MPIfG Working Paper 05/1, Januar 2005

 

Politische Steuerung - Heute?

 

Prof. Dr. emer. Renate Mayntz , Prof. Dr. emer. Fritz W. Scharpf ,
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

 

 

Zusammenfassung

 

In diesem aus Anlaß der Verleihung des in Erinnerung an Niklas Luhmann gestifteten Bielefelder Wissenschaftspreises gehaltenen Vortrag setzen sich die Autoren mit Luhmanns These von der grundsätzlichen selbstreferentiellen Geschlossenheit funktioneller Teilsysteme auseinander. Am Beispiel des Verhältnisses von Politik und Wirtschaft zeigen sie, daß die Wirtschaft auf nationaler Ebene heute zwar weniger zielgerecht gesteuert werden kann als noch vor einigen Jahrzehnten, dass dafür jedoch nicht die Selbstreferenzialität des ökonomischen Systems, sondern vornehmlich politische Entscheidungen verantwortlich sind, die das Hinauswachsen der Wirtschaft über nationale Grenzen ermöglicht und begünstigt haben.

 

 

 

Abstract

 

In this lecture, held in response to the awarding of the Bielefelder Wissenschaftspreis established in honor of Niklas Luhmann, the authors debate Luhmann’s thesis of the self-referential closure of functional subsystems of society. Using the relationship between politics and the economy as case in point, the authors argue that national economic policy may indeed operate today under more severe constraints than was true several decades ago; but this is largely the consequence of deliberately taken political decisions favoring economic globalization and not the effect of a basic autopoietic closure of the economic subsystem.

 

 

 

Die beiden Autoren des hier in Schriftform präsentierten Vortrags, den wir aus Anlass der Verleihung des in Erinnerung an Niklas Luhmann gestifteten Bielefelder Wissenschaftspreises an uns verfassten, gelten nicht als „Luhmannianer“. Wir zählen nicht einmal zum weiteren Kreis sozialwissenschaftlicher Systemtheoretiker. Wir haben uns aber beide immer wieder in kritischer Auseinandersetzung auf Niklas Luhmann bezogen und auch unmittelbar und persönlich mit ihm diskutiert – Fritz Scharpf in einem Streitgespräch auf dem Kongreß der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft im Jahr 1988 (Scharpf 1989), Renate Mayntz bereits in den siebziger Jahren im Laufe eines gemeinsamen empirischen Projekts mit Luhmann (Luhmann/Mayntz 1973) sowie im Rahmen eines von ihr initiierten Gesprächskreises über Systemtheorie in den achtziger Jahren (Mayntz et al. 1988). Aus diesen getrennt mit Niklas Luhmann geführten Diskussionen haben wir für den heutigen Anlaß das uns beide seit langem interessierende Thema der politischen Steuerung herausgesucht.

 

Luhmanns Äußerungen zum Thema politische Steuerung haben sich mit der Fortentwicklung seiner Theorie gewiß auch verändert. Man hat ihm aber oft die Meinung zugeschrieben, die politische Steuerung anderer gesellschaftlicher Teilsysteme im Sinne der zielgenauen gesellschaftlichen Durchsetzung politisch formulierter Programme sei grundsätzlich unmöglich, und er hat auch in seinen späten Werken keinen Anlaß gesehen, solche vereinfachenden Zuschreibungen zu dementieren. Statt dessen setzte er lieber auf einen Schelmen anderthalbe und verglich wirtschaftspolitische Steuerungsbemühungen mit dem Regentanz der Hopi-Indianer – oder ein andermal den Wohlfahrtsstaat mit dem „Versuch, die Kühe aufzublasen, um mehr Milch zu bekommen“ (1998: 369). Im gleichen Geiste hätten wir als Empiriker die Antwort des alten Baptisten aus dem amerikanischen Süden – gefragt, ob er denn an die Kindstaufe glaube – zitieren können: „Believe in it? Man, I’ve seen it done!“

 

Ernsthafter gesprochen: Wir haben bei unseren empirischen und theoretischen Arbeiten immer vorausgesetzt, daß eine im Sinne ihrer Ziele erfolgreiche Einwirkung der Politik auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse zwar schwierig, aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen und unter bestimmten Bedingungen durchaus möglich sei. Unser Interesse galt deshalb diesen Bedingungen (in erster Linie den institutionellen und akteurbezogenen Bedingungen), von denen der Erfolg oder Mißerfolg ernsthafter Steuerungsversuche beeinflußt wurde. Dabei haben wir uns freilich wenig um die Anschlußfähigkeit unserer Befunde an Theoreme eines fundamentalen Steuerungspessimismus (Luhmann’scher, Hayek’scher oder neomarxistischer Provenienz) bemüht.

