spannungsverhältnis zwischen der realen Ungleichheit der
Länder und dem von der Verfassung verbürgten Anspruch auf "einheitliche" oder
(seit 1994) zumindest "gleichwertige Lebensverhältnisse". Dieses
Spannungsverhältnis konnte unter den Bedingungen des stetigen, raschen
Wirtschaftswachstums der Nachkriegsjahrzehnte durch die zuvor beschriebene
Perfektionierung des kooperativen Föderalismus in erstaunlich hohem Maße
ausgeglichen werden. Aber die Montankrise der sechziger Jahre und die
Ölpreiskrisen der siebziger Jahre hatten den Ausgleich der Wirtschaftskraft
schon zwischen den westdeutschen Ländern als Sisyphus-Arbeit erscheinen lassen,
die nach dem wirtschaftlichen Scheitern der deutschen Vereinigung vollends
aussichtslos erschien. Was statt dessen möglich war und erreicht wurde, war die
Einheitlichkeit der staatlichen Leistungen – durch die bundeseinheitliche
Sozialversicherung, bundeseinheitliche Regeln für die Sozialhilfe und den
vertikalen und horizontalen Finanzausgleich, der die Unterschiede in der
Finanzkraft der Länder immer weiter egalisierte. Aber in dem Maße, wie die
wirtschaftliche Auseinanderentwicklung durch die Egalisierung staatlicher
Leistungen kompensiert wurde, wuchsen auch die wirtschaftlichen Entzugseffekte
und die finanziellen Belastungen in den wirtschaftsstärkeren süd- und
westdeutschen Ländern.
Für deren Interessen (und nur für diese) hatte der Bundesrat seine Nützlichkeit
verloren, weil dort seit der deutschen Vereinigung die finanzschwachen Länder
die Mehrheit hatten. Der Versuch, über Verfassungsklagen gegen den geltenden
Finanzausgleich das Ausmaß der fiskalischen Umverteilung zu vermindern, brachte
nur minimale Erfolge.[21] Zugleich wurde aber der 2001 ausgehandelte Finanzausgleich
zusammen mit zusätzlichen Leistungen des Bundes für die neuen Bundesländer
("Solidarpakt II") bis 2019 festgeschrieben, und es gelang den finanzschwachen
und kleinen Ländern, dieses Ergebnis und auch das Thema einer Neugliederung des
Bundesgebietes von vornherein von der Tagesordnung der Föderalismuskommission
auszuschließen. Nachdem dies akzeptiert war und von allen Ministerpräsidenten
loyal eingehalten wurde, hatte das Interesse der finanzschwachen Länder an einer
Föderalismusreform fast nur noch defensiven Charakter: Es ging darum, jede
Verschlechterung ihres finanziellen Status Quo zu verhindern und zugleich
Änderungen zu vermeiden, die den wirtschaftlichen Abstand zu den erfolgreicheren
Ländern vergrößern könnten.
Unter diesen Umständen konnte sich das Interesse der wirtschafts- und
finanzstarken Länder an größeren Handlungsspielräumen für eine autonome
Landespolitik nur noch auf die Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen[22] richten.
Hier gelang es ihnen zunächst auch, die Zustimmung aller Ministerpräsidenten zu
einem gemeinsamen "Positionspapier" zu gewinnen, in dem die Übertragung
zahlreicher Materien (oder hilfsweise die Einräumung von Zugriffsrechten der
Landtage) gefordert wurde. Zu dieser Liste gehörten – neben der vom Bund nicht
bestrittenen Zuständigkeit für die Rechtsverhältnisse des öffentlichen Dienstes
in den Ländern und neben der vom Bund nie konzedierten ausschließlichen
Zuständigkeit für das Bildungswesen "von der Kinderkrippe bis zur Habilitation"
– so wichtige Gestaltungsaufgaben wie die regionale Wirtschafts- und
Arbeitsmarktpolitik oder das Recht der öffentlichen Fürsorge. Von dieser Liste
war freilich am Ende der Verhandlungen wenig übrig geblieben, was die
Forderungen der leistungsstarken Länder hätte befriedigen können. Nach der
Reaktion der Bundesregierung auf die Implikationen des Juniorprofessur-Urteils
hatte sich zwar die Zahl der zur Übertragung auf die Länder angebotenen
Kompetenzbereiche erhöht, nicht aber deren Bedeutung. Im wesentlichen ging es
dabei um eng definierte Teilbereiche aus einem größeren Zusammenhang – so etwa
das Heimrecht aus dem Zusammenhang der öffentlichen Fürsorge, das Recht des
Ladenschlusses, der Gaststätten und der Spielhallen aus dem Wirtschaftsrecht
oder den Sport- und Freizeitlärm aus dem Zusammenhang der Lärmbekämpfung. Aus
der Sicht der leistungsstarken Länder waren dies "Quisquilien", ausgewählt nach
der Maxime "das Wichtige für den Bund, den Kleinkram für die Länder", mit denen
sich politisch oder wirtschaftlich bedeutsame Gestaltungsspielräume nicht
gewinnen ließen. Wenn das alles war, und wenn der Bund auch seine
Restkompetenzen im Bildungswesen nicht aufgeben wollte, dann lohnte sich die
ganze Reform nicht mehr. "Dafür waren wir nicht angetreten!" (Interview
31.1.2005)
6 Aporien des Trennprinzips
Dies war gewiß auch eine emotionale Reaktion, die bei ruhigerer Überlegung die
Rückkehr an den Verhandlungstisch nicht verhindert hätte. In der Tat haben die
Vorsitzenden der vor Weihnachten gescheiterten Kommission nach Ostern ihre
Gespräche wieder aufgenommen und sie sollen dabei, wie man hört, einer Einigung
"bis auf Millimeter" nahe gekommen sein. Ohne die Nordrhein-Westfalen-Wahl wären
die Ergebnisse wohl auch in der laufenden Legislaturperiode noch umgesetzt
worden.
Jedoch wäre dies nur eine kleine Reform gewesen, die weder die
Autonomieinteressen der leistungsfähigen Länder befriedigen noch die Blockade
bundespolitischer Entscheidungen hätte vermeiden können. Aber weshalb hatten die
Beratungen in der Kommission und die anschließenden Verhandlungen zu diesem in
der Tat unbefriedigenden Ergebnis (Hesse 2005) geführt? Vordergründige Ursachen
waren gewiß der Widerstand der Bundesministerien gegen noch weiterreichende
Kompetenzverzichte und die Angst der leistungsschwachen Länder vor den Risiken
des Wettbewerbsföderalismus. Die dahinter liegende Ursache war jedoch ein
falsches Reformkonzept, das eben diese Reaktionen provozieren mußte.
