MPIfG Working Paper 05/3, März 2005

 

Sequenzorientierte Policy-Analyse: Warum die Rentenreform von Walter Riester nicht an Reformblockaden scheiterte

 

Christine Trampusch , Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

 

 

Für Kritik an früheren Versionen des Papiers möchte ich mich bei Anke Hassel, Martin Höpner, Philip Manow, Britta Rehder und Wolfgang Streeck bedanken, ferner bei Raymund Werle und Helen Callaghan für die vielen konstruktiven Hinweise, die ich ihren Gutachten entnehmen durfte.

 

 

 

Zusammenfassung

 

Aufgrund der Eigentümlichkeiten des deutschen Regierungssystems gehen viele politikwissenschaftliche Studien von der Blockadethese aus. Die Blockadethese gründet in der Annahme gegebener Präferenzen und stabiler institutioneller Rahmenbedingungen und führt auf der analytischen Ebene zu am Rationalwahlansatz orientierten Interaktionsanalysen, die politische Entscheidungen von der Veränderung gesellschaftlicher Probleme, Präferenzen und institutioneller Rahmenbedingungen isoliert betrachten. Interaktionsorientierte Analysen fokussieren auf die Erklärung von inkrementellen Policy-Wandel. Anhand der innovativen Rentenreform von Bundesarbeitsminister Walter Riester wird vorgeschlagen, Rückkoppelungseffekte von Policies auf das Handeln politischer Akteure zu betrachten, und Politik damit dynamisch zu betrachten. Theoretisch wird dies mit dem Bedarf an sozialintegrativer Wirkungen von Policies begründet. Die Hauptthese des Beitrages ist, dass Sequenzorientierung es der Policy-Forschung ermöglichen würde, endogene Ursachen für innovativen Policy-Wandel zu identifizieren.

 

 

Abstract

 

Due to the specific characteristics of the German system of government, political scientists often assume policy-making will be affected by gridlock. Assuming exogenous preferences and stable institutional settings, they tend analytically toward interaction studies based on rational choice. Because such studies analyze political decisions isolated from changes in social problems, preferences and institutional settings, their explanatory power focuses on incremental policy change. I suggest viewing political decision-making as a dynamic process. To do this, I examine the innovative pension reform initiated by the former Federal Minister of Labor Walter Riester, looking at the feedback effects of policies on political actions. At the theoretical level, this use of temporality is based on the assumption that policies need to have social integrative effects. My main hypothesis is that sequence-oriented analysis in policy studies would enable us to identify endogenous causes of innovative policy change.

 

 

 

 

1  Einleitung

2  Modul 1: Blockadebias und Interaktionsanalyse

3  Modul 2: Interaktionsanalyse und inkrementeller Policy-Wandel

4  Modul 3: Sequenzanalyse und innovativer Policy-Wandel

5  Modul 4: Die Rentenreform Walter Riesters

5.1  Sozialintegration
5.2  Änderung von Präferenzen und Konflikte um Problemlösungskompetenzen

6  Schlussbetrachtung

Literatur

 

 

 

 

 

Einleitung

 

In weiten Teilen der politikwissenschaftlichen Literatur herrscht die Meinung vor, dass in der Bundesrepublik bestenfalls inkrementeller Policy-Wandel stattfinden kann (Benz 2000: 216-217). Dies wird in der Literatur mit dem Blockadebias des politischen Systems begründet. Die These des Blockadebias besagt, dass im deutschen Regierungssystem die relativ autonomen, aber interdependenten Systeme der politischen Entscheidungsfindung, die Mehrheitsdemokratie (Parteienwettbewerb) und die Verhandlungsdemokratie (Korporatismus, Bikameralismus), jeweils einen bestimmten Strategieraum determinieren und sich inkompatibel zueinander verhalten können. Kompromisse zwischen verhandelnden Akteuren können durch den Parteienwettbewerb wieder außer Kraft gesetzt werden. Ebenso können Institutionen der Verhandlungsdemokratie, wie der Bundesrat, parteipolitisch instrumentalisiert werden, die Konsens- und Korporationserfordernisse des Bikameralismus also durch den Parteienwettbewerb überlagert werden.

 

Die These des Blockadebias bringt am Rationalwahlansatz orientierte Interaktionsanalysen mit sich, die Politik unter der Annahme gegebener Präferenzen und stabiler Institutionen statisch betrachten. Einzelne politische Entscheidungen werden damit von der Veränderung gesellschaftlicher Probleme, Präferenzen und institutioneller Rahmenbedingungen isoliert. Tritt nicht ein exogener Schock auf, der zu einem radikalen Wandel der Akteurpräferenzen führt, ist innovativer Policy-Wandel so gut wie ausgeschlossen. Endogen bedingter, signifikanter Präferenzwechsel, ja generell Prozesse der Formierung von Präferenzen werden in diesem Literaturzweig wenig thematisiert.

 

Nun hat jedoch im Fall der Riester-Reform wie auch der Hartz-Gesetze ein innovativer Policy-Wandel stattgefunden, was beweist, dass die dem deutschen System inhärenten Blockaden nicht unüberwindbar sind und radikale Kurswechsel in der Politik nicht zwangsläufig verhindern. Riesters Rentenreform hat das Monopol der staatlichen Sozialversicherung in der Altersvorsorge durch die Einführung einer zweiten und dritten Säule aufgebrochen und im Zuge der Hartz-Reformen wurde die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, mit der Sozialhilfe zur neuen Leistung Arbeitslosengeld II zusammengeführt, und damit von einer Lohnersatz- zu einer Fürsorgeleistung mit Bedürftigkeitsprüfung gemacht.

 

Wenn in einem vielfach verflochtenen Regierungssystem eine Reform den Status quo radikal in Frage stellt und überkommene Policies nicht mehr fortschreibt, so hat die Politikwissenschaft - analytisch betrachtet - zwei Möglichkeiten, einen solchen Wandel zu untersuchen. Die erste Möglichkeit besteht darin, die These des Blockadebias weniger rigoros zu handhaben und unter Beibehaltung der Annahmen des Rationalwahlansatzes radikalen Politikwandel beispielsweise als strategische Reaktion auf drohende Vetos zu interpretieren. Die Hartz-Reformen und vor allem die ebenfalls Parteien übergreifend verabschiedete Gesundheitsreform waren der Anlass, solche Modellierungen weiterzuentwickeln (Manow/Burkhart 2004). Alternativ könnte die Politikwissenschaft jedoch auch anhand anderer Modelle als des Rationalwahlansatzes solche politischen Entscheidungen analysieren.[1]

 

Genau an diese Frage schließt das Papier an. Am Beispiel der Riesterschen Rentenreform untersucht es innovativen Policy-Wandel genauer. Dabei entwickle ich die These, dass es sich für die Analyse innovativen Policy-Wandels lohnt, Prozesse des Präferenzwandels eingehender zu untersuchen, als es in am Rationalwahlmodell orientierten Interaktionsanalysen geschieht. Die Präferenzformierung wird im Rationalwahlansatz nicht systematisch analysiert, weil dieser von gegebenen Präferenzen ausgeht (Hall 2005). Für die Analyse solcher Prozesse des Präferenzwandels schlägt der Beitrag vor, die Ursachen für innovativen Policy-Wandel nicht - wie im Rationalwahlansatz in der Regel üblich - zu exogenisieren, sondern neben exogen bedingten Veränderungen von Präferenzen ebenso endogene Ursachen für Präferenzwandel zu identifizieren.

 

Der Beitrag ist in vier Module unterteilt. Modul 1 stellt die These des Blockadebias und dessen Prämissen vor. Dies sind die Annahme (1.) exogener (gegebener) Akteurpräferenzen, (2.) stabiler institutioneller Rahmenbedingungen und (3.) die "Unter-sonst-gleichen-Bedingungen"-Annahme (Ceteris-paribus-Annahme). Ausgehend von diesen Annahmen fokussieren Analysen, die den Blockadebias als plausibel erachten, bei der Analyse von Politik auf Akteurkonstellation und Effekte derjenigen politischen Institutionen, die Entscheidungen blockieren können (vgl. hierzu Manow/Ganghof 2005). Modul 2 untersucht im Allgemeinen und anhand der Literatur über die Reformpolitik von Rot-Grün in der ersten Regierung Schröder (1998 bis 2002), warum Interaktionsanalysen eine Präferenz für inkrementellen Policy-Wandel entwickelt haben und sich weitgehend der Möglichkeit berauben, die Erklärung von innovativen Policy-Wandel zu endogenisieren.

 

Modul 3 schlägt vor, in der Analyse von innovativem Politikwandel Rückkoppelungseffekte von Problemlösungen auf das Handeln politischer Akteure mit einzubeziehen. Es wird mit anderen Worten die "Ceteris-paribus"-Annahme hinsichtlich stabiler institutioneller Rahmenbedingungen und exogener Präferenzen fallen gelassen. Die erklärenden Variablen Präferenzen und politische Institutionen werden endogenisiert.[2] Die Beachtung von Rückkoppelungseffekten ist für die Politikwissenschaft von theoretischem Interesse, weil solche Rückkoppelungsprozesse die Sozial- und Systemintegration, auf die moderne demokratische Gesellschaften gründen, beeinflussen. Rückkoppelungseffekte lassen damit auf Legitimitätsfragen schließen. Weil die Berücksichtigung von Rückkoppelungseffekten in einem statischen Analysemodell zirkuläre Argumentation zur Folge hat, schlägt der Beitrag in Anlehnung an Büthe (2002: 485) auf methodischer Ebene vor, sequenzorientiert politische Entscheidungen zu analysieren. Sequenzanalyse betrachtet Politik dynamisch und stellt die Selbsttransformation gesellschaftlicher Probleme, Präferenzen und institutioneller Rahmenbedingungen aufgrund von Rückkoppelungseffekten in Rechnung. Modul 4 wendet den sequenzorientierten Ansatz an Riesters Rentenreform an.