 

Immerhin hat Renate Mayntz (1987/1997) in einem theoretisch argumentierenden Aufsatz zwar begrüßt, daß Luhmann die Frage der Steuerbarkeit gesellschaftlicher Regelungsfelder auf die Agenda der Politikforschung gesetzt habe. Sie hat aber zugleich gezeigt, daß empirisch beobachtbare Steuerungsresistenzen (etwa des deutschen Gesundheitswesens) weniger der autopoietischen Geschlossenheit von Funktionssystemen als dem politischen Widerstand kollektiv handlungsfähiger Akteure zuzuschreiben waren (Mayntz 1990). Umgekehrt hat Fritz Scharpf in dem erwähnten „Streitgespräch“ auf dem Politologenkongreß 1988 die Schwierigkeiten politischer Steuerung in erster Linie mit (prinzipiell variablen) institutionellen Bedingungen auf seiten der Politik zu erklären versucht. Es hätte wohl den Versuch gelohnt, unsere Argumente genauer auf die Architektur der Luhmann’schen Systemtheorie zu beziehen. Deren Steuerungspessimismus folgt ja aus der unterstellten Kommunikationsbarriere zwischen den gesellschaftlichen Funktionssystemen, deren intern sinnhafte Kommunikation durch einen jeweils funktionsspezifischen binären Code ermöglicht und begrenzt wird – Recht/Unrecht für das Rechtssystem, zahlen/nicht zahlen für die Wirtschaft, Macht haben/nicht haben (oder auch Regierung/Opposition; Luhmann 1986: 170) für das politische System.

 

Interaktion zwischen den Funktionssystemen wird Luhmann zufolge nur als „Irritation“, nicht aber als sinnhafte Kommunikation erfahren und kann bestenfalls eine „strukturelle Kopplung“ bewirken. Die Politik kann deshalb auch nur die durch ihren binären Code ausgezeichneten eigenen Probleme des politischen Systems direkt behandeln, nicht aber die der Gesellschaft; und wenn sie denn etwas anderes versuchte, könnten die ihr zur Verfügung stehenden Steuerungsmedien Geld und Recht zwar die Funktionslogik der anderen Systeme – Wirtschaft oder Wissenschaft oder Gesundheitswesen – irritieren, aber diese in ihren Verhaltensweisen nicht zielgerecht beeinflussen. Aber sind das denn theoretisch zwingende und empirisch plausible Folgerungen? Gewiß wäre die Hoffnung naiv, die Politik könne allein durch moralische Appelle die Wirtschaft zu sozial oder ökologisch „verantwortungsbewußtem“ Handeln bekehren. Aber reagieren nicht Funktionssysteme höchst sensibel – und oft auch in durchaus vorhersehbarer Weise – auf politische Entscheidungen, die Recht setzen und die Zufuhr oder den Entzug von Geld bewirken? Überdies hat die empirische Forschung gezeigt, daß die Wirkung von finanziellen Anreizen auf die Entscheidungen von Unternehmen erheblich verstärkt wird, wenn sie durch persuasive Begleitprogramme kommunikativ unterstützt werden (Kaufmann/Rosewitz 1983; Scharpf 1983) – ebenso wie ja auch im Brent-Spar-Fall die „Irritation“ des Käuferstreiks erst durch die ökologische Begleit-Kommunikation zielgerichteten Einfluß auf das Verhalten der betroffenen Ölgesellschaft gewinnen konnte. Umgekehrt öffnet in demokratischen politischen Systemen gerade die Parteienkonkurrenz Tür und Tor für die kommunikative Transformation der Probleme aller anderen Funktionssysteme in Forderungen an die Politik – wie Luhmann selbst dies ja noch vor seiner autopoietischen Wende für die Expansion des Wohlfahrtsstaats gezeigt hatte (Luhmann 1981).