Die Beratungen in der Kommission und auch die Stellungnahmen der
Ministerpräsidenten und der Bundesregierung waren von einer einfachen Maxime
geleitet: Wenn die Politikverflechtung das Problem war, dann mußte Entflechtung
die Lösung sein – und die Entflechtung mußte durch eine klare Trennung der
Zuständigkeiten von Bund und Ländern erreicht werden. Aber diese Fixierung auf
das "Trennprinzip" war unrealistisch, weil sie die Ursachen nicht
berücksichtigte, die in den vergangenen Jahrzehnten die Verflechtung
hervorgebracht hatten, und die auch heute noch weiter wirksam sind. Die beiden
wichtigsten dieser Ursachen sind der Mehrebenencharakter der meisten wichtigen
Politikfelder und die ungleichen Probleme, Kapazitäten und Interessen der
Länder. Die erste erklärt den Widerstand der Bundesressorts, die zweite die
Bedenken der kleinen und finanzschwachen Länder gegen die Übertragung großer
Kompetenzbereiche auf die Länder. Ich will hier zunächst nur auf das
Mehrebenenproblem eingehen:
In jeder vertikal differenzierten Entscheidungsorganisation muß die Zuordnung
der Kompetenzen auf die unterschiedlichen Ebenen geregelt werden. Die (ältere)
ökonomische Theorie des Föderalismus hatte, von einer normativen Präferenz für
bürgernahe Entscheidungen und dezentrale Kompetenzen ausgehend, unter dem
Stichwort des fiscal federalism (Oates 1972, 1977) funktionale Kriterien
formuliert, die dennoch für die Zuordnung zu einer höheren Ebene mit
umfassenderer Zuständigkeit sprechen. Zu diesen gehören die möglichen negativen
externen Effekte lokaler Entscheidungen, die möglichen Mobilitätshindernisse für
Bürger und Unternehmen, der Ressourcenbedarf öffentlicher Infrastruktur und
schließlich Umverteilungsziele, die nur innerhalb des Gesamtstaates erreicht
werden können. Der reale Staatsaufbau reflektiert jedoch nicht nur diese
funktionalistischen Kriterien, sondern auch kulturell geprägte normative
Präferenzen – so etwa die französische Hochschätzung nationaler Einheit und
Einheitlichkeit, die schweizerische Toleranz für regionale und lokale
Unterschiede oder die belgische Fixierung auf die kollektive Identität der
Sprachgemeinschaften.
Unter der funktionalen Perspektive kann man heute
in jedem einigermaßen wichtigen Politikfeld – sei es die
Wirtschaftspolitik, die Arbeitsmarktpolitik, die Sozialpolitik, die
Umweltpolitik, die Bildungspolitik,[23] die Forschungspolitik
oder die Sicherheitspolitik – feststellen, daß manche Aspekte nur noch auf der
europäischen Ebene geregelt werden können, während andere national und wieder
andere regional oder sogar lokal unterschiedliche Lösungen erlauben oder sogar
erfordern. Fordert man also eine "klare Trennung" der Kompetenzen, dann kommt
man unter den Bedingungen einer zunehmenden Mobilität der Bürger und Unternehmen
und der zunehmenden Interdependenz der Problemlagen fast unvermeidlich zu einer
immer weitergehenden Zentralisierung öffentlicher Aufgaben auf der jeweils
höheren – nationalen oder europäischen – Ebene. Dagegen kann unter den
kulturell-normativen Kriterien sowohl eine funktional unnötige
Überzentralisierung als auch die ökonomisch ineffiziente oder schädliche
Verteidigung lokaler und regionaler Kompetenzen legitimiert werden.
Das deutsche Verfassungsrecht behilft sich hier mit einer doppelten, teils der
normativ-kulturellen, teils der funktionalistischen Logik verpflichteten Lösung.
Der ersten entspricht die Unterstellung, daß der Verfassungsgeber (faktisch also
die Landesregierungen des Jahres 1949) bestimmte Aufgaben kategorisch – also
ohne Rücksicht auf funktionale Erfordernisse – den Ländern vorbehalten habe.[24]
Dies gilt etwa für den Bereich einer der von den Ländern sehr umfassend
definierten "Kulturpolitik" einschließlich der Bildungs-, Forschungs- und
Medienpolitik. Wenn trotzdem die funktionalen Koordinationserfordernisse
unabweisbar werden oder die regionale Finanzkraft nicht ausreicht, so das
Bundesverfassungsgericht in dem oben zitierten "Fernsehurteil" (BVerfGE 12, 205,
251-252 [1960]), dann muß eben die horizontale Selbstkoordination zwischen den
Ländern und die gemeinsame Finanzierung durch die "Ländergesamtheit"
– also die lähmendste Form der Politikverflechtung – die Funktionslücke füllen.
In dem viel breiteren Zwischenbereich der konkurrierenden und der
Rahmengesetzgebung gilt dagegen die funktionale Logik der
"Erforderlichkeitsklausel" des Art. 72 Abs. 2 GG (der auf der europäischen Ebene
das Subsidiaritätsprinzip entspricht). Sie geht aus von einer
Generalzuständigkeit der Länder und begrenzt den Bund auf Teilbereiche, für die
die funktionale Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung dargetan
werden kann. Der Intention nach berücksichtigt diese Lösung also die
Mehrebenenproblematik. Allerdings kann diese Lösung weder aus der Sicht des
Bundes noch aus der der gestaltungswilligen Länder befriedigen.
Solange das Gericht die Interpretation der Klausel als Frage des
gesetzgeberischen Ermessens hatte behandeln können, war die vorhersehbare Folge
die oben beschriebene immer weitergehende Unitarisierung. Wenn aber jetzt der
Gesetzgeber sich an den Kriterien des Juniorprofessur-Urteils orientieren
sollte, so müßte er aus der zu regelnden Materie jeweils die Teilaspekte
aussparen, für die die Schädlichkeit unterschiedlichen Landesrechts nicht
begründet werden kann. Mit anderen Worten, der Bundesgesetzgeber muß
antizipieren, was die einzelnen Landtage in den ausgesparten Regelungsbereichen
unternehmen könnten, um auf dieser Grundlage die wahrscheinlichen Wirkungen
unterschiedlicher Regelungen abzuschätzen und die Bereiche, in denen er keine
Probleme erwartet, von der bundesgesetzlichen Regelung auszusparen. Daß bei
einer solchen antizipierenden Beurteilung die Bedenken überwiegen werden, steht
zu erwarten. Deshalb kann man damit rechnen, daß auch in Zukunft die vom
Bundesgesetzgeber ausgesparten Regelungslücken recht eng umschrieben sein
werden. Sie können nun zwar von Fall zu Fall vom Bundesverfassungsgericht
erweitert werden,[25] aber sie bleiben Lückenkompetenzen, deren Reichweite und
Verfügbarkeit von Entscheidungen des Bundesgesetzgebers oder des
Bundesverfassungsgerichts und nicht von landespolitischen Initiativen abhängt.