 

Den vier Modulen folgt eine Schlussbetrachtung, die dafür plädiert, die graduelle Transformation von Präferenzen in der Analyse politischer Entscheidungen verstärkt zu berücksichtigen. Die Policy-Analyse könnte dabei an neuere Konzepte der Analyse von institutionellen Wandel anschließen (vgl. hierzu Streeck/Thelen 2005), die die Bedeutung von Mechanismen graduellen institutionellen Wandels für radikalen institutionellen Wandel betonen, und damit einen Gegenpunkt zu Modellen des "punctuated equilibrium" setzen, die radikale Veränderung auf ein einflussreiches, kurze Zeit wirkendes Ereignis (Punktuation) zurückführen, das Phasen der instititutionellen Stasis aushebt.

 

 

2  Modul 1: Blockadebias und Interaktionsanalyse

 

In der Analyse politischer Entscheidungen in der Bundesrepublik unterscheidet die Politikwissenschaft verschiedene Subsysteme, in denen politische Entscheidungen getroffen werden. Lehmbruch (2000a [1976]: 14) spricht von "Regelsysteme[n]" und "Stile[n] der Konfliktregelung" und unterscheidet dabei Konkurrenzdemokratie und Verhandlungsdemokratie (Lehmbruch 2000a [1976]), und damit Mehrheitsentscheidungen und Verhandlungen.[3] In der Literatur werden dabei hinsichtlich des Regelsystems "Verhandlungen" zwei weitere Differenzierungen vorgenommen. Hier wird erstens zwischen Konkordanzdemokratie (Koalitionsregierungen), Korporatismus und konstitutioneller Politikverflechtung (vgl. dazu Czada 2000) unterschieden und zweitens im Regelungssystem Korporatismus davon ausgegangen, dass dieser institutionell segmentiert, weil funktional differenziert ist, und dementsprechend zwischen Tarifvertragssystem, arbeitsmarktpolitischen Institutionen, dem System der Gesetzlichen Krankenversicherung und den Alterssicherungssystemen zu differenzieren ist (Lehmbruch 2000b). Insgesamt wird so zwischen sieben Subsystemen unterschieden, die als jeweils eigentümliche und unterschiedliche Verfahren der Entscheidungsfindung im Regierungssystem der Bundesrepublik auftreten: (1.) der Parteienwettbewerb, (2.) die Koalitionsentscheidung, (3.) der Föderalismus, (4.) die Tarifautonomie, (5.) das um die Bundesanstalt für Arbeit (heute: Bundesagentur für Arbeit) gruppierte korporatistische Regelungssystem, (6.) das korporatistische Regelungssystem Gesundheitspolitik und (7.) das korporatistische Regelsystem Rentenpolitik. In letzter Zeit trat zu diesen sieben Entscheidungssystemen ein achtes, nämlich das Regelsystem Bundeskanzler (8.).[4]

 

Ausgehend von diesen Regelsystemen gründen viele Studien der Policy-Forschung bei der Analyse von Policy-Wandel auf der Blockadethese (Politikverflechtung, Scharpf/Reissert/Schnabel 1976). Weil es in der Bundesrepublik zahlreiche Vetospieler gibt und die Verhandlungsdemokratie stark ausgeprägt ist (Konkordanzdemokratie, Korporatismus, konstitutionelle Politikverflechtung, Czada 2000), wird die Fähigkeit der Problembearbeiter zu Politikwechseln mit dem Bild der blockierten Gesellschaft (Heinze 1998), einer gelähmten Problemlösungsfähigkeit (Zohlnhöfer 2003) und des Reformstaus umschrieben. Lehmbruch (2000a [1976]: 9) betont, dass das "Parteiensystem einerseits, und das föderative System anderseits … von tendenziell gegenläufigen Handlungslogiken und Entscheidungsregeln bestimmt [werden] und sich unter bestimmten Bedingungen wechselseitig lahmlegen". Scharpf (1997a: 147) stellt als "Malaise der deutschen Politik" heraus, dass "viele Instanzen mit Verhinderungsmacht ausgestattet sind", so dass "Veränderungen nur nach langem Gezerre stattfinden können". An Lehmbruch und Scharpf anschließend spricht die Politikwissenschaft von einer "Inkompatibilität" (Benz 2000: 216) der relativ autonomen, aber interdependenten Regelsysteme, weil sie nicht nur den Strategie- und Konfliktraum determinieren, sondern sich auch gegenseitig stören können: "Inkompatibilität ist dann gegeben, wenn Strukturen und institutionalisierte Verfahren in einer Arena bewirken, dass in einer anderen Arena Störungen auftreten. Das trifft in der Verbindung von Verhandlungssystemen und Parteienwettbewerb in besonderem Maße zu, die die bundesdeutsche Variante einer Verhandlungsdemokratie prägt" (Benz 2000: 216).

 

Welche Prämissen tragen diese These des Blockadebias in den Studien der Policy-Forschung? Ihre Ankerpunkte sind (1.) die Annahme exogener Präferenzen, (2.) die der stabilen institutionellen Rahmenbedingungen und schließlich (3.) die der "Unter-sonst-gleichen-Bedingungen"-Annahme. Exogene Präferenzen bedeutet, dass die Kriterien, anhand deren Policies bewertet werden, gegeben und relativ stabil sind (Scharpf 2000: 121-122). Die Veränderung von Präferenzen im Verlauf von politischen Entscheidungen - beispielsweise durch Lernprozesse oder Argumentieren (Scharpf 2000: 86) - wird eher als Ausnahme betrachtet.[5] In den Studien der Policy-Analyse wird dabei angenommen, dass die Präferenzen durch den "Stimulus eines bestimmten Problems aktiviert und spezifiziert" (Scharpf 2000: 86) werden. Präferenzen, so Scharpf (2000: 87), "beziehen sich auf die Bewertung des Status quo, auf die möglichen Ursachen des Problems, auf die Wirksamkeit und Wünschbarkeit möglicher Handlungsoptionen und der damit verbundenen Ergebnisse". Exogene Präferenzen haben daher zur Folge, dass sich die Inhalte politischer Entscheidungen vornehmlich als eine Fortschreibung vormals getroffener Entscheidungen (Policies) präsentieren.[6] Stabile institutionelle Rahmenbedingungen heißt, dass die eben beschriebenen Regelsysteme darüber entscheiden, welchem Akteur welche Kompetenzen zugewiesen und welche Partizipations- und Vetorechte verliehen werden (Scharpf 2000: 86). Die Strukturen des politischen Systems konditionieren die Akteure auf bestimmte und vorbestimmte Strategietypen. Die "Unter-sonst-gleichen-Bedingungen"-Annahme besagt schließlich, dass sich Präferenzen und die institutionellen Rahmenbedingungen während des politischen Entscheidungsprozesses nicht ändern, also im Analysemodell als konstant angenommen werden.

 

Die Folge dieser drei Annahmen ist, dass sich der Ausgang von politischen Prozessen an der Interaktion der Akteure entscheidet (vgl. Abb. 1). Mit Fritz W. Scharpf gesprochen ist der Ausgangspunkt vieler Studien die Identifikation der "Menge der Interaktionen", die "die zu erklärenden politischen Ergebnisse tatsächlich hervorgebracht haben" (Scharpf 2000: 86). Ausgehend von diesen Interaktionsformen (Parteienwettbewerb, Koalitionsentscheidung usw.) werden dann die individuellen und korporativen Akteure bestimmt, "die an dem politischen Prozeß beteiligt sind und deren Entscheidungen schließlich das Ergebnis bestimmen" (Scharpf 2000: 86).

 

 

 

 

Die Blockadethese bringt es mit sich, dass viele Studien zu politischen Entscheidungen am Rationalwahlansatz orientierte Interaktionsanalysen darstellen, das heißt in Gestalt des Vetospieler-Ansatzes[7] (z.B. Schludi 2005; König/Bräuninger 2000), des Median-Wähler-Modells (vgl. z.B. Schludi 2005; Ganghof 2004; Merkel 2003; Obinger et al. 2003; Wagschal 2001; Zohlnhöfer 2001) und der Modelle räumlicher Wahl (z.B. Ganghof/Bräuninger 2003) betrieben werden. Politik wird zu "games real actors play" (Scharpf 1997b). In vielen Studien geraten die intelligente Modellierung der Interaktion der Akteure und der Wirkungen der "Regelsysteme", die sie konditionieren, unweigerlich in den Mittelpunkt der Analyse. Der Nachweis der Blockade wird in vielen Fallstudien zu Policy-Wandel nahezu zum Hauptgegenstand. In ihren Analysen zum Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland treffen Holtmann/Voelzkow (2000: 15) bezeichnenderweise gar die folgende Aussage: "Es ist also zu klären, wie in einem derart verflochtenen Regierungssystem überhaupt noch politische Entscheidungen möglich sind."