 

Hängt es deshalb nicht doch auch von der internen Verfaßtheit der Politik und der anderen Teilsysteme ab, welche gesellschaftlichen Probleme an die Politik adressiert und welche von dieser aufgegriffen oder abgewiesen werden, ob die Politik in Reaktion darauf eher weit- oder kurzsichtige Maßnahmen ergreift, und ob diese in den betroffenen Teilsystemen schließlich auf Kooperation oder Widerstand treffen? Gewiß stellen solche Fragen sich leichter, wenn man – wie wir dies tun – von der Existenz beobachtungs-, kommunikations- und handlungsfähiger individueller, kollektiver und korporativer Akteure innerhalb der einzelnen Funktionsbereiche ausgeht, während in der Architektur des Luhmann’schen Theoriesystems für diese kein Platz vorgesehen ist. Umgekehrt tendiert eine akteurtheoretische Perspektive leicht dazu, die Bedeutung teilsystemspezifischer Handlungsorientierungen zu unterschätzen. Deshalb spricht vieles dafür, wie insbesondere Uwe Schimank (1985, 1988, 2003) immer wieder argumentiert hat, daß beide Perspektiven mit erheblichem Gewinn an Erklärungskraft kombiniert werden können.

 

Wir sollten jedoch nicht versuchen, in einer Diskussion, die wir zu Luhmanns Lebzeiten nicht zu Ende geführt haben, nun nachträglich noch Punkte zu sammeln. Schließlich waren es ja auch nicht in erster Linie metatheoretische Argumente, die unsere Position bestimmten, sondern Beobachtungen in unseren Forschungsfeldern. Bei Renate Mayntz erwuchs der Eindruck zwar kontingenter und prekärer, aber eben nicht unmöglicher politischer Steuerung zunächst aus den Untersuchungen des von ihr koordinierten DFG-Projektverbunds zur „Implementation politischer Programme“ (Mayntz 1980; 1983) und später aus Projekten des Kölner Max-Planck-Instituts zu politischer Steuerbarkeit und Reformblockaden in „staatsnahen Sektoren“ (Mayntz 1990); eine ähnlich prägende Bedeutung hatten für Fritz Scharpf die international vergleichende Politikforschung, die er am Wissenschaftszentrum Berlin zu betreuen hatte, und seine Untersuchung zur Bewältigung der Stagflationskrisen der siebziger und frühen achtziger Jahre in vier sozialdemokratisch geführten europäischen Ländern (Scharpf 1987).

 

Manche der untersuchten staatlichen Programme wurden im Sinne ihrer Zielsetzung erfolgreich implementiert, während andere „aus dem Ruder liefen“ oder ganz scheiterten; manche Länder konnten auch in der Stagflationskrise die Vollbeschäftigung bei einigermaßen stabilen Preisen sichern, während andere von Massenarbeitslosigkeit bei eskalierenden Inflationsraten gebeutelt wurden. Daraus hätte man auf der metatheoretischen Ebene mit gleichem Recht entgegengesetzte Schlüsse ziehen können: Man konnte die Beispiele erfolgreicher Steuerung als makrotheoretisch uninteressante Zufallsvariation behandeln, oder man konnte sich „mesotheoretisch“ für die Bedingungen interessieren, von denen Erfolg oder Mißerfolg beeinflußt wurde. Luhmann hat sich für die erste, wir haben uns für die zweite Option entschieden, und es gab keinen Grund, die eine oder die andere Wahl zu bereuen.

 

Allerdings haben wie beide seinerzeit im nationalstaatlichen Rahmen argumentiert; und wir haben auch dann, wenn die Ursachen der ökonomischen Krise aus der internationalen Ökonomie stammten, stillschweigend unterstellt, daß die nationalen Handlungspotentiale im Prinzip ausreichten, um die von der nationalen Politik gewählten Ziele auch realisieren zu können. Inzwischen hat sich jedoch, für alle wahrnehmbar, die auf das eigene Territorium bezogene Handlungsfähigkeit des einzelnen Nationalstaats durch die zunehmende ökonomische Globalisierung insbesondere in wirtschaftspolitischer Hinsicht verringert. Zwar haben sich gleichzeitig die Steuerungsbemühungen politischer Institutionen und privater Organisationen auf Ebenen oberhalb des Nationalstaats ausgeweitet. Aber diese Bemühungen gelten allgemein als gegenständlich enger beschränkt und weniger effektiv als die politische Steuerung im nationalen Rahmen. Hat Luhmann in der Sache also doch gegen uns Recht behalten?