Kurz, für Länder, die autonome politische Gestaltungsmöglichkeiten anstrebenden,
können auch der neugefaßte Art. 72 Abs. 2 GG und die neuere Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts[26] keine attraktive Perspektive eröffnen.
Wenn aber statt der auf die Mehrebenenproblematik reagierenden Beschränkung des
Bundesgesetzgebers durch die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG die
eindeutige und endgültige Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen nach dem
"Trennprinzip" gefordert wird, so treten die gleichen Probleme in noch
verschärftem Maße auf: Nun müßte der Verfassungsgesetzgeber oder die
Föderalismuskommission die künftig möglichen Problemlagen und die
wahrscheinlichen Inhalte und Wirkungen möglicher Landesgesetze abschätzen und
bewerten, wenn sie mit guten Gründen die dauerhafte Übertragung der
Vollkompetenz auf die Länder für unschädlich erklären sollen. Auch wenn man hier
die institutionellen Eigeninteressen der Bundesressorts und der
Interessenverbände ignoriert, wird allein die große Unsicherheit aller Prognosen
ein sehr vorsichtiges Vorgehen nahelegen – mit der Folge, daß der am
Trennprinzip orientierte Verfassungsgesetzgeber den Ländern ebenfalls nur sehr
eng umschriebene, aus Bundessicht ganz ungefährliche Gesetzgebungskompetenzen
zuweisen wird.
Hinzu kommt das zweite Grundproblem des deutschen Föderalismus
– die wachsende
Spannung zwischen dem in der Verfassung und der politischen Kultur verankerten
Anspruch auf einheitliche oder zumindest gleichwertige Lebensverhältnisse im
Bundesgebiet und der realen Ungleichheit zwischen den großen und wirtschaftlich
leistungsfähigen und den kleinen und/oder wirtschaftsschwachen deutschen
Ländern. Auf der einen Seite steht Nordrhein-Westfalen, das mit mehr als 18
Millionen Einwohnern der sechstgrößte Mitgliedstaat der Europäischen Union sein
könnte, während Bremen mit weniger als 700 000 und das Saarland mit einer
Million Einwohnern so klein und arm sind, daß sie selbst zur Unterhaltung ihrer
Regierungen und Parlamente eines besonderen Bundeszuschusses zu den "Kosten der
politischen Führung" brauchen. Zugleich beläuft sich das
Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in Thüringen nur auf knapp 63 Prozent der
Wirtschaftskraft Hessens (und auf nur 54 Prozent im Vergleich zum reichen
Stadtstaat Hamburg). Auch wenn man also von den soeben diskutierten
Mehrebenenproblemen absehen könnte, müßte eine Kompetenztrennung zwischen Bund
und Ländern, die für Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen
funktional angemessen wäre, zu einer Verfassung führen, die der Lage der
ostdeutschen und der kleinen und finanzschwachen westdeutschen Länder keineswegs
gerecht würde.
Die schwachen Länder haben also gute Gründe für ihre skeptische oder ablehnende
Reaktion auf Kompetenzforderungen, die ihre Kapazität überfordern. Hinzu kommt
ihre in manchen Fällen übertriebene (weil über-generalisierte)[27] Angst vor einem
innerdeutschen Standortwettbewerb, der ihren Rückstand gegenüber den
wirtschaftsstarken Ländern noch vergrößern könnte. Dieser Interessenlage
entsprachen die vor der Einsetzung der Föderalismuskommission fixierten
Diskussionsverbote. Dagegen war die einvernehmliche Präsentation weitgehender
Kompetenzforderungen im Positionspapier der Ministerpräsidenten vom 7. Mai 2004
das Ergebnis von Kompromissen, mit denen eine gemeinsame Front gegen den Bund
aufgebaut wurde – die aber schon unter den Argumenten der Bundesressorts in den
Projektgruppen wieder bröckelte. Den schwachen Ländern gingen dann in der
Verhandlungsphase sogar die Kompetenzangebote des Bundes zu weit, und als dieser
die geforderte finanzielle Kompensation nicht auf alle Zeiten garantieren
wollte, rückte man auch von der Forderung nach Abschaffung der
Gemeinschaftsaufgaben ab. Kurz, das Interesse der schwachen Länder an der
Föderalismusreform war in erster Linie defensiver Art. Es ging darum, drohende
Verschlechterungen des Status Quo zu verhindern, und wenn die beinahe
vereinbarte Reform denn am Dissens über die Kompetenzen in Bildungspolitik
scheitern sollte, dann hatte man wenig Grund, ihr nachzutrauern.[28]
7 Optionen des asymmetrischen Föderalismus
Man kann die soeben diskutierten Gesichtspunkte in folgendem Schema auf den
Punkt bringen: Die Föderalismusreform versuchte vier Kriterien zu erfüllen, von
denen aber jeweils nur drei gleichzeitig erfüllbar sind:
– die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den Ländern;
– die garantierte Existenz ungleicher Länder;
– einheitliche Bund-Länder-Beziehungen;
– autonome Handlungsspielräume der Länder.
In Bundesstaaten wie der Schweiz und den Vereinigten Staaten spielt das erste
dieser Kriterien allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle. Deshalb hat auch der
kleinste schweizerische Kanton mehr politischen Handlungsspielraum als das Land
Nordrhein-Westfalen und niemand käme in der Schweiz oder auch in den Vereinigten
Staaten auf die Idee, über eine territoriale Neugliederung zum Zwecke einer
Angleichung der Gliedstaaten auch nur nachzudenken. Bei uns dagegen hat der
Anspruch auf gleichwertige Lebensverhältnisse Verfassungsrang und zugleich wird
auch die lange Zeit angestrebte Länderneugliederung heute politisch
ausgeschlossen. Wenn man diese beiden Festlegungen als Restriktion behandelt,
dann kann eine Föderalismusreform nur noch entweder das dritte oder das vierte
Kriterium (aber nicht beide zusammen) erfüllen.