 

Die Orientierung am Rationalwahlansatz schließt natürlich nicht aus, dass in den Analysen auch bestimmte Annahmen getroffen werden können, um die determinierende Wirkung der Blockadethese weniger rigoros zu handhaben (vgl. hierzu König/Bräuninger 2000; Benz 2003: 230-232; Zohlnhöfer 2004; Manow/Burkhart 2004). Eine kritische Auseinandersetzung mit der Blockadethese findet also durchaus statt, wobei auch Benz (2003: 210-211) zuzustimmen ist, dass gerade die für diesen Literaturzweig wichtige Politikverflechtungsthese von Scharpf/Reissert/Schnabel (1976) strategische Reaktionen auf drohende Vetos nicht ausschließt, weshalb Innovationsanstöße selbst im deutschen Regierungssystem trotz zahlreicher Vetopunkte und -spieler möglich sind. Aktuell werden auch die Hartz-Reformen und die Gesundheitsreform von 2003 als Strukturreform bewertet, die zeigen, dass gegenläufige Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zugleich ein "Gelegenheitsfenster" öffnen können und Föderalismus nicht zwangsläufig zu einer Reformblockade führt (Zöhlnhöfer 2004; Manow/Burkhart 2004). Der Rationalwahlansatz - und damit die oben genannten Annahmen - werden dabei jedoch nicht verlassen. So hing nach Zohlnhöfer (2004: 400) die Zustimmung der Unionsparteien zu den oben genannten Reformen davon ab, dass sie diese als für die "Verbesserung der wirtschaftlichen Performanz zwingend erforderlich sah" und als nützlich in der "erfolgreichen Profilierung im Wettbewerb um Wählerstimmen" einschätzte (ähnlich Manow/Burkhart 2004). Es war also allein der durch die Mehrheitsdemokratie konditionierte Parteienwettbewerb, der die Union dazu brachte, den Strukturreformen zuzustimmen. Die Annahme ist, dass die Union eine sichere Erwartung darüber hatte, dass der Wähler sie bei einer Verweigerung bei den nächsten Bundestagswahlen abstrafen würde.[8]

 

 

3  Modul 2: Interaktionsanalyse und inkrementeller Policy-Wandel

 

Was verraten uns jedoch die These des Blockadebias und die auf dieser These gründenden Interaktionsanalysen in der Regel über Policy-Wandel? In welchem Ausmaß und in welche Richtung sich Policies ändern können, wird durch die jeweiligen Interaktionsformen bestimmt. Interaktionsergebnisse ändern sich, wenn sich Interaktionen ändern. Policy-Wandel hängt maßgeblich davon ab, ob es den Problembearbeitern gelingt, sich "Techniken der Kompromissbildung, die auf Vereinbarungen über alle Lager hinweg abzielen" (Holtmann/Voelzkow 2000: 15), zu bedienen. Über Policy-Wandel verraten uns Interaktionsanalysen, dass er inkrementell verläuft; es sei denn ein unerwartetes Ereignis - ein exogener Schock - hebt die "unter sonst gleichen Bedingungen- Annahme" aus den Angeln.

 

Interaktionsanalysen fokussieren auf inkrementellen Policy-Wandel. Dies ist (1.) Folge der exogenen Präferenzen, die Problemlösungen bewerten, und resultiert (2.) daraus, dass Interaktionsanalysen, wie Scharpf (2000: 32) darlegt, "unabhängig davon, welcher Interaktionsmodus tatsächlich zur Anwendung kommt … die erzielten Ergebnisse immer im Hinblick auf ihre Gleichgewichtscharakteristika" untersuchen. Politische Entscheidungen sind Gleichgewichtsergebnisse, also "Ergebnisse, bei denen kein Spieler seine eigenen Auszahlungen durch einseitiges Wechseln zu einer anderen Strategie verbessern kann" (Scharpf 2000: 31; Hervorh. im Orig.).[9] Akteure, die exogene Präferenzen haben und vor dem Hintergrund stabiler Institutionen strategisch interagieren - wobei sowohl Präferenzen als auch Institutionen konstant gehalten werden -, entscheiden, indem sie die bestmöglichen Strategien wählen. Policy-Wandel ist folglich die Distanz des neuen Gleichgewichtsergebnisses von dem bisherigen. Es können nur jene Veränderungen politischer Programme erklärt werden, die bisherige Gleichgewichtsergebnisse konsolidieren (erhalten) oder inkrementell (schrittweise fortschreibend) sind. Innovativer Policy-Wandel, das heißt Wandel, der nicht zu einem Minus oder einem Plus, sondern zu einem Alter des Status quo ante, also der Policy vor der Interaktion, führt, würde einen exogenen Schock verlangen.[10] Dabei wird angenommen, dass das deutsche Regierungssystem - im Vergleich zum Westminster-System - für inkrementellen Policy-Wandel aufgrund der Vielzahl verhandlungsdemokratischer Subsysteme (Föderalismus, Tarifautonomie, Wohlfahrtsstaatsegmentierung, Lehmbruch 2000b) besonders prädestiniert ist. Aufgrund der Inkompatibilität der "Regelsysteme" Mehrheits- und Verhandlungsdemokratie ist es im Vergleich zum britischen System sehr unwahrscheinlich, dass veränderte Policy-Positionen - seien sie nun exogen oder endogen - determiniert in Policy-Wandel umgesetzt werden können.

 

Auch bei der Betrachtung der Politik der rot-grünen Koalition dominiert die Schlussfolgerung, dass die Regierung in ihrer ersten Legislaturperiode - also in der Phase, in der die Riester-Reform verabschiedet wurde - nur wenig weit reichende Veränderungen bewirken konnte, weil Wandel durch den Parteienwettbewerb, die Verhandlungsdemokratie oder die strukturellen Begrenzungen, die den Kanzler einschränken, begrenzt wurde. Die rot-grüne Bundesregierung, so Siegel (2003: 161; 183), war entweder durch den Mesokorporatismus in der Lohn-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik behindert, oder sie erlag der "mehrheitsdemokratischen Versuchung", so dass der "Primat der Parteienwettbewerbslogik gegenüber einer an effektiven Problemlösungen orientierten Konsensneigung im Institutionengestrüpp des Verbundföderalismus … konfliktive Politikprozesse" bewirkte.

 

Der Bundeskanzler und sein Amt, so das einschlägige Urteil, haben eher Konsolidierung als grundlegenden Policy-Wandel gefördert. So betont Streeck (2003: 7-8), der die differenzierungs- und systemtheoretische Perspektive von Gerhard Lehmbruch (2000b) mit seinem Ansatz der Konflikte um politische Machtverteilung konfrontiert, dass es weder dem Kanzler noch dem Kanzleramt gelungen sei, Partei, Fraktion und Ministerien auf eine Linie zu bringen. Insbesondere habe das Bundeskanzleramt dem Bündnis für Arbeit nicht das Maß an Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, das notwendig gewesen wäre, um das Bündnis als Instrument zur Disziplinierung von gegenläufigen Interessen von Regierungs-, Verbands- und Parlamentsakteuren einzusetzen. Zu ähnlichen, jedoch eher strukturell begründeten Urteilen über ein Versagen des Bundeskanzlers gelangen Siegel (2003: 183), der "ad-hoc Management, Kurzatmigkeit und selektive Koordination" statt Konzertierung als Merkmal des Regierungsstils Schröders erkennt, und auch Heinze (2003: 155), der von der Bundesregierung eine "politische Führung" fordert, die er gerade beim Bündnis für Arbeit vermisste. Heinze (2003: 150) und Siegel (2003: 161) weisen dabei vor allem auch auf strukturelle Blockaden hin, die sich aufgrund der institutionellen Fragmentierung des politischen Systems in themenspezifische politische Arenen und Mesokorporatismen in der Lohnpolitik, Arbeitsmarktpolitik und Sozialpolitik ergeben. Die Fragmentierung, so Heinze (2003: 151), hätte die Regierung blockiert, selbst wenn sie "durchsetzungswillig" gewesen wäre. Die Kanzlerthese deduziert die Reichweite von Policy-Wandel aus grundlegenden Strukturproblemen im staatlichen Regierungsapparat, die dem Kanzler als handlungsleitende Strategie vorschreiben, Überkommenes zu bewahren, weil die Konfrontation mit mesokorporatistischen Subsystemen, Ministerien, Fraktion oder der Partei seine Fähigkeit zu hierarchischen Entscheidungen suspendiert.

 

Nicht nur das Regelsystem Bundeskanzler, sondern auch die Regelungssysteme der Verhandlungsdemokratie werden in Studien zur rot-grünen Reformpolitik als Hindernis für Policy-Wandel gesehen. So sprechen Blancke/Schmid (2003: 220, 223) für die Zeit zwischen Ende 1999 und Ende 2001 von einem "[w]eitgehenden Stillstand" in der Arbeitsmarktpolitik, von einer Phase der "Stagnation im Verhandlungslabyrinth", in der parteiinterne und externe Vetospieler sowie ein sinkender Problemdruck Wandel verhinderten. Der Stagnation aufgrund der Verhandlungsdemokratie ging, so Blancke/Schmid (2003: 221), eine Phase der Einlösung von Wahlversprechen voran, weil "klientelbezogene Vorstellungen" und ein "deutlich sozialdemokratischer Akzent" umgesetzt wurden (Parteiendifferenzhypothese). 2002 fand, so Blancke/Schmid (2003: 225), ein "Kurswechsel" als "reformpolitischer Endspurt im Vorfeld der Wahl" statt, weil die Arbeitslosigkeit anstieg, ein externer Schock (Vermittlungsskandal) stattfand und die anstehenden Bundestagswahlen disziplinierende Wirkung auf potenzielle Vetospieler entfalteten. Blancke/Schmid (2003) erklären Reformstau mit institutionellen Schranken sowie parteiinternen und externen Vetospielern. Veränderung führen sie hingegen auf "externe Schocks und Problemdruck" zurück, die "die Macht von Vetospielern brechen" (Blancke/Schmid 2003: 235) und den Parteienwettbewerb von der Verhandlungsdemokratie befreien. Blancke/Schmid (2003: 235) fahren fort:

 

Wo zu einem bestimmten Zeitpunkt eine starke Vetoposition mächtiger Akteure erwartet werden kann, kann ein anderer Zeitpunkt (etwa bei anstehenden Wahlen) den Parteienwettbewerb zur eigentlichen Motivationsgröße avancieren lassen, damit disziplinierend wirken und Reformen möglich machen. Glückliche Umstände - fortuna bei Machiavelli genannt - gehören eben auch zum Erfolg in der Politik.