 

Will man heute darüber diskutieren, so muß man gleichzeitig die Beziehung zwischen den verschiedenen funktionellen Teilsystemen, und hier speziell zwischen Politik und Wirtschaft, und die vertikale Ausdifferenzierung verschiedener Steuerungsebenen – von der lokalen über die nationale und die europäische bis hin zur Ebene der sogenannten global governance – im Auge behalten. Luhmann selbst hatte schon zu Beginn der siebziger Jahre seine theoretische Perspektive auf die Weltgesellschaft ausgeweitet und auf der globalen Ebene ein „weltpolitisches System“ als Subsystem der Weltgesellschaft identifiziert (Luhmann 1971, 1998: 375-376, 1998a: 145-171). Aber ihn interessierte in erster Linie die zunehmende Integration eines weltumspannenden Systems gegenseitiger kommunikativer Erreichbarkeit. Insofern wird man, wenn man heute über die Möglichkeiten politischer Steuerung auf verschiedenen Ebenen diskutiert, über Luhmann hinausgehen müssen; seine Konzeptualisierung der vertikal und horizontal differenzierten Architektur der Weltgesellschaft kann dabei allerdings hilfreich sein. Hat sich, so müsste man die Frage dementsprechend reformulieren, die Steuerbarkeit des (vertikal differenzierten) ökonomischen Systems durch die sogenannte Globalisierung insgesamt verringert?

 

Betrachten wir zunächst die – besonders intensiv erforschten – Gründe, die für die verringerte wirtschaftspolitische Steuerungsfähigkeit des Nationalstaats verantwortlich sind. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die meisten westlichen Industriestaaten gelernt, wie man mit den Mitteln einer keynesianischen Geld- und Finanzpolitik das Auf und Ab der nationalen Ökonomie vorausschauend korrigieren konnte. Aber als diese Praxis am Ende der sechziger Jahre schließlich auch in Deutschland übernommen wurde, war die Steuerbarkeit der Ökonomie im nationalen Rahmen schon wieder prekär geworden. Auf die aus dem Ausland importierte „Vietnam-Inflation“ folgten die Ölpreisschocks der siebziger Jahre, die chaotischen Ausschläge der Wechselkurse und die astronomischen Dollarzinsen der frühen achtziger Jahre und schließlich die internationalen Finanzkrisen der neunziger Jahre – und immer ging es dabei um Störungen aus der Weltwirtschaft, die mit den Mitteln der nationalen Politik nicht abgewehrt werden konnten.

 

Trotzdem gab es große Unterschiede zwischen den Industriestaaten in der Bewältigung der internationalen Herausforderungen – mit besonders eindrucksvollen Erfolgen für Österreich, Schweden und Deutschland in den siebziger Jahren, für Japan und Deutschland in den Achtzigern, für die Vereinigten Staaten und Großbritannien, aber auch für Dänemark und die Niederlande in den Neunzigern, und so fort. Jedoch wäre es irreführend, daraus auf die generell gegebene Möglichkeit einer erfolgreichen Steuerung der nationalen Wirtschaft zu schließen – dafür waren die jeweils effektiven Problemlösungen zu unterschiedlich und zu sehr abhängig von wechselnden Lagen in der internationalen Ökonomie, von der spezifischen Verwundbarkeit der jeweiligen nationalen Ökonomie und von den je besonderen Handlungspotentialen der nationalen Politik (Scharpf und Schmidt 2000). Der Befund erinnert an eine Segelregatta, bei der unterschiedlich ausgerüstete Boote mit unsicherem Kompaß und bei wechselnden Wind- und Wetterlagen einen ungefähren Kurs zu halten versuchen. Hier gibt es keine garantierten Reise- und Ankunftszeiten und auch Havarien sind nicht auszuschließen. Deshalb hatten wir auch keinen Grund, Luhmann zu widersprechen, als er mit Blick auf das akteurbezogene Steuerungskonzept von Renate Mayntz (1987/2003) ironisch anmerkte:

 

Wer einen Zweck in die Welt setzt, muß dann mit dem Zweck gegen die Welt spielen – und das kann nicht gut gehen oder jedenfalls nicht so, wie er denkt.“
(Luhmann 1988: 330)

 

Aber daraus folgt noch nicht, daß man die professionell gesteuerte Segelyacht mit einem hilflos auf hoher See treibenden Floß verwechseln dürfte. Die Globalisierung der Ökonomie, die in mehreren Schüben nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat, war schließlich kein über die westlichen Nationalstaaten hereinbrechendes Naturereignis, sondern wurde von ihnen politisch gewollt und gefördert – auch wenn sie dabei die späteren Folgen dieses von ihnen ermöglichten Prozesses nicht richtig eingeschätzt haben mögen.   