Wählt man die Einheitlichkeit der Bund-Länder-Beziehungen, dann war Autonomie
der Landespolitik nur auf dem für die kleinen und wirtschaftsschwachen Länder
akzeptablen Niveau zu erreichen. Mit anderen Worten: Der von Müntefering und
Stoiber zur Übertragung an die Länder vorgesehene Kompetenzkatalog war
vermutlich das beste, was unter der Maxime des Trennprinzips erreicht werden
konnte. Will man statt dessen die autonomen Handlungsspielräume der
Landespolitik wesentlich erweitern, dann muß man asymmetrische
Bund-Länder-Beziehungen in Kauf nehmen (Agranoff 1999). Eine Option, die dies
erlaubt hätte, hat in der Tat auch in den Beratungen der Kommission eine Rolle
gespielt.
7.1 Abweichungsrechte
Das Positionspapier der Ministerpräsidenten vom 7. Mai 2004 hatte in zahlreichen
Fällen statt der in erster Linie geforderten Übertragung von
Gesetzgebungskompetenzen als zweitbeste Lösung ein "Zugriffsrecht" der Landtage
vorgeschlagen. Die Idee geht zurück auf ein Sondervotum des Hamburger Senators
Dr. Heinsen, der 1976 im Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform
einen neuen Art. 72a GG vorgeschlagen hatte:
Abweichend von Art. 72 Abs. 1 können die Länder im Bereiche der konkurrierenden
Gesetzgebung eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesgesetz ersetzen oder
ergänzen, wenn nicht der Bundestag innerhalb von drei Monaten nach Zuleitung
Einspruch erhebt. (Enquete-Kommission, 76)
Heinsen war es damals in erster Linie darum gegangen, die
"Sperrwirkung" des
vorhandenen Bundesrechts zu lockern und die experimentierende Suche nach
besseren Lösungen in den einzelnen Ländern zu ermöglichen – ein Problem, das
sich inzwischen noch verschärft hat, weil die Verfassungsreform von 1994 durch
die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 zwar die Zulässigkeit bundesgesetzlicher
Regelungen eingeschränkt, aber die Weitergeltung des alten Rechts durch Art. 125
Abs. 2 GG geradezu zementiert hat.
In der Kommission wurde eine Variante des Vorschlags für den Sonderfall des Art.
84 GG genutzt: Wenn der Bundesgesetzgeber ausnahmsweise doch das
Verwaltungsverfahren glaubte regeln zu müssen, so konnten die Länder von diesen
Regeln abweichen – und nur falls solche Abweichungen ausgeschlossen werden
sollten, bedurfte das Gesetz der Zustimmung des Bundesrats. Einer generellen
Übernahme dieser Lösung für den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung stand
jedoch die Dominanz des "Trennprinzips" entgegen. Nicht nur die Bundesregierung,
sondern auch die Länder wollten über Zugriffsrechte erst dann verhandeln, wenn
der Versuch einer klaren Trennung der Kompetenzen erfolglos blieb.
Im Idealfall sollte also der gegenwärtige Bestand der Rahmengesetzgebung und der
konkurrierenden Gesetzgebung neu aufgeteilt und entweder der ausschließlichen
Gesetzgebung des Bundes oder der ausschließlichen Gesetzgebung der Länder
zugewiesen werden.[29] Da sich aber schon im Sommer abzeichnete, daß dieses Ideal
kaum zu erreichen war, wurde eine Projektgruppe beauftragt, für einen
hoffentlich kleinen Restbestand der konkurrierenden Gesetzgebung die Möglichkeit
von Zugriffs- oder Abweichungsrechten der Länder zu prüfen. Die Projektgruppe
war jedoch nicht in der Lage, bis zum Herbst einen konsensualen Vorschlag
vorzulegen, und in den abschließenden Konsultationen der Vorsitzenden konnten
neue Lösungen nicht mehr entwickelt werden.
7.2 Optionen und Bedenken
Der Hauptgrund für den Dissens in der Projektgruppe war die Forderung der Länder
nach einem "unkonditionierten" und absoluten Abweichungsrecht. Das Landesgesetz
sollte das Bundesrecht ohne sachliche Beschränkung und dauerhaft verdrängen
können (PAU-1/003; PAU-1/0013). Dafür war die Zustimmung der Bundesseite nicht
zu gewinnen. Umgekehrt hatte der Vorschlag eines Bundestagsabgeordneten, der das
Abweichungsrecht als bundesgesetzliche "Öffnungsklausel" gestalten wollte, bei
den Ländern keine Chance (PAU-1/018). Dagegen fand die von den Abgeordneten
Stünker (SPD) und Röttgen (CDU) vorgeschlagene Lösung (PAU-1/017), die das
Zugriffsrecht der Länder mit einer für Bund und Länder gleichermaßen geltenden
Lex-posterior-Regelung koppeln wollte, nicht nur die Zustimmung anderer
Abgeordneter, sondern stieß auch bei einigen Ländern zumindest auf
Diskussionsbereitschaft.
Dagegen lehnten die meisten juristischen Sachverständigen und die
Bundesjustizministerin Zugriffs- oder Abweichungsrechte der Länder grundsätzlich
ab (Protokollvermerk 7. Sitzung der Arbeitsgruppe 1 v. 30.9.2004; AU 0083; AU
0086; AU 0087). Maßgeblich waren hier in erster Linie verfassungssystematische
Bedenken und die zu erwartende Unübersichtlichkeit der Rechtsordnung, wenn man
erst sechzehn Landesrechte konsultieren müsse, um festzustellen, wo denn eine
bundesgesetzliche Regelung tatsächlich gelte (AU 0086, S. 3). Hinzu kam die
Befürchtung, die Lex-posterior-Regelung des Stünker/Röttgen-Vorschlags könnte
ein die Rechtssicherheit gefährdendes "Pingpong" zwischen Bundesgesetz,
abweichendem Landesgesetz, korrigierendem Bundesgesetz und weiterer Abweichung
zur Folge haben.