 

Wären dem Vermittlungsskandal der Bundesanstalt nicht die Bundestagswahlen gefolgt, hätten sich die Parteien also nicht aus dem Würgegriff der Verhandlungsdemokratie befreien können und es wäre beim Reformstillstand geblieben.

 

Wie Blancke/Schmid (2003) führt auch Merkel (2003) den arbeitsmarktpolitischen Reformstau in der ersten Phase der rot-grünen Regierung auf die Verhandlungsdemokratie zurück. Tsebelis' Vetospieler-Theorie fortentwickelnd[11] erklärt er die "ausgebliebene Reform des Arbeitsmarktes" (Merkel 2003: 265) damit, dass "[r]echte wie linke Traditionalisten der SPD … mit der partikularen Interessenorganisation Gewerkschaften eine implizite Blockadekoalition" eingingen. Die Einrichtung der Hartz-Kommission, deren Beschlüsse erst in der zweiten rot-grünen Regierung umgesetzt wurden, interpretiert Merkel als "Schachzug des Bundeskanzlers" (Merkel 2003: 267), der von der Strategie des "office-seeking" geprägt war, und als "Reaktion auf abstürzende Umfragewerte, skandalöse Vorgänge in der Bundesanstalt für Arbeit und die drohenden Niederlage bei den Parlamentswahlen im September" (Merkel 2003: 267).

 

Im Gegensatz zur Arbeitsmarktpolitik spricht die Politikforschung in der Rentenpolitik aufgrund der Rentenreform von Walter Riester von einer fundamentalen Veränderung. Schmidt (2003: 247) stellt aufgrund der Einführung der kapitalfundierten Altersvorsorge, die das Prinzip der paritätischen Finanzierung aufbricht, eine "Pfadabweichung" fest. Auf mögliche Erklärungsfaktoren für diese Pfadabweichung geht Schmidt, der hervorhebt, dass "die ‚Reformstausthese‘ nur einen Teil der rot-grünen Sozialpolitik" (Schmidt 2003: 241) erfasst, jedoch nicht ein. Andere Studien greifen demgegenüber bei der Erklärung des Wandels in der Rentenpolitik auf die Logiken der Mehrheitsdemokratie und Verhandlungsdemokratie zurück. Sowohl Merkel (2003) als auch Schludi (2005) wenden bei dieser Reform die Vetospieler-Theorie an. Sie erklären, warum es zur Zustimmung des institutionellen Vetospielers Bundesrat kam, wobei Schludi auch die Einigung mit den Gewerkschaften erklärt. Die Policy-Positionen der Akteure sind in der Vetospieler-Theorie jedoch exogen vorgegeben. Die Ursachen für den innovativen inhaltlichen Bruch mit dem bisherigen Finanzierungssystem der Rentenversicherung, also die Ursachen für die Einführung der Kapitaldeckung und der staatlichen Förderung von Privat-, Betriebs- und Tarifrenten, werden in diesen Studien nicht thematisiert.

 

Als Zwischenfazit lässt sich das Folgende festhalten: Die Blockadethese führt zu Interaktionsanalysen, die strategische Interaktionen von Problembearbeitern erklären. Die Interaktionsanalysen weisen eine eindeutige Präferenz für die Erklärung von inkrementellem Policy-Wandel auf. Weil die Präferenzen als gegeben definiert werden, benötigt ein radikaler Präferenzwandel, der innovativen Policy-Wandel zur Folge haben könnte, gemäß den Annahmen dieser Analysen einen exogenen Schock. Mein Einwand ist, dass sich anhand der Riester-Reform aufzeigen lässt, dass die dem deutschen Regierungssystem inhärenten Reformblockaden innovativen Policy-Wandel nicht zwangsläufig ausschließen. Für die Analyse von innovativen Policy-Wandel schlage ich im Folgenden vor, Ursachen einer radikalen Präferenzveränderung nicht völlig zu exogenisieren und Prozesse des Präferenzwandels genauer zu betrachten, indem Rückkoppelungseffekte von Problemlösungen auf das Handeln politischer Akteure berücksichtigt werden.[12]

 

Solche Rückkoppelungseffekte systematischer in die Analyse von Policy-Wandel zu integrieren, ist für die Politikwissenschaft sowohl von theoretischem als auch von methodischem Interesse. Theoretisch ist dies von Bedeutung, weil Rückkoppelungseffekte, wenn sie Sozial- und Systemintegration beeinflussen, den Kern der politikwissenschaftlichen Theoriebildung, die Demokratietheorie, ansprechen. Der methodische Gewinn besteht darin, Politik über einen längeren Zeitraum und dynamisch zu betrachten, kurz: Sequenzen zu analysieren.[13] Das ermöglicht - wie später in Modul 4 gezeigt werden wird -, das Zusammenspiel von exogenen und endogenen Ursachen für Policy-Wandel systematisch zu betrachten.

 

 

4  Modul 3: Sequenzanalyse und innovativer Policy-Wandel

 

Die Einbeziehung von Rückkoppelungseffekten in die Analyse politischer Entscheidungen begründe ich theoretisch folgendermaßen:  1.: Probleme können durch die Interaktion endogen erzeugt werden. Wenn die Politik sich auf die Bearbeitung und Lösung von Problemen einlässt, dann verändert sie diese und schafft unter Umständen neue. 2.: Moderne demokratische Gesellschaften müssen Sozialintegration gewährleisten.[14] Auch Policies kommt eine sozialintegrative Bedeutung zu.[15] Sie erbringen auf der intermediären Ebene Leistungen zur Konfliktinstitutionalisierung zwischen korporativen Akteuren.[16] Wenn Policies jedoch aufgrund von Rückkoppelungseffekten bei dieser Konfliktinstitutionalisierung scheitern, weil staatliche, parteidemokratische und verbandliche Akteure sie als Teil eines neuen Problems wahrnehmen, üben sie einen negativen Einfluss auf die Sozialintegration aus. In diesem Fall tragen sie dann nicht mehr zur Konfliktinstitutionalisierung, sondern zur Entstehung von (neuen) Interessenkonflikten bei. Diese Interessenkonflikte können erstens Präferenzen hinsichtlich gesellschaftlicher Probleme und deren Lösung verändern und zweitens Konflikte um neu zu verteilende Problemlösungskompetenzen bewirken: Wer ist fähig zur Problemlösung? Wer ist institutionell zuständig? Die Präferenzen und die institutionellen Rahmenbedingungen verändern sich, wodurch institutioneller Raum für neue Problembearbeiter mit neuen Problemlösungen geschaffen wird. Entscheidungsblockaden können sich auflösen.[17]

 

 

 

 

Wie lässt sich die sozialintegrative Bedeutung von Policies beschreiben? Wie die staatliche Ordnung, für die Policies ein konstituierendes Element sind, sind Policies auf mehreren Ebenen sozialintegrativ tätig:[18]

 

1. Auf der kulturellen beziehungsweise normativen Ebene entfalten Policies eine sozialintegrative Wirkung, weil politische Maßnahmen und Programme auf Normen und Werte gründen und versuchen, diese umzusetzen. In der Rentenpolitik war dies bis zur Riester-Reform das Prinzip der Lebensstandardsicherung, das in das Prinzip einer an den Ausgaben orientierten Einnahmepolitik - sprich Beitragssatzanhebung nach Bedarf - übersetzt wurde. Die Norm der Lebensstandardsicherung stellte einen zentralen Rahmen für die Identität der deutschen Gewerkschaften dar, weil sie, solange ausreichend Verteilspielräume erwirtschaftet wurden, auch bei den jüngeren Gewerkschaftsmitgliedern Akzeptanz hinsichtlich der Bewältigung betrieblicher Rationalisierungen durch Frühverrentung stiftete.

 

2. Auf der rechtlichen Ebene ist Rentenpolitik sozialintegrativ, weil das Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung im Zusammenspiel mit Art. 14 GG Rentenanwartschaften einen verfassungsrechtlich garantierten Vertrauensschutz verschaffte, der staatlichen Interventionen in die Rentenversicherung eine Hemmschwelle auferlegte. Der Vertrauensschutz bewirkte so, dass sich die Gewerkschaften und die Organisationen der Mitbestimmung in der Gestaltung von Sozialplänen auf die Leistungen der Rentenversicherung verlassen konnten. Der Vertrauensschutz erzeugte Vertrauen, das Ungewissheiten im Umgang mit betrieblichen Rationalisierungen reduziert. Die Rente war sicher.