 

Bemühen wir, um diesen Punkt zu vertiefen, kurz die von Luhmann favorisierte historische Perspektive. Sie betont die in der frühen Neuzeit beginnende Parallelentwicklung einer immer stärkeren Ausdifferenzierung der Funktionssysteme und ihrer immer weitergehenden Internationalisierung, bis sie schließlich als Teilsysteme der einen Weltgesellschaft beschrieben und analysiert werden können. Im Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie freilich war dies zumindest im vergangenen Jahrhundert keineswegs ein unaufhaltsam in gleicher Richtung fortschreitender, sondern ein kurvilinearer Prozeß. Nach einem steilen Anstieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichte die internationale wirtschaftliche Verflechtung – der Außenhandel und die Auslandsinvestitionen – am Vorabend des Ersten Weltkriegs einen Höhepunkt, der nach einem kurzen Zwischenhoch in den zwanziger Jahren erst am Ende der achtziger Jahre wieder erreicht und dann übertroffen wurde. Dazwischen lagen nicht nur zwei Weltkriege, sondern vor allem auch die Reaktion der Industriestaaten auf die Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre. An die Stelle des Goldstandards trat der Abwertungswettlauf; an die Stelle der Kapitalverflechtung die Devisenbewirtschaftung; und an die Stelle des freien Welthandels traten Importzölle, Einfuhrgenehmigungen und Exportsubventionen. Das Ergebnis war – keineswegs nur in Deutschland – die protektionistische Abschottung der Volkswirtschaften mit dem Ziel nationaler ökonomischer Autarkie.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg – und im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit – war dann das erneute Erstarken der Weltwirtschaft ein sehr langsamer Prozeß, der in Reaktion auf die Lehren der Großen Krise in höchst wirksamer Weise durch die von den westlichen Staaten in Gang gesetzte internationalisierte Politik gesteuert wurde. Die Führungsfunktion übernahmen die durch internationale Verträge etablierten und durch die amerikanische Hegemonie gestützten Bretton-Woods-Institutionen: Das System der festen Wechselkurse schloß einseitige Abwertung aus, ermöglichte aber vereinbarte Änderungen zur Korrektur langfristiger Ungleichgewichte, während kurzfristige Krisen durch IWF-Kredite aufgefangen werden konnten. Zölle und andere Handelsschranken wurden in einer Serie von GATT-Verhandlungen über Jahrzehnte hinweg schrittweise abgebaut, ließen aber protektionistische Reaktionen zur Vermeidung nationaler Strukturkrisen ausdrücklich zu – und die Existenz nationaler Kapitalverkehrskontrollen wurde bis in die achtziger Jahre hinein überhaupt nicht in Frage gestellt. In der Welt der OECD-Staaten war das Ergebnis ein internationales Regime des „embedded liberalism“ (Ruggie 1982), das nationale Grenzen schrittweise durchlässiger machen, aber nicht beseitigen sollte, und das den Staaten genügend Handlungsspielraum beließ, um eine Wiederholung der ökonomischen und sozialen Krisen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre zu vermeiden. Unter diesem Regime haben die westlichen Industrieländer in den Nachkriegsjahrzehnten eine bis dahin nie erreichte Fähigkeit zur Steuerung nationaler Wirtschaftszyklen entwickelt und zugleich die Vorteile einer stetig wachsenden internationalen Ökonomie nutzen können. Fragt man, woran denn diese „keynesianische“ Symbiose zerbrochen ist, so liegt auch hier die Antwort eher bei der Politik als auf seiten einer prinzipiell nicht steuerbaren Ökonomie.

 

Innerstaatlich war gerade die Erfahrung der politischen Steuerbarkeit der Wirtschaft in vielen Ländern ein Auslöser für exzessive Lohnsteigerungen und immer großzügigere öffentliche Leistungen – mit der Folge steigender Inflationsraten, zunehmender Abgaben und wachsender Staatsverschuldung. Aber anders als Luhmann unterstellte, enthielt der „Code“ der demokratischen Politik auch Stop-Regeln, welche die Eskalation politischer Forderungen beendete, noch ehe die damals befürchtete „Unregierbarkeit“ (Crozier et al. 1975) eintrat. In Deutschland geschah dies wenig spektakulär durch die Kostendämpfungspolitik des Staates und die Stabilitätspolitik der Bundesbank – in Großbritannien, den USA oder Neuseeland aber brauchte es dafür eine radikale „Wende“.