Dies war gewiß nicht die einzige Schwäche des Vorschlags. Gravierender erscheint
mir, daß er sich auf die Forderung der Länder nach einem "unkonditionierten"
Abweichungsrecht eingelassen hatte und deshalb – wie in der Diskussion deutlich
wurde – diese Lösung nur für wenige und eng definierte Kompetenzbereiche in
Betracht ziehen wollte. Damit aber hätte das Interesse der leistungsstarken
Länder an erweiterten Möglichkeiten der politischen Gestaltung auf Landesebene
gerade nicht befriedigt werden können. Solche weitreichenden Gestaltungschancen
waren, wenn überhaupt, nur durch "konditionierte" Abweichungsrechte zu gewinnen,
die die Möglichkeit einer Überprüfung unter gesamtstaatlichen Kriterien
vorsahen.
Dafür gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten:
– die schon von Heinsen vorgeschlagene
"politische" Konditionierung, die die
Ausübung des Zugriffsrechts einem Widerspruchsrecht des Bundestages (oder
besser, einen gemeinsamen Widerspruchsrecht von Bundestag und Bundesrat)
unterwirft, oder
– eine
"rechtliche" Konditionierung, die die Ausübung des Zugriffsrechts
sachlich beschränkt durch eine "umgekehrte Bedürfnisklausel" (oder besser: eine
"Gemeinverträglichkeitsklausel"). Abweichende Regelungen wären demnach zulässig,
soweit dadurch weder die Interessen anderer Länder noch gesamtstaatliche
Erfordernisse verletzt würden. Über Interpretation und Anwendung dieser
unbestimmten Rechtsbegriffe hätte das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden.
Die erste dieser Lösungen war in der Projektgruppe auf die anfängliche
Ablehnung der Länder gestoßen, und die zweite wurde dort offenbar gar nicht
diskutiert.[30] Auf jeden Fall gab es während der kurzen Konsultationsphase vor dem
schließlichen Scheitern der Kommissionsarbeit keine Gelegenheit mehr für
konstruktive Beratungen über die eine oder andere Variante eines konditionierten
Zugriffsrechts. Aus meiner, auch in der Kommission vertretenen Sicht, lag hier
jedoch die einzige, oder jedenfalls die beste Chance für eine Lösung, die den
Handlungsspielraum der leistungsstarken und politisch ambitionierten Länder
erweitern könnte, ohne zugleich die Ängste der kleinen und finanzschwachen
Länder zu aktivieren (Kommissionsdrucksachen 007, 9-10; 71 -neu-a; 80).
7.3 Vorteile konditionierter Abweichungsrechte
Im Vergleich zu dem Versuch, eine strikte Trennung von Bundes- und
Landeskompetenzen zu erreichen, anerkennen Zugriffsrechte die Realität der
Mehrebenenproblematik und damit die Möglichkeit, daß in ein und demselben
Politikfeld zentralstaatliche und gliedstaatliche Regelungen aus jeweils guten
Gründen nebeneinander stehen sollten. Dies gilt, wie schon gesagt, auch für die
bisherige Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG. Aber im Vergleich zu
dieser würde hier der Bund nicht zu einer lückenhaften Gesetzgebung gezwungen,
sondern könnte eine gegebene Materie im Zusammenhang, systematisch und ohne
Beschränkung durch eine Erforderlichkeitsklausel[31] regeln.
Noch größer wären aber die Vorteile für die an politischen Gestaltungschancen
interessierten Länder. Während sie im geltenden Recht für die Beseitigung der
Sperrwirkung des geltenden Bundesrechts entweder auf den Bundesgesetzgeber
selbst (Art. 72 Abs. 3 GG) oder auf das Bundesverfassungsgericht[32] angewiesen
sind, läge nun das Recht der politischen Initiative sofort und jederzeit bei
ihnen selbst. Freilich unterläge diese Initiative einer entweder politischen
oder rechtlichen Überprüfung durch gesamtstaatliche Instanzen. Die von einigen
Ländern als Symbol ihrer "Staatlichkeit" angestrebte volle Souveränität im
jeweiligen Politikfeld läßt sich so in der Tat nicht erreichen.
Aber bei pragmatischer Betrachtung unterschiede sich diese Überprüfung in höchst
vorteilhafter Weise von der Prüfung, die der Verfassungsgeber anstellen muß,
wenn es darum geht, eine Kompetenz ganz und dauerhaft auf die Länder zu
übertragen oder ein unkonditioniertes Zugriffsrecht zuzulassen. In beiden Fällen
muß die Entscheidung auf spekulative Hypothesen über die möglichen Inhalte und
Folgen einer künftigen Landespolitik gestützt werden – und in der Diskussion
darüber gewinnen, das hat sich auch in den Beratungen der Kommission immer
wieder gezeigt, Worst-case-Szenarien und exempla ad horrendum fast
unvermeidlicherweise ein rhetorisches Übergewicht. Schließlich will ja niemand
leichtfertig mit der Verfassung umgehen. Auch deshalb waren die
Kompetenzforderungen der Länder in der Kommission so wenig erfolgreich.
Ganz anders ist die Situation, wenn ein Land von
seinem Abweichungsrecht Gebrauch gemacht hat. Hier geht es um konkrete
Regelungen, mit denen ein Landtag aus gegebenem Anlaß und nach
politischer Diskussion von vorgegebenen Regeln des Bundesrechts
abweichen will. Dabei wird man unterstellen können, daß dieser Landtag
in Antizipation der Überprüfung gute Gründe für sein Vorhaben anführen
kann und schon von sich aus sowohl für die Kompatibilität der neuen
Regeln mit denen des fortgeltenden Bundesrechts als auch für deren
Verträglichkeit mit den Interessen anderer Länder gesorgt hat. Wenn
diese Bedingungen erfüllt sind, wird es im Falle einer rechtlichen
Überprüfung dem Verfassungsgericht, und im Falle der politischen
Überprüfung dem Bundestag und erst recht dem Bundesrat schwerfallen,
dem Landesgesetz die Geltung zu versagen. Kurz, das konditionierte
Abweichungsrecht befreit die Kompetenzdiskussion von der Dominanz
abstrakt-spekulativer Bedenken und es motiviert zugleich zur Suche nach
gemeinverträglichen – und damit auch aus gesamtstaatlicher Sicht
akzeptablen – Mitteln zur Verwirklichung landespolitischer Ziele.