 

3. Auf der intermediären Ebene sind Policies sozialintegrativ, weil sie Konflikte zwischen korporativen Akteuren institutionalisieren. So übte die etablierte Rentenpolitik durch ihre Indienstnahme für beschäftigungspolitische Aufgaben im Rahmen der Frühverrentungspolitik Kosten und Konflikt entlastende Effekte auf Staat und Verbände aus. Aufgrund der Beitragsfinanzierung hat sie staatlichen und parteidemokratischen Akteuren ermöglicht, föderale Konflikte zu umgehen, die durch eine aus Steuern finanzierte Sozial- und Beschäftigungspolitik entstanden wären. Auf die Tarifbeziehungen wirkte die Rentenpolitik durch Konfliktinstitutionalisierung integrativ, weil sie die soziale Autonomie der Tarifpolitik sicherte, indem Struktur- und Arbeitsmarktkrisen den tarifpolitischen Verteilspielraum unberührt ließen, weil auf diese nicht lohnpolitisch, sondern mithilfe der Maßnahmen der Sozialversicherung reagiert wurde. Scheitern Policies auf der intermediären Ebene, so ist mit anderen Worten Sozialintegration im Sinne von Mitgliedschaftslogik im Schwinden begriffen.

 

Rückkoppelungseffekte können diese sozialintegrative Wirkung von Policies empfindlich stören. Treten diese auf, verändern Policies das Problem, zu dessen Lösung sie beitragen sollen. Durch diese Wirkung können sie selbst zum Problem werden und sich aus der Perspektive der korporativen Akteure als Problemlösung verbrauchen.[19] In diesem Fall kann die Policy nur noch wenig zur Identitätsstiftung, zur Sicherung und Sanktionierung von Rechten und zur Konfliktinstitutionalisierung beitragen. Im Gegenteil: Auf der intermediären Ebene wird sie eher neue Interessenkonflikte erzeugen statt diese zu regulieren. Die überkommene Policy geht mit Repräsentations- und Solidaritätsdefiziten einher. Scheitern Policies, so finden Suchprozesse statt: Prozesse zur Generierung von Präferenzen über Lösungsoptionen für gesellschaftliche Probleme werden in Gang gesetzt. Konflikte über Problemlösungskompetenzen treten auf. Die Betrachtung von Rückkoppelungseffekten hat zur Folge, die Ceteris-paribus-Annahme hinsichtlich Präferenzen und politischer Institutionen fallen zu lassen.

 

Methodisch hat dies zur Konsequenz, das Analysemodell zu dynamisieren. Diese Dynamisierung kann durch die Berücksichtigung von Sequenzen bewerkstelligt werden (Büthe 2002: 485). Sequenzen bringen den Faktor Temporalität in Analysen ein. Sie erlauben die Berücksichtigung von Rückkoppelungseffekten von Policies zu einem bestimmten Zeitpunk t0 auf Präferenzen und Institutionen (Problemlösungskompetenzen) zu einem späteren Zeitpunkt t1:

 

Sequence allows us to endogenize the explanatory variables without having to abandon modeling and scientific aspirations because it enables us to avoid circular reasoning. Endogenization involves incorporating into the model some variation of causal feedback loops from the explanandum to the explanatory variables. In a static model, such feedback loops make the argument circular. Determining causality then becomes impossible. The sequential element of temporality, however, gets us around the problem, because it allows us to have causal feedback loops from the explanandum at one point in time to the explanatory variables at a later point of time only.  (Büthe 2002: 485; Hervorh. im Orig.)

 

Konkret schlägt der Beitrag im Folgenden daher vor, Problemsequenzen in die Analyse zu integrieren. Problembearbeiter bearbeiten ein Problem nach dem anderen und sie entwerfen eine Problemlösung nach der anderen. Etwas plastischer ausgedrückt lautet das Kernargument einer sequenzorientierten Perspektive folgendermaßen: Im politischen Prozess kann es immer wieder zu selbst produzierten fundamentalen Krisensituationen kommen, in denen weniger die Strukturen der Mehrheits- und Verhandlungsdemokratie die Interaktion determinieren als die Gelegenheiten, die sich ergeben, weil sich Policies aufgrund von Problemsequenzen verbrauchen.

 

Was sind nun die Grundlinien einer Analyse, die Rückkoppelungseffekte von Policies auf das Handeln politischer Akteure zum Ausgangspunkt hat? Die zentrale Forschungsfrage dieser Perspektive ist, Rückkoppelungseffekte zu bestimmen. Aufgrund der Notwendigkeit von Sozialintegration sieht sie zudem Präferenzen und Problemlösungskompetenzen (die von politischen Institutionen zugewiesen werden) grundsätzlich als endogene Größen an. Im Gegensatz zur interaktionsorientierten Policy-Forschung integriert eine sequenzorientierte Zeitlichkeit systematisch in den Ansatz. Anders formuliert: Die Heuristik einer sequenzorientierten Policy-Analyse würde die Heuristik der interaktionsorientierten Policy-Forschung, die zwischen Akteur und Institution trennt, durch eine ergänzen, die dynamische Interaktionsbeziehungen zwischen Problem, Problemlösung, institutionellen Rahmen und Sozialintegration thematisiert.

 

Anhand eines sequenzorientierten Ansatzes soll im Folgenden der mit der Riester-Reform einhergehende innovative Policy-Wandel in der Rentenpolitik rekonstruiert werden. Dabei gehe ich jedoch nur auf die sozialintegrative Bedeutung der Rentenpolitik im Hinblick auf Konfliktinstitutionalisierung ein, betrachte also nur die sozialintegrative Bedeutung der Rentenpolitik auf der intermediären Ebene.[20]

 

 

5  Modul 4: Die Rentenreform Walter Riesters

 

Die Riester-Reform kann aus zwei Gründen als Innovation bezeichnet werden. Erstens ging sie mit der Einführung einer zweiten und dritten Säule in der Altersvorsorge weit über die offiziellen Konzepte der Koalitionspartner zu Beginn der Legislaturperiode hinaus, die deutlich einen systemkonsolidierenden Charakter aufwiesen und der Korrektur von Einschnitten, die die Regierung Kohl vorgenommen hatte, oberste Priorität beimaßen.[21] Zweitens hat sich mit der Reform die Ausrichtung der gesetzlichen Rentenversicherung verändert: Nicht mehr Lebensstandardsicherung, sondern Beitragssatzsenkung und -stabilisierung und eine an den Einnahmen orientierte Ausgabenpolitik stellen seitdem die Hauptziele der staatlichen Rentenpolitik dar. Das Monopol der gesetzlichen Rentenversicherung in der Altersvorsorge wurde durch die Förderung der privaten, betrieblichen und tariflichen Rentensysteme aufgelöst.

 

Wie kam es zu dieser Änderung der Ziele der gesetzlichen Rentenversicherung? Im Folgenden möchte ich in zwei Schritten argumentieren, dass der in der Riester-Reform zum Ausdruck kommende innovative Policy-Wandel mit Rückkoppelungseffekten auf das Handeln politischer Akteure in einem Zusammenhang steht. Im ersten Schritt steht die etablierte Rentenpolitik und wie diese im Laufe der Zeit an sozialintegrativem Potenzial auf der intermediären Ebene eingebüßt hat im Vordergrund. Die etablierte Rentenpolitik konnte Interessenkonflikte zwischen Staat und Verbänden nicht mehr institutionalisieren und hat neue Spaltungslinien erzeugt. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, wie das Zusammenspiel dieser Rückkoppelungseffekte mit exogenen Herausforderungen (Wiedervereinigung, Maastricht, demographischer Wandel, Internationalisierung) den Druck zu einem Policy-Wandel erhöhte. Im zweiten Schritt möchte ich zeigen, dass die dadurch bewirkten Interessenkonflikte Präferenzen über Handlungsoptionen in der Alterssicherung veränderten sowie Konflikte um neu zu verteilende Problemlösungskompetenzen mit sich brachten. Hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang Konflikte in den Gewerkschaften über die weitere Entwicklung der Tarifpolitik. In diesen Konflikten stand Bundesarbeitsminister Riester, der bis Herbst 1998 Zweiter Vorsitzender der IG Metall war, nicht nur als Auslöser, sondern auch als Moderator im Mittelpunkt.

 

 

5.1  Sozialintegration

 

Der Policy-Wandel der Riester-Reform ist Folge einer bereits seit Mitte der 1990er-Jahre stattfindenden politischen und öffentlichen Debatte über die Leistungs- und Finanzierungsstruktur der deutschen Sozialpolitik, im Zuge deren Ursachen und Folgen der Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Sozialversicherung neu definiert wurden. Ausgangspunkt dieser Debatte waren das Übersteigen der 40-Prozent-Marge im Gesamtsozialbeitrag und der Konsens zwischen der Bundesregierung und den Sozialpartnern, einem weiteren Anstieg entgegenzuwirken. In der Erklärung vom 23. Januar 1996 im Rahmen des "Bündnisses für Arbeit und Standortsicherung" unter der Regierung Kohl verständigten sich die Bundesregierung und die Sozialpartner, die Sozialbeiträge bis 2000 auf 40 Prozent zu senken (Bulletin Nr. 7, S. 53). Das Entscheidende an dieser Erklärung ist, dass der Anstieg des Sozialbeitrages forthin - und zunehmend auch in der breiten Öffentlichkeit[22] - als eines der zentralen Probleme des bundesdeutschen Arbeitsmarktes definiert wurde. Dass 1997, als der Beitragssatz zur Rentenversicherung auf über 21 Prozent anzusteigen drohte, die Mehrwertsteuer erhöht wurde, kann als Konsequenz dieser Entwicklungen betrachtet werden.