 

Letztlich war es diese „Wende“, welche die Fähigkeit zur politischen Steuerung der nationalen Wirtschaft schließlich drastisch einschränkte. Sie hatte ihren Ursprung nicht in der realen Ökonomie, sondern in der Politik, die ihrerseits von den Wirtschaftswissenschaften beeinflußt war (Hall 1989, 1992). Anders als in Deutschland hatte sich in den angelsächsischen Ländern nach der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre eine einseitig keynesianische Situationsdeutung durchgesetzt, welche die Ursache möglicher Störungen ausschließlich auf der Nachfrageseite der Wirtschaft lokalisiert und der praktischen Politik dafür das Instrumentarium einer „antizyklischen Globalsteuerung“ bereitgestellt hatte. Als dieses unter dem Inflationsdruck der späten sechziger Jahre immer weniger und in der Stagflationskrise der siebziger Jahre überhaupt nicht mehr wirkte, kam es zu einer paradigmatischen Revolution, welche sich nicht darauf beschränkte, die herrschende Doktrin durch „monetaristische“ Elemente zu ergänzen. Stattdessen kam es zu einer Renaissance und theoretischen Radikalisierung der in den dreißiger Jahren praktisch diskreditierten neoliberalen Wirtschaftstheorie, die nun Staatseingriffe in das Marktgeschehen nicht nur für praktisch unwirksam, sondern für prinzipiell schädlich erklärte.

 

Der Paradigmenwechsel in der Wissenschaft hatte unmittelbar Einfluß auf die Situationsdeutung im politischen System – und anders als man nach Luhmann hätte erwarten sollen, basierte dieser Einfluß nicht lediglich auf Irritation, sondern auf expliziter Kommunikation (die überdies auch kaum durch den Code Regierung/Opposition bestimmt wurde). Wichtig war die Vermittlung der Wirtschaftspresse, gelegentlich auch die direkte Kommunikation zwischen Wissenschaft und Politik – wie in dem berühmten „Seminar“ von Oxford-Ökonomen mit Callaghans Labour-Kabinett (Scharpf 1987, Kapitel 5) – aber noch wichtiger war wohl der Personalaustausch in den Führungs- und Stabsfunktionen der Finanzministerien, Wirtschaftsministerien und Zentralbanken (Hall 1992) – und, so muß man hinzufügen, in den internationalen politischen Institutionen.

 

Im Ergebnis setzte sich deshalb zunächst in den angelsächsischen Ländern, dann auch in der Europäischen Gemeinschaft und nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Sowjetregimes auch in dessen bisherigem Einflußbereich eine Politik der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung durch. Die Wirtschaft wurde gewissermaßen im Interesse von Wachstum und Innovation aus dem Klammergriff staatlicher Detailsteuerung entlassen. Die logische Folge war, daß sich zumindest in den westlichen Demokratien die Möglichkeiten einer nationalen Steuerung der eigenen Wirtschaft so stark verringerten, daß diese heute sogar unter dem Niveau liegen, das vor der Weltwirtschaftskrise in den „liberalen“ zwanziger Jahren bestanden hatte. Der wichtigste Schritt dabei war die Beseitigung nationaler Kapitalverkehrskontrollen. Sie befreite Kapitalbesitzer von der Beschränkung auf Anlagemöglichkeiten im eigenen Land, deren Mindestrendite nach Steuern vom jeweiligen Staat bestimmt werden konnte. Zugleich eröffnete der immer weiter gehende Abbau von Handelshindernissen den Unternehmen die freie Wahl zwischen den Produktionsstandorten, ohne daß dadurch ihr Zugang zum bisherigen Heimatmarkt gefährdet wurde. In der Folge globalisierten sich die Finanzmärkte und es entstanden immer mehr und immer größere transnationale Unternehmen und Produktionsnetzwerke (Goshal/Westney 1993; Gereffi/Korzeniewicz 1994). Unter diesen Bedingungen muß eine nationale Politik, die trotz Liberalisierung ökonomische Ziele und speziell Wachstumsziele verfolgt, vor allem die „Rahmenbedingungen“ für Kapitalanleger und mobile Unternehmen attraktiv genug gestalten, um ein ausreichendes Volumen arbeitsplatzschaffender Investitionen zu gewährleisten. Das hat unter anderem Folgen für die Steuerpolitik (Ganghof 2004), durch die wiederum die für sozialpolitische Zwecke verfügbaren Mittel reduziert werden. Der demokratische Wohlfahrtsstaat, so scheint es, wird durch die Logik der sich globalisierenden Wirtschaft zum Steuerungsverzicht gezwungen. Tatsächlich sind jedoch die fraglos eingeschränkten Möglichkeiten nationaler politischer Steuerung das Ergebnis einer gewollten Öffnung des Territorialstaats und einer bewußt gewählten Politik wirtschaftlicher Liberalisierung.