Noch schwerer wiegt ein Vorzug, der in der Kommission von den juristischen
Sachverständigen und der Bundesjustizministerin gerade als stärkster Einwand
gegen Zugriffsrechte bewertet wurde: Am Ende wird nicht in allen Ländern
dasselbe Gesetz gelten. Gewiß wird auch der Bundesgesetzgeber in Antizipation
der Abweichungsmöglichkeiten nach Regelungen suchen, die für alle Länder
akzeptabel sein sollten. Aber wenn das nicht gelingt, dann würde er gut daran
tun, das Bundesgesetz an der Lage der aus eigener Kraft weniger handlungsfähigen
Länder zu orientieren. Diese könnten es dann, da das von den Restriktionen des
Art. 72 Abs. 2 GG befreite Bundesgesetz die jeweilige Materie vollständig regeln
kann, dabei bewenden lassen, während die leistungsstarken und politisch
selbstbewußten Länder das Bundesrecht ergänzen oder ersetzen könnten. Das
Ergebnis wäre eine asymmetrische Rechtsstruktur, in der das Bundesrecht in
einigen Ländern eine niedrigere Regelungstiefe aufweist als im übrigen
Bundesgebiet. Genau dies wäre aber eine wünschenswerte Entwicklung, die der
asymmetrischen Problemstruktur und der asymmetrischen Leistungsfähigkeit der
deutschen Länder entspräche. Im Vergleich zu diesem Vorteil müßten die Nachteile
für die Rechtswissenschaft und die juristische Ausbildung (in der das
Landesrecht nie eine besondere Rolle gespielt hat) wohl ebenso in Kauf genommen
werden wie die verfassungsästhetische Irritation und dogmatische Anomalie[33] eines
nur partiell geltenden Bundesrechts.
8 Recht und Politik im Spiegel der Föderalismusreform: Vier Thesen
Hier ist nicht der Platz für einen vertiefenden Beitrag zum Stand der
politikwissenschaftlichen Reflexion über das Verhältnis von Verfassungsrecht und
Verfassungspolitik oder von Verfassungsgerichten und politischen Instanzen
(Landfried 1984; Alter 2001; Stone Sweet 2004). Statt dessen will ich hier
lediglich einige der in der bisherigen Darstellung enthaltenen Aspekte in vier
Thesen zusammenfassen.
1. Die (deutsche) Staatspraxis wird in besonders hohem Maße durch die
Anerkennung verfassungsrechtlicher Normen und die Antizipation
verfassungsgerichtlicher Interventionen beschränkt. Im Vergleich zu Ländern ohne
(oder mit einer weniger interventionsfreudigen) Verfassungsgerichtsbarkeit haben
deshalb verfassungsrechtliche Argumente einen ungewöhnlich starken Einfluß im
politischen Prozeß. Dies gilt auch im Prozeß der Verfassungsreform, weil ja
jeder Änderungsvorschlag auf ein Umfeld anderer Verfassungsnormen trifft, die
nicht zur selben Zeit zur Disposition stehen.
2. Das von der Verfassungsgerichtsbarkeit in Anspruch genommene Monopol
legitimer Verfassungsinterpretation hat Wirkungen auf die Machtverteilung im
politischen Prozeß: Für die vom Gericht entschiedene Sachfrage wird jede
Gruppierung, die entweder im Bundestag oder im Bundesrat über ein Drittel der
Stimmen verfügt, mit Vetomacht ausgestattet. Die Verfassungsrechtsprechung
verstärkt also die Blockadetendenzen der Politikverflechtung.
3. Verfassungsrechtliche Diskurse können im Prinzip nur Normen aus Normen
ableiten. Ihnen fehlen die theoretischen und methodischen Instrumente für eine
Realanalyse der regelungsbedürftigen gesellschaftlichen Probleme oder der
Anreizwirkung verfassungsrechtlicher Entscheidungen auf das Verhalten der
politischen Akteure.
4. Mangels eigenständiger Erkenntnisgrundlagen sind verfassungsrechtliche
Diskurse bei der Beurteilung nicht eindeutig vorentschiedener Fragen auf den
Zeitgeist angewiesen. Die daraus gewonnenen Entscheidungsprämissen werden jedoch
durch die deduktive Logik juristischer Diskurse generalisiert und durch die
Machteffekte des Verfassungsurteils gegen Änderungsversuche geschützt. Im
Prinzip verstärkt und perpetuiert deshalb das Verfassungsrecht einen einmal
aufgenommenen Trend.
So hat die frühe Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2
GG die flächendeckende Unitarisierung der Gesetzgebung erst möglich
gemacht. Sobald aber mit der (dem Zeitgeist verpflichteten)
Finanzverfassungsreform von 1969 die Wende von der Zentralisierung zum
kooperativen Föderalismus vollzogen war, hat das Gericht mit den
Urteilen zur "Einheitstheorie" bei Art. 84 GG und zur Einstimmigkeit
bei Vereinbarungen über die Finanzhilfen die Konsenszwänge und mit
seinen Urteilen zum Finanzausgleich die Solidaritätsanforderungen
maximiert. Nachdem aber die Kritik an der deutschen Politikverflechtung
immer lauter und auch von der Verfassungsreform von 1994 wenigstens
ansatzweise aufgenommen wurde, war auch das Gericht zu einer neuen
Trendwende bereit. Es beschränkte die Anwendung der "Einheitstheorie"
bei Art. 84 GG und eröffnete so dem Bundesgesetzgeber einen Weg zur
Umgehung des Bundesratsvetos, und es nutzte die Verfassungsänderung von
1994 zu einer radikalen und nun wiederum trendverstärkenden
Neuinterpretation der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG.
In jeder dieser Phasen kann man die endogene Entwicklung des Verfassungsrechts
als prinzipienorientiert, aber eben deshalb auch problemblind charakterisieren.
Ähnliches gilt mit wenigen Ausnahmen auch für die dogmatischen und
verfassungssystematischen Argumente in der Kommission. In diesem Bezugsrahmen
waren Analysen und Vorschläge, die die perversen Anreize der bestehenden
Verfassung hätten überwinden können, kaum zu erwarten. Die im engeren Sinne
politischen Akteure dagegen, insbesondere die Vertreter der Bundesregierung und
die Landesregierungen, verfolgten ihre jeweiligen institutionellen
Eigeninteressen unter den Restriktionen des vom Gericht interpretierten
verfassungsrechtlichen Status Quo und der ihnen dadurch zufallenden
Verhandlungsmacht. Problemorientierte und am Gesamtinteresse orientierte
Beiträge kamen allenfalls von den Bundestagsabgeordneten beider Lager, aber
diese allein hatten nicht die Kraft, die doppelte Beschränktheit
status-quo-orientierter verfassungsrechtlicher Diskurse und partikulärer
politisch-institutioneller Interessen zu überwinden. So endete der Versuch, die
Politikverflechtungsfalle unter den durch das Erfordernis von
Zweidrittelmehrheiten in beiden Kammern verschärften Bedingungen der
Politikverflechtung aufzubrechen, doch wieder im Status Quo.