 

Im Koalitionsvertrag vom 28. Oktober 1998 griffen SPD und Bündnis90/Die Grünen die 40-Prozent-Grenze erneut auf, womit die Forderung der Beitragssatzstabilisierung und Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten von der neuen Regierung übernommen wurde (Koalitionsvertrag 1998: 11-12). Neben der 40-Prozent-Marge problematisierte die Reformdebatte die Folgen der Frühverrentungspolitik für die Sozialversicherungshaushalte und den Arbeitsmarkt. Durch Veränderungen im Arbeitsförderungsrecht sowie die Anhebung der Altersgrenzen in der Rentenversicherung (Rentenabschläge bei Frühverrentung) hatte bereits die Kohl-Regierung versucht, der Frühverrentung entgegenzuwirken. Als "Kompensation" für die rentenpolitischen Reformen griff die Bundesregierung dabei die Initiative der Sozialpartner (DGB und BDA) zur Förderung der Altersteilzeit auf. Damit wurde zwar ein neuer Frühverrentungspfad geschaffen, jedoch einer, an dem die Tarifpartner finanziell beteiligt wurden (durch den Abschluss der Altersteilzeittarifverträge). Auch die Veränderung der Finanzierungsstrukturen war bereits zu jener Zeit im Gespräch. Die Stärkung der zweiten und dritten Säule wurde während der Rentenreform 1997 von der FDP und innerhalb der CDU von Kurt Biedenkopf eingebracht. Die Umsetzung dieser Idee scheiterte damals jedoch am Widerstand des Bundesarbeitsministers Norbert Blüm und des Bundesfinanzministers Theo Waigel (vgl. Börsen-Zeitung vom 29.1.1997: 1; FAZ vom 20.3.1997: 1; Richter 2001: 85-109).

 

Auch wenn diese Reformdiskussion und Reformansätze in ihrer Reichweite nicht überbewertet werden dürfen, kann behauptet werden, dass sie auch Folge der etablierten Problemlösung in der Rentenpolitik waren. Die etablierte Rentenpolitik war in starkem Maße darauf gerichtet, Staat und Verbände zu entlasten, indem sie Arbeitsvolumen aus dem Markt nahm und durch Frühverrentung stilllegte (Ebbinghaus 2005; Manow/Seils 2000). Bei der Frühverrentung hat die Rentenpolitik für Staat und Verbände immer eine Doppelfunktion erfüllt. Einerseits hat sie durch ihre Finanzierungsstrukturen (Beitragsfinanzierung) zur fiskalischen Entlastung des Bundeshaushaltes beigetragen (Verschiebebahnhofpolitik; vgl. Trampusch 2003). Andererseits hat sie ermöglicht, dass die Tarifpolitik ihre soziale Autonomie bewahren konnte und Struktur- und Arbeitsmarktkrisen den tarifpolitischen Verteilungsspielraum unberührt ließen, weil auf diese nicht lohnpolitisch, sondern in der Sozialversicherung reagiert wurde. Die Beitragsfinanzierung der Sozialpolitik half den staatlichen und parteidemokratischen Akteuren ferner, föderale fiskalische Verteilungskonflikte zu umgehen, die durch eine aus Steuern finanzierte Sozial- und Beschäftigungspolitik entstanden wären. Folge dieser Indienstnahme der Rentenversicherung für die Tarifpolitik der Verbände und die Haushaltspolitik war der Anstieg des Gesamtsozialbeitrages. Um weiteren Anhebungen des Rentenbeitrages zu entgehen, begann der Bund schließlich, die Rentenversicherung durch Mittel aus dem Bundeshaushalt zu subventionieren (Mehrwertsteuererhöhung 1997; Finanzierung versicherungsfremder Leistungen).

 

Seit 1992/1993 haben sich nun die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen für die etablierte Rentenpolitik aufgrund der veränderten externen Rahmenbedingungen - wie den fiskalischen Folgen der Wiedervereinigung, den Maastricht-Kriterien, dem Bewusstwerden der Überalterung der Bevölkerung (demographischer Wandel) und der Internationalisierung - jedoch verändert. Die Wiedervereinigung band weitere erhebliche Finanzressourcen der Sozialversicherung an sich. So fanden sich in den Jahren 1995 bis 1997 Bundesanstalt für Arbeit, die Gesetzliche Rentenversicherung und die Gesetzliche Krankenversicherung in Folge der Wiedervereinigung in einem Defizit (vgl. dazu Meinhardt 2000: 243, Tabelle 11). Die oben erwähnte Subventionierung der Rentenversicherung durch Haushaltsmittel des Bundes machte den Bundeshaushalt und die Steuerpolitik zunehmend von der Rentenversicherung und ihrer Finanzlage abhängig, und dies in einer Zeit, in der der internationale Steuerwettbewerb Steuersenkungen einforderte und die Maastrichter Kriterien weitere Staatsverschuldung verboten. Die Überalterung der Gesellschaft führte dazu, dass immer weniger Beitragszahler immer mehr Renten finanzieren müssen.

 

Es ist das Zusammenspiel der Indienstnahme der Rentenversicherung für die Haushalts- und Tarifpolitik mit diesen exogen bedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen, das dazu führte, dass die Sozialpolitik seit Mitte der 1990er-Jahre immer weniger Kosten und Konflikt entlastende Effekte im Innenverhältnis von Staat und Verbänden ausübte, sondern im Gegenteil beide belastete. Die staatlichen und parteidemokratischen Akteure stehen seitdem unter Druck, dem Gesamtsozialbeitrag mit einer Strukturreform zu begegnen, auch weil die Lohnnebenkosten unter den bestehenden ökonomischen Rahmenbedingungen ein Beschäftigungshindernis darstellen. In den Parteien kam es so auch Ende der 1990er-Jahre zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Sozialpolitikern und Wirtschaftspolitikern beziehungsweise Modernisten. Die Modernisten wurden stärker, während die Sozialpolitiker an Einfluss verloren (vgl. hierzu Trampusch 2005b).

 

Auf der anderen Seite hatte die durch die Rentenversicherung finanzierte Politik der Angebotsreduzierung auch auf die Verbände Rückwirkungen. Sie führte zu Entsolidarisierungen ihrer Kollektive (Streeck 2005, 2003) und bewirkte neue Polarisierungen. In einer zunehmend internationalisierten Wirtschaft, in der wegen der Belastung des Faktors Arbeit durch den Sozialstaat Standortverlagerungen zum Alltag wurden, stehen für die Verbände sinkende Organisationsraten der Gewerkschaften, Verbandsflucht bei den Arbeitgebern, die zunehmende Fragmentierung der Interessen der Großbetriebe und des Mittelstandes und die Flucht aus den Flächentarifverträgen in einem direkten Zusammenhang mit der sozialpolitischen Regulierung des Arbeitsmarktes. Der Verlust der inneren Bindungsfähigkeit stellt "den Modus der verbandlichen Regulierung insbesondere der Arbeitsmärkte als solchen in Frage" (Streeck 2003: 4). Waren die sozialpolitischen Apparate von DGB und BDA in den 1970er- und 1980er-Jahren noch in der Lage, die Ansprüche und Interessen ihrer Mitglieder an die staatliche Sozialpolitik auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so verhindern dies heute unter der Rahmenbedingung verschärfter internationaler Preiskonkurrenz auf Arbeitgeberseite zunehmend die Konflikte zwischen den großen und kleinen Unternehmen und zwischen Zulieferern und Abnehmern. Auf Gewerkschaftsseite haben wegen der andauernden Arbeitslosigkeit, des Verbetrieblichungsdrucks, der auf dem System des Flächentarifvertrags lastet, und der öffentlichen politischen Debatte über Reformbedarf in der Sozialpolitik die Konflikte zwischen streikfähigen und nicht streikfähigen, zwischen konfliktorientierten und konsensorientierten Gewerkschaften zugenommen (Streeck 2003). Die Verbändeforschung macht deutlich, dass sich in den 1990er-Jahren im Innenverhältnis der Verbände Interessenkonflikte um die Basisinstitutionen der alten Bundesrepublik - Tarifautonomie und Sozialstaat - intensiviert haben (Streeck 2003b; Streeck/Hassel 2004) und insbesondere auf Arbeitnehmerseite massive Integrations-, Repräsentations- und Solidaritätsprobleme aufgetreten sind (Rehder 2005).

 

Die Verbandsspitzen müssen sich so immer wieder um einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Lagern bemühen. Auf Wirtschaftsseite wurden die Spitzen zum Teil mit Vertretern mittelständischer Interessen besetzt (Trampusch 2005a) und Mitte der 1990er-Jahre intensivierten sich die Konflikte zwischen den Führungsgremien des BDI und der BDA. So warf BDI-Präsident Olaf Henkel dem BDA-Präsidenten Klaus Murmann öffentlich vor, dass die BDA über die Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherung zum Anstieg der Lohnnebenkosten beigetragen habe (FAZ vom 18.3.1996: 15). Im DGB hat sich das Verhältnis der Einzelgewerkschaften untereinander, insbesondere zwischen IG Metall und Verdi auf der einen Seite und IG BCE auf der anderen, in den letzten Jahren extrem polarisiert (Trampusch 2004: 20); man denke an die stetig wiederkehrenden Auseinandersetzungen zwischen den Vorsitzenden der IG Metall und der IG BCE. Weil die drei genannten Gewerkschaften aufgrund der Gewerkschaftsfusionen heute drei Viertel der DGB-Mitglieder auf sich vereinen, schwächt jede Polarisierung der Einzelgewerkschaften die politische Gestaltungskraft des DGB und damit seiner Sozialpolitiker. Das Schwinden der stützenden Milieus ist am deutlichsten in den Gewerkschaften sichtbar: Ende 2002 hatte der DGB noch knapp 7,7 Millionen Mitglieder und damit einen Anteil von weniger als 20 Prozent der abhängig Beschäftigten. Vor fünfzehn Jahren waren es noch fast 30 Prozent. Nur noch knapp 10 Prozent der Beschäftigten unter 25 Jahren sind heute Mitglied einer Gewerkschaft (Ebbinghaus 2002). 2003 traten aus der IG Metall 118.625 Gewerkschaftsmitglieder aus (FAZ vom 16.3.2004: 11). Im gesamten Jahr 2002 waren es dagegen nur 43.302. Gegenüber dem bisherigen Höchststand kurz nach der Wiedervereinigung addiert sich in der IG Metall der Mitgliederverlust inzwischen auf über eine Million (Spiegel Online 10.7.2003).