 

Die Delegation von Befugnissen an internationale Organisationen hat das Steuerungspotential, das auf nationaler Ebene verlorenging, nicht wettgemacht. Die Steuerungsfähigkeit der nationalen Politik ist durch den Ausbau internationaler und supranationaler politischer Institutionen geschmälert worden. Die Europäische Union schränkt mit ihrer Wettbewerbspolitik die Handlungsmöglichkeiten ihrer Mitgliedstaaten ein, und das auch in Infrastruktur- und Dienstleistungsbereichen, die bis vor kurzem als „staatsnahe Sektoren“ (Mayntz/Scharpf 1995) einer starken staatlichen Einflußnahme ausgesetzt waren (Scharpf 1999). Der Steuerungsanspruch der EU zielte, dem neoliberalen Paradigma entsprechend, vor allem auf die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, von dem man sich Wachstumsimpulse verspricht, und nur in zweiter Linie auf seine Kontrolle. Die (internationalen) Bretton-Woods-Institutionen implementieren in ähnlicher Weise einen Kapitalmobilität und Freihandel maximierenden „Washington Consensus“, der wiederum auf nationaler Ebene den Standortwettbewerb eher verschärft als vermindert (Stiglitz 2002). Mit diesen neuen Institutionen und ihrer internationalen – europäischen oder globalen – Reichweite wurde zwar eine Regelungsstruktur geschaffen, die mit der Struktur der über die nationalen Grenzen hinausgewachsenen Ökonomie kongruent ist. Die heute existierenden internationalen Institutionen sind jedoch auch im Rahmen begrenzter neoliberaler Ambitionen nicht fähig, auch nur eine wirksame globale Wachstumspolitik „aus einer Hand“ durchzuführen. In einem vertikal differenzierten Mehrebenensystem sind die Steuerungspotentiale über die verschiedenen Ebenen verstreut. Aber selbst in der vergleichsweise handlungsfähigen EU stößt die Koordinationsleistung bei der Politikentwicklung schnell an Grenzen, die durch die Existenz divergierender, ja teilweise gegensätzlicher Interessen von Mitgliedstaaten gezogen werden. Damit hat die gleichzeitige vertikale Differenzierung des ökonomischen und des politischen Funktionssystems und ihre Erweiterung auf die globale Ebene insgesamt zu einem Steuerungsverlust geführt.

 

Die Nationalstaaten der westlichen Welt haben sich in diesem Prozeß verändert – man sollte sagen: wieder einmal verändert. Der moderne Staat ist ein räumlich und zeitlich begrenztes, historisches Phänomen, das in seinem funktionellen Selbstverständnis und seinen tatsächlichen Funktionen immer wieder transformiert wurde (Clark 1999, Kap. 4 & 5). Diese Transformation bedeutet heute einerseits den Verzicht auf bestimmte bisherige Funktionen, zugleich aber das Entstehen neuer Einwirkungsmöglichkeiten. In dem Maße, in dem die Politik bestimmte Rechte und Regelungsaufgaben an internationale Organisationen delegiert, wird die Mitwirkung an Entscheidungsprozessen auf internationaler Ebene zur zunehmend wichtigen Staatsaufgabe – nicht zuletzt im Interesse der Bewältigung von Globalisierungsfolgen. Da völkerrechtliche Verträge die dominante Form internationaler Regelung sind, wird außerdem ihre den beteiligten Staaten überlassene Durchsetzung zur zentralen Voraussetzung erfolgreicher internationaler Steuerung. Schließlich stehen dem Verzicht auf bestimmte Möglichkeiten der wirtschaftspolitischen Steuerung im nationalen Rahmen neue Anforderungen an staatliche Regelung gegenüber, die sich aus der ökonomischen Globalisierung ergeben. Das gilt etwa für den Bereich der Bankenaufsicht (Lütz 2002), aber auch für ein das Vertrauen von Anlegern förderndes Recht – das Beispiel Rußland ist hier instruktiv. Der heutige Nationalstaat hat sich im gleichen Zuge gewandelt, wie die von ihm ermöglichte, ja vorangetriebenene Globalisierung die Wirtschaft transformiert hat: Die Veränderungen auf der nationalen und internationalen Ebene gehen Hand in Hand.