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Endnoten
1
Die Kritik teilt viele Prämissen mit der Polemik gegen die Konsenszwänge und
Veränderungswiderstände des korporatistischen "deutschen Modells" oder des "rheinischen Kapitalismus".
2
Bis Ende 1976 war dies schon 12mal geschehen (Enquete-Kommission 1976, 54).
3
Van Ooyen (2005); Scharpf (1970). Die Rechtsprechung zur Bedürfnisklausel war
eine der ganz seltenen Parallelen zur Political-question-Rechtsprechung der US
Supreme Court (Scharpf 1965).
4
In dieselbe Richtung einer Verstärkung des kooperativen und solidarischen
Föderalismus zielten auch die zahlreichen Urteile zum föderalen Finanzausgleich,
auf die ich hier nicht näher eingehen kann (Renzsch 1989, 1991).
5
Ein Hinweis auf die beginnende Skepsis gegenüber der Tendenz zur weiteren
Unitarisierung und Verflechtung waren auch die Vorschläge zu einer inhaltlichen
Verschärfung und verfassungsgerichtlichen Kontrolle der "Bedürfnisklausel" des
Art. 72 Abs. 2 GG (Enquete-Kommission 1976, 63-66), die jedoch damals vom
Verfassungsgesetzgeber nicht aufgegriffen wurden.
6
Der kurzlebige Versuch der SPD und der FDP in den fünfziger Jahren durch
Koalitionswechsel in den Ländern die Westverträge Adenauers zu blockieren blieb
noch ohne dauerhaften Einfluß auf die Verfassungspraxis.
7
Sie ist von der älteren ("finanzwissenschaftlichen") Theorie des Föderalismus
zu unterscheiden, der es um die optimale Zuordnung der Staatsfunktionen auf die
einzelnen Ebenen territorial gegliederter Gemeinwesen gegangen war (Oates 1977).
Während diese den staatlichen Akteuren im Prinzip eine (durch die
Kompetenzordnung definierte und begrenzte) Gemeinwohlorientierung unterstellte,
geht jene von deren ausschließlicher Orientierung am eigenen Nutzen aus, die nur
durch institutionalisierte Konkurrenz in Schach gehalten werden könnte (Sinn
1992).
8
BVerfGE 101, 158 (1999). Das Urteil erklärte allerdings die damals geltenden
Regeln für den Finanzausgleich mangels klar definierter Maßstäbe für dringend
reformbedürftig.
9
Zusätzlich gehörten der Kommission als Mitglieder ohne Stimmrecht einige
Vertreter der Landtage und der kommunalen Spitzenverbände sowie zwölf
Sachverständige an (darunter acht Juristen, zwei Ökonomen und zwei
Politikwissenschaftler).
10
Die Arbeit der Kommission wurde jetzt in einer vollständigen Dokumentation,
ergänzt durch eine umfassende Materialsammlung auf CD, verfügbar gemacht
(Bundestag/Bundesrat 2005). Auf diese beziehen sich die nachfolgenden Verweise
auf Kommissionsdrucksachen, Arbeitsunterlagen (AU und PAU) und
Protokollvermerke. Einen guten Überblick über die Aufgaben, das Verfahren und
die Ergebnisse der Kommission bietet auch Schubert (2005).
11
Von seiten der Bundesregierung und der juristischen Sachverständigen wurde
dafür auf den in manchen Fällen sehr engen Zusammenhang zwischen dem
(materiellen) Gesetzeszweck und dem beim Vollzug anzuwendenden Verfahren
hingewiesen.
12
Durch die Konzession eines neuen Zustimmungsrechts bei Bundesgesetzen mit
erheblichen Kostenfolgen für die Länder verschlechterte sich die Position des
Bundes sogar, denn dieses Zustimmungsrecht hätte eine formale Trennung von der
materiellen Regelung nicht mehr zugelassen.
Trotzdem präsentierten die Ministerpräsidenten die erreichte Einigung in
diesen Punkten als eine weitreichende Konzession der Länder, die der Bund nicht
in ausreichendem Maße durch den Verzicht auf substantiell bedeutsame
Gesetzgebungskompetenzen honoriert habe. Vgl. die Erklärung von
Ministerpräsident Stoiber anläßlich des Scheiterns der Kommissionsarbeit am
17.12.2004 (Kommissionsprotokoll 11. Sitzung).
13
Die Asymmetrie dieser Diskussionen illustriert die Bemerkung eines hohen
Beamten der Länderseite: "Wir haben kompetenzrechtlich argumentiert, aber man
hat uns zweistündige Vorträge über Kinderbetreuung gehalten" (Interview
31.1.2005).
14
Sitzungsprotokolle der 9. Sitzung vom 14. Oktober 2004 und der 10. Sitzung
vom 4. November 2004.
15
So vor allem das Altenpflege-Urteil (BVerfG 2 BvF 1/01 v. 24.10.2002).
Ähnlich das Ladenschluß-Urteil (BVerfG 1 BvR 632/02 v. 9.6.2004).
16
Der Grund für diese Ausweitung der Entscheidungsgrundlage zeigte sich im
späteren Urteil zu den Studiengebühren (BVerfG 2 BvF 1/03 v. 26.1.2005), wo der
Rahmencharakter der Regelung nicht bestritten werden konnte und das Gericht
deshalb gezwungen war, sich allein auf die früheren Ausführungen zur
"Erforderlichkeit" nach Art. 72 Abs. 2 GG zu stützen.
17
Ganz ähnliche Formeln hatte das Gericht schon im "Altenpflege-Urteil" vom
24.10.2002 (BVerfGE 106, 62) verwendet. Aber da damals die Verfassungsmäßigkeit
des angegriffenen Bundesgesetzes bestätigt worden war, hatten die formulierten
Kriterien zunächst keinen Einfluß auf die Verhandlungsstrategie der
Bundesregierung und die Diskussion in der Kommission gehabt.
18
Dies gilt für Bundesrecht, das nach dem 15.11.1994 erlassen oder wesentlich
geändert wurde. Für früheres Recht ist die Lage aber nicht weniger prekär. Es
gilt als Bundesrecht fort und könnte von den Ländern nur mit ausdrücklicher
Erlaubnis des Bundesgesetzgebers geändert werden (Art. 125a Abs. 2 GG), was aber
bisher nicht geschehen ist. Da aber auch dem Bundesgesetzgeber die Zuständigkeit
für nicht "erforderliche" Regelungen fehlt, käme es zu einer Versteinerung des
alten Bundesrechts, die vom Verfassungsgericht nur wenig gelockert wurde: Der
Bund kann altes Recht zwar nicht mehr durch eine neue Regelung ersetzen,
immerhin aber noch in Einzelheiten modifizieren: BVerfG 1 BvR 636/02 vom 9. Juni
2004 (Ladenschlußgesetz).