 

Auch bei den Wählern hat das Sozialversicherungssystem im Übrigen an Unterstützung verloren. So zeigen die Befragungen im Rahmen des Sozio-oekonomischen Panels, dass bei den Zwanzig- und Dreißigjährigen der Anteil derjenigen, die Sozialbeiträge als zu hoch empfinden und für mehr Eigenvorsorge plädieren, zwischen 1987 und 1997 stark angestiegen ist.[23] Die Unzufriedenheit mit der Höhe der Sozialbeiträge und die Offenheit für Eigenvorsorge können auch so gedeutet werden, dass es sich die Bundesregierung und die Parteien politisch immer weniger leisten können, in der Rentenpolitik das bestehende System zu konsolidieren, weil das Vertrauen in die finanzielle Nachhaltigkeit dieses Systems abgenommen hat.

 

 

5.2  Änderung von Präferenzen und Konflikte um Problemlösungskompetenzen

 

Die Veränderung der Problemkonstellation und die geminderte sozialintegrative Wirkung der etablierten Rentenpolitik auf der intermediären Ebene hatten Konflikte in den Gewerkschaften zur Folge. Diese drehten sich im Kern darum, wie die Gewerkschaften tarifpolitisch auf die Krise der Sozialversicherung und den Reformdrang der Regierung Kohl zu reagieren haben. Die Konflikte können insofern als Verteilungskonflikt um Problemlösungskompetenzen definiert werden, weil sie die Frage betrafen, inwieweit die Tarifpolitik sozialpolitische Funktionen - die Finanzierung der Frühverrentung und der Altersvorsorge - übernehmen sollte. Auch Präferenzen hinsichtlich von Handlungsoptionen in der Alterssicherung änderten sich: Die Tarifpolitik rückte als mögliches Finanzierungsmedium in den Blickpunkt.

 

Ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Konflikte ist Mitte der 1990er-Jahre zu verorten, als Walter Riester, damals noch 2. Vorsitzender der IG Metall, erkannte, dass die durch die Rentenreform von 1989 eingeführte Anhebung der Altersgrenzen das Arbeitsvolumen im Markt erhöht und die beschäftigungspolitische Strategie der IG Metall, durch Frühverrentung das Überangebot auf dem Arbeitsmarkt zu reduzieren, konterkarieren würde. Da er gleichwohl gegen eine weitere Wochenarbeitszeitverkürzung war, brachte Riester im Rahmen der Verhandlungen um den Altersteilzeittarifvertrag der IG Metall den Vorschlag ein, die Reduzierung des Arbeitsangebots durch einen Tariffonds zu finanzieren. Bei Spitzengesprächen mit Gesamtmetall im Oktober 1996 schlug er vor, die Einrichtung eines Tariffonds auf Branchenebene verbindlich vorzuschreiben. Dieser von den Tarifvertragspartnern gemeinsam verwaltete und aus Anteilen des Weihnachts- und Urlaubsgeldes, aus Lohnerhöhungen und Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit finanzierte Fonds sollte innerhalb von fünf Jahren Kapital ansammeln, das die Tarifpartner zum Ausgleich von Einkommensverlusten bei Frühverrentung verwenden konnten. . Die Rentenversicherungsbeiträge sollten durch den Fonds vollständig entrichtet werden, um so spätere Abschläge bei der Rentenzahlung zu vermeiden (BZ vom 23.10.1996: 11; FAZ vom 10.3.1997: 15).

 

Riesters Überlegungen zu einem Tariffonds fielen in eine Zeit, in der in den Gewerkschaften angesichts vermehrter betrieblicher Standortsicherungsvereinbarungen und wegen der hohen Arbeitslosigkeit stark über eine Erneuerung der gewerkschaftlichen Tarif- und Sozialpolitik gestritten wurde. Neben dem Konflikt um eine weitere Wochenarbeitszeitverkürzung, der zwischen dem IG-Metall-Vorsitzenden Klaus Zwickel und Riester ausgetragen wurde, war der für die Rentenreform wichtigste Konflikt der zwischen dem DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte und seiner Stellvertreterin Ursula Engelen-Kefer, die damals Vorstandsmitglied der SPD und der Bundesanstalt für Arbeit war. Im Mai 1997 kam es zu heftigen DGB-internen Konflikten, als Dieter Schulte und auch Riester öffentlich eingestanden, dass man in der Rentenversicherung um eine Senkung des Rentenniveaus nicht umhin kommen werde, Engelen-Kefer dies brüsk zurückwies und Schulte vorwarf, er würde auf Distanz zur SPD und den Sozialpolitikern im DGB gehen (TAZ vom 28.5.1997: 4). Ein weiterer Konflikt entbrannte in den Gewerkschaften schließlich aufgrund des tarifpolitischen Ansatzes der IG BCE, die mit Erfolg genau das vorpraktizierte, was von den IG-Metall-Funktionären mit Ausnahme Riesters kategorisch abgelehnt wurde: Eine betriebliche und tarifliche Sozialpolitik, die die Leistungen und Mittel der staatlichen Sozialpolitik ergänzt und, wenn nötig, auch mit dem Zugeständnis einer Lohnzurückhaltung finanziert. Die Chemiegewerkschaft hatte bereits Mitte der 1970er-Jahre einen tariflichen Unterstützungsfonds für Arbeitslose aufgebaut. Im Gegensatz zur IG Metall griff sie seitdem in den Tarifverträgen immer wieder sozialpolitische Sonderthemen auf. Zu nennen sind hier der Tarifvertrag für Jugendliche ohne Hauptschulabschluss von 1977 (später Tarifvertrag zur Förderung der Integration von Jugendlichen), der Tarifvertrag über Vorruhestand und Altersfreizeit von 1985, der Tarifvertrag zur Teilzeitarbeit von 1987 und die Tarifregelungen zur Aufstockung der vermögenswirksamen Leistungen von 1989 und zu Altersteilzeit von 1996.

 

Fünf Jahre nach Riesters Tariffondsvorschlag waren sowohl der Streit innerhalb der IG Metall über die weitere Arbeitszeitpolitik als auch der Konflikt innerhalb des DGB entschieden: Das Rentenniveau wurde von Rot-Grün gesenkt, auch wenn Riester den Ausgleichsfaktor nicht durchsetzen konnte.[24] In der Riester-Rente und den Tarifverträgen zur Entgeltumwandlung materialisierte sich Riesters Idee eines Tariffonds beziehungsweise das Chemiemodell. Wie kam es dazu?

 

Riester brachte seine Ideen bereits vor den Bundestagswahlen als Schattenminister ein. Dabei geriet er nicht nur mit den Sozialpolitikern in der SPD in Konflikte, sondern ebenso mit seiner Gewerkschaft. Die IG Metall wehrte sich gegen Riesters Ideen aus zweierlei Gründen. Zum einen, weil deren Vorsitzender, Zwickel, zum damaligen Zeitpunkt noch eine weitere Wochenarbeitszeitverkürzung statt Lebensarbeitszeitverkürzung als die adäquate tarifpolitische Strategie auf dem Arbeitsmarkt erachtete (FAZ vom 8.5.1998: 13). Zum anderen nahm die IG Metall Riesters Tariffonds als Infragestellung des Prinzips der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung wahr. Bis zum Sommer 1998 gelang es Riester dennoch, Zwickel von der Lebensarbeitszeitverkürzung zu überzeugen. Seit dem Sommer 1998 trat Zwickel für die Rente mit 60 und einen Tariffonds ein, was jedoch nur die Finanzierung der Frühverrentung ermöglichen sollte. Angesichts der starken Hausmacht der Sozialpolitiker in der IG Metall wehrte sich Zwickel weiterhin heftig gegen die Verwendung dieses Tariffonds für die Finanzierung einer weiteren Säule der Altersvorsorge. Zwickel schimpfte die von Riester angedachte Kapitaldeckung als eine "verkappte einseitige Beitragserhöhung" (Zwickel 1999: 1). Wer eine dritte Säule aufbaue, ihre Finanzierung den Arbeitnehmern überlasse und gleichzeitig die Beiträge zur paritätisch finanzierten gesetzlichen Rentenversicherung senke, betreibe eine "gigantische Umverteilungsmaschine zugunsten der Unternehmer" (Zwickel 1999: 1).