 

Was folgt nun aus alledem für unsere unvollendete Diskussion mit Niklas Luhmann? Wir wollen die Antwort in wenigen Thesen zusammenfassen:

 

  1. Bezogen auf das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft haben sich unsere empirischen Befunde im Laufe der letzten Jahrzehnte der Luhmann’schen These insoweit angenähert, als man von einem Steuerungsverlust der Politik gegenüber der Wirtschaft sprechen kann. Auf nationaler Ebene liegt der Grund im Verlust der Grenzkontrolle, der die staatliche Einflußnahme auf (potentiell) grenzüberschreitende Transaktionen im Wirtschaftssystem auf entlastende und fördernde Maßnahmen beschränkt. Auf internationaler Ebene schränken fehlende Kompetenzen und Sanktionsmöglichkeiten, zugleich jedoch strukturell bedingte Koordinationsprobleme die gezielte Einflußnahme auf die Weltwirtschaft ein.

  2. Historisch betrachtet sind diese Entwicklungen freilich nicht durch die autopoietische Eigendynamik des in welchen Grenzen auch immer gefaßten Wirtschaftssystems erzwungen, sondern durch eine – historisch kontingente – Selbstbeschränkung der nationalen und internationalen Wirtschaftspolitik am Ende der Nachkriegszeit ermöglicht. Schließlich bedeutet auch eine Politik der Markterweiterung und des Wettbewerbs eine gezielte Einflußnahme auf die Wirtschaft.

  3. Der internationale Vergleich zeigt, daß auch mit dem teils reduzierten, teils veränderten Instrumentarium des Nationalstaats höchst unterschiedliche – bessere oder schlechtere – Ergebnisse der Wirtschaftspolitik erzielt werden können. Auf nationaler Ebene haben insofern die institutionellen und akteurbezogenen Bedingungen der Politik nichts an Erklärungskraft eingebüßt.

  4. Unsere Befunde bestätigen schließlich auch den prinzipiellen Einwand gegen Luhmanns Konzept eines von Außeneinflüssen lediglich irritierbaren politischen Systems: Anders als von Luhmann unterstellt, erlaubt der dominante Code Macht haben/nicht haben, ob er nun auf nationaler Ebene als Regierungs-Oppositions-Code auftritt oder auf internationaler Ebene als Machtunterschied zwischen verschiedenen Mitgliedsländern, gerade nicht die autopoietische Abschottung der politischen Kommunikation gegenüber den Forderungen aus anderen Teilsystemen. Und weil die Politik die in ihre Zuständigkeit fallenden Leistungsanforderungen nicht einfach abweisen kann, ist sie im Prinzip auch für Kommunikationen aus dem Wissenschaftssystem offen, die eine bessere Leistungsbilanz zu versprechen scheinen. Erst recht gilt dies für die „nicht-politischen“ Institutionen im politischen System (Zentralbank, Verfassungsgericht, Europäische Kommission, etc.), die ohne den Druck der Konkurrenz um Wählerstimmen ganz ihrer wissenschaftlich sanktionierten Überzeugung folgen können.

  5. Letztes Fazit also: Die Wirtschaft wird heute zwar weniger auf präzise, politisch gesetzte Ziele hin gesteuert, als das auf nationaler Ebene noch vor drei Jahrzehnten der Fall war. Der Grund liegt jedoch weniger in der autopoietischen Abschottung des Wirtschaftssystems als in politischen Entscheidungen, durch die sich die Struktur des Wirtschaftssystems ebenso verändert hat wie die politischen Strukturen.

 

 

 

 

 

Literatur

 

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MPIfG:  MPIfG Working Paper 05/1

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[Zuletzt geändert am 29.03.2007 11:00]