19
Die wichtigste Differenz betraf die Gesetzgebungskompetenz zur Festsetzung
der Steuersätze für die allein den Ländern zufließenden Steuern. Obwohl der
Bundesfinanzminister gezeigt hatte, auf welche Weise Rückwirkungen auf den
Finanzausgleich vermieden werden konnten, gaben die wirtschaftsschwachen Länder
ihren Widerstand nicht auf und die anderen Ministerpräsidenten fühlten sich
deshalb weiterhin an frühere Abreden gebunden. Akzeptiert wurden dann lediglich
Hebesatzrechte bei der Grunderwerbsteuer.
20
Auf das Urteil des Zweiten Senats, das im Juli 2004 die Einführung der
Juniorprofessur für verfassungswidrig erklärt hatte, folgte schon im Januar 2005
die Aufhebung des bundesrechtlichen Verbots von Studiengebühren (BVerfG 2 BvF
1/03 v. 26.1.2005).
21
Die Abfolge von Urteilen des Verfassungsgerichts zum Finanzausgleich und der
Umgang der Politik mit diesen Urteilen erforderten eine ausführlichere
Darstellung, die den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde (Renzsch 1991,
2004).
22
Auch da hatten die finanzschwachen Länder in ihrer Angst vor dem
"Wettbewerbsföderalismus" darauf bestanden, daß Gesetzgebungskompetenzen der
Länder über die eigenen Steuern nicht gefordert werden durften. Im Interesse
eines einheitlichen Auftretens gegenüber dem Bund haben sich die
Ministerpräsidenten aller Länder daran auch gehalten.
23
Für die Bildungspolitik wurde dies in zwei von vier politischen Stiftungen
(Bertelsmann, Konrad-Adenauer, Marktwirtschaft und Friedrich-Naumann) in Auftrag
gegebenen Gutachten dokumentiert: Buse (2004); Schneider (2005).
24
Das gleiche gilt umgekehrt für die Bereiche, die dem Bund in ausschließliche
Gesetzgebungskompetenz zugewiesen sind.
25
Ob das Verfassungsgericht, das ja vor denselben Problemen einer
antizipierenden Beurteilung stünde, den Ländern sehr viel helfen würde, ist
jedenfalls nicht sicher. Immerhin ergingen ja die beiden länderfreundlichen
Urteile (Juniorprofessur und Studiengebühren) in einem Politikfeld, in dem die
Länderkompetenz ohnehin nur mit normativ-kulturellen, aber nicht mit
funktionalen Argumenten begründet werden kann. Für die Gesetzgebung außerhalb
dieses Reservats dürfte deshalb eher das Urteil zum Altenpflegegesetz
Präjudizwirkung gewinnen, wo das Gericht nach der Formulierung vieler
länderfreundlicher Kriterien am Ende die bundesgesetzliche Regelung der
Ausbildung von Altenpflegern dann doch mit sehr kursorischer Begründung unter
dem Gesichtspunkt der "Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen
Interesse" für erforderlich hielt (BVerfG 2 BvF 1/01 v. 24.10.2002, Absätze
360-378).
26
Schon die Notwendigkeit, ein zu weitgehendes Bundesgesetz zunächst in einem
langwierigen Verfahren "wegklagen" zu müssen, wird zumeist mit der zeitlichen
Dynamik der Landespolitik in Konflikt geraten. Überdies zwänge die erfolgreiche
Nichtigkeitsklage eines Landes auch alle anderen zum Handeln, ohne daß es dafür
auf deren politische Agenda ankäme.
27
In der Kommission habe ich zu zeigen versucht, daß das Risiko eines ruinösen
Steuerwettbewerbs nur bei wenigen Steuerquellen besteht (Kommissionsdrucksache
0047).
28
Für die finanzschwachen Länder wäre insbesondere die in der Schlußphase
durchgesetzte Beschränkung von Finanzhilfen des Bundes auf "Vorhaben, die nicht
Gegenstand der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes sind" im Vorentwurf der
Vorsitzenden vom 13.12.2004 (AU 0104 -neu-, Art. 104b -neu-) zu einem großen
Problem geworden.
29
Am Ende der Verhandlungen stand schließlich im Vorentwurf der Vorsitzenden
vom 13.12.2004 (AU 0104 -neu-) eine in der Kommission nie diskutierte neue
Vierteilung des Bestandes der konkurrierenden Gesetzgebung: (1) ausschließliche
Bundeskompetenz, (2) ausschließliche Landeskompetenz, (3) konkurrierende
Kompetenz des Bundes ohne Beschränkung durch eine Erforderlichkeitsklausel und
(4) konkurrierende Kompetenz des Bundes unter Anwendung der
Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG (AU 0104 -neu-). Mit dieser
(sinnvollen) Differenzierung würden die Risiken, die sich aus dem
Juniorprofessur-Urteil für die zwischen Bund und Ländern unstrittigen Bereiche
der konkurrierenden Gesetzgebung ausgeschaltet. Wenn also über das Zugriffsrecht
weiter beraten worden wäre, hätte es auf den Bereich (4) beschränkt werden
können.
30
Sie wurde in einem späteren Beitrag der Sachverständigen Grimm und Schneider
zwar nicht befürwortet, aber immerhin für realisierbar gehalten (AU 0086, 7).
31
In der Kommission gingen alle Seiten davon aus, daß Zugriffsrechte und auch
einfachgesetzliche Öffnungsklauseln die Befreiung von Art. 72 Abs. 2 impliziert.
Im Prinzip gilt das auch für Zustimmungsrechte des Bundesrats, soweit diese
nicht in der Finanzverfassung begründet sind.
32
Bei Gesetzen, die vor dem 15.11.1994 erlassen wurden, könnten die Länder
wegen Art. 125a Abs. 2 GG noch nicht einmal nach einem für sie günstigen Urteil
tätig werden, sondern müßten immer noch auf die Freigabe durch den
Bundesgesetzgeber warten.
33
Wird die Abweichung von der Verfassung gestattet, ist auch Art. 31 GG kein
Hindernis.
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