 

Die Reform der Rentenversicherung war zunächst in die Gespräche im Rahmen des Bündnisses für Arbeit integriert. Dieses bot mit den Spitzengesprächen und ihrer Vorbereitung durch die Steuerungsgruppe und den beiden Arbeitsgruppen "Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung" sowie "Lebensarbeitszeit" drei Foren an, die sich mit der Rente mit 60, Tariffonds, Altersteilzeit und den Aufbau einer kapitalgedeckten Altersvorsorge durch den Tariffonds beschäftigten. Ende 1998 wurde in den Arbeitsgruppen Riesters Tariffondsmodell diskutiert und durchgerechnet: Ein aus 1 Prozent Lohnsteigerung zu finanzierender Tariffonds sollte nicht nur die Rente mit 60, sondern auch den Aufbau einer Zusatzrente fördern. Die Gewerkschaften wiesen die Verbindung von Tariffonds und genereller Altersvorsorge damals brüsk zurück: Die Stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer gab damals bekannt, dass "[d]ie Gewerkschaften … diese Verknüpfung von langfristigem Kapitalstock und Rente mit 60 nicht" akzeptieren würden, weil damit ein "schleichender Systemwechsel" zu Lasten der gesetzlichen Rentenversicherung eingeleitet werde (FAZ vom 11.2.1999: 17). Die Diskussionen in den Bündnis-Arbeitsgruppen kamen ins Stocken. Mitte Mai 1999 stand für Riester damit fest, dass seine Kompromissformel für die Nutzung des Tariffonds, diesen sowohl zur Finanzierung der Frühverrentung als auch zum Aufbau einer kapitalgedeckten Säule der Altersvorsorge zu verwenden, schwer zu realisieren war. Die Sozialpolitiker in der SPD und die IG Metall akzeptierten eine Vermengung der beiden Issues nicht (Koch 2000: 43). Als sich die Fronten immer mehr verhärteten, wurde das Thema Rentenreform schließlich von der Agenda des Bündnisses gestrichen und zur Gänze in den Ressortbereich Riesters verlagert.

 

Nach den Europawahlen im Juni 1999 gab die Bundesregierung schließlich einen Rentenstrukturreformplan heraus (FAZ vom 18.5.1999:17), der bei den Sozialpolitikern in der IG Metall, im DGB und in der SPD sofort heftigen Widerstand hervorrief: Die Nettolohnanpassung sollte ausgesetzt und eine Pflicht für den Aufbau einer privaten Altersvorsorge eingeführt werden. Obwohl der Obligatoriumsvorschlag aufgrund des Widerstandes der Gewerkschaften und der Zwangsrenten-Kampagne der Bild-Zeitung wieder sehr schnell zurückgenommen wurde, war es gerade die Drohung mit dem Obligatorium, die den Verlauf der Rentenreform entscheidend prägte. Die Drohung der staatlichen Intervention regte die Selbstregulierungskompetenz der Verbände an. Im Rahmen des dritten Bündnistreffens verabschiedeten BDA und DGB im Juli 1999 eine Erklärung, in der sie vereinbarten, sich für die Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge einzusetzen: Auf der Basis freiwilliger Vereinbarungen und/oder tariflicher Regelungen sollten Einkommensbestandteile künftig im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge angelegt werden können (BDA/DGB 1999: Nr. 7). Riesters Obligatoriumsvorstoß folgte die Selbstverpflichtung der Dachverbände, weitere Säulen der Altersvorsorge aufzubauen und die konkrete Ausgestaltung den Tarifpartnern zu überlassen. Der Rest der Rentenreform drehte sich nun darum, sich auf mehrheits- und verhandlungsfähige Bedingungen und Regeln zu einigen, wie diese Säulen finanziert werden können. In Frage kamen dabei zum einen die steuerliche Subventionierung und zum anderen Eigenleistungen der Arbeitnehmer.

 

Hinsichtlich des staatlichen Finanzierungsanteils wurde im Kontext der Debatte um die Haushaltskonsolidierung 1999 eine Einigung zwischen Riester und dem Bundesfinanzminister erzielt. Von den 28 Mrd. DM, die Hans Eichel im Haushaltssanierungsgesetz von 1999 als Sparmaßnahme ansetzte, brachte allein 12,8 Milliarden DM der Bundesarbeitsminister ein (FAZ vom 27.5.1999: 3).[25] Just als das Bundeskabinett das Sparprogramm beschlossen hatte, zeichnete sich auch eine Lösung des Finanzierungsproblems in der Rente ab. Am Tag des Kabinettsbeschlusses über Eichels Sparprogramm kündigte Riester an, dass die Einrichtung einer zusätzlichen privaten Altersvorsorge gefördert werden würde (HB vom 24.6.1999: 4). Im Herbst 1999 lagen zwei Formen der staatlichen Finanzierung der Altersvorsorge vor: Erstens die staatlichen Zulagen für eine private Altersvorsorge und zweitens die Freistellung der Tariffonds von Steuern und Sozialabgaben (SZ vom 22.9.1999: 6). Hinsichtlich des Finanzierungsbeitrages der Arbeitnehmer kam schließlich die Chemiegewerkschaft der Bundesregierung zur Hilfe. Als Alternative für die gescheiterte Obligatoriumslösung bot sie ihr Modell der Umwandlung von Entgelt für die betriebliche und tarifliche Altersvorsorge an. Bereits 1998 war in der chemischen Industrie ein Tarifvertrag zur Entgeltumwandlung abgeschlossen worden. Das Modell der Chemiegewerkschaft fand beim Arbeitsminister Akzeptanz. Bei einem Treffen der Gewerkschaften im Bundeskanzleramt im Juni 2000 kündigte Gerhard Schröder an, dass die Bundesregierung einen Rechtsanspruch auf beitragsfreie Entgeltumwandlung einführen werde (BZ vom 30.6.2000: 35). In der Tarifrunde 2001 schlossen die Tarifpartner der chemischen und metallverarbeitenden Industrie schließlich Tarifverträge zur Entgeltumwandlung für die Altersvorsorge ab.

 

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine sequenzorientierte Perspektive auf die rot-grüne Rentenpolitik den in der Riester-Reform zum Ausdruck kommenden Policy-Wandel insofern plausibel explizieren kann, als sie die Veränderung der Rentenpolitik in Bezug zu Folgeproblemen der etablierten Rentenpolitik setzt und ferner verständlich macht, warum die etablierte Rentenpolitik in Richtung Stärkung der zweiten und dritten Säule verändert wurde. Die Sequenzorientierung verdeutlicht, dass die Einführung einer zweiten und dritten Säule in der Rentenversicherung - das Innovative der Reform - nicht nur einem exogenen Schock geschuldet ist. Die Riester-Rente und die Einführung tariflicher und betrieblicher Altersvorsorgesysteme haben ihre Ursache ebenso in einer veränderten Tarifpolitik, die die Sozialpolitiker in den Gewerkschaften, welche bei der Reform als die aggressivsten Vetoakteure auftraten, geschwächt hat. Die Veränderung der Tarifpolitik war jedoch selbst wiederum Folge einer nachlassenden sozialintegrativen Wirkung der etablierten Rentenpolitik auf der intermediären Ebene, die aufgrund des Anstiegs der Lohnnebenkosten entstand. Es lässt sich nicht nur eine strukturelle Veränderung des institutionellen Rahmens feststellen, der den rentenpolitischen Entscheidungsprozess strukturierte, sondern auch eine Veränderung von Präferenzen hinsichtlich von Handlungsoptionen in der Altersvorsorge. Ein Teil der Problemlösungskompetenz wanderte zu den Tarifpartnern über. Ein Teil der Gewerkschaften und Bundesarbeitsminister Riester erkannten den Tarifvertrag als Regelungs- und Finanzierungsinstrument für die Altersvorsorge. Weil die Rentenreform die Tarifpartner in die Erstellung und Bereitstellung der Altersvorsorge integriert, waren die Zustimmung der Tarifpartner (nicht nur der Dachverbände!) und deren konkludentes Verhalten durch den Abschluss von Tarifverträgen zur Altersvorsorge für den Inhalt dieser Reform genauso von substanzieller Bedeutung wie die Zustimmung der Opposition, des Bundesrates und die Modernisierung der Sozialdemokratie.

 

Mit anderen Worten: Die Sequenzorientierung verdeutlicht, dass die Riester-Rente nicht inkrementell die etablierte Rentenpolitik fortschreibt, sondern Teil eines Prozesses schöpferischer Selbstzerstörung des bundesdeutschen Sozialversicherungssystems ist, der durch das Zusammenspiel von exogen bedingten Ereignissen (Wiedervereinigung, Maastricht, demographischer Wandel und Internationalisierung) und endogen bedingten Problemsequenzen einen innovativen Policy-Wandel ermöglichte. Es wurden in der Rentenpolitik Handlungsoptionen mehrheits- und verhandlungsfähig, die ein Alter und nicht ein Plus oder Minus zum Status quo darstellten.

 

 

6  Schlussbetrachtung

 

Um Missverständnissen vorzubeugen: Möglichkeiten und Grenzen einer Erneuerung der Sozialpolitik werden fundamental von der Frage bestimmt, wie Politik und Verbände im Kontext institutioneller Rahmenbedingungen des Parteiensystems oder der Verhandlungsdemokratie interagieren und sich strategisch zueinander positionieren. Die Politikforschung beraubt jedoch die Politik ihres Orientierungssinnes, wenn sie diese zu sehr durch Parteienwettbewerb und Verhandlungsdemokratie domestiziert betrachtet. Staatliche Politik, so möchte ich behaupten, würde ohne eine kontinuierliche, aber radikale Fortentwicklung von Problemlösungen (Policies) und Problemlösungskompetenzen (als Teil der institutionellen Rahmenbedingungen) in der unsicheren Umwelt der modernen Gesellschaft und kapitalistischen Ökonomie die System- und Sozialintegration der Gesellschaft nicht gewährleisten können. Es ist aber gerade diese radikale Fortentwicklung, die die Politikforschung, wenn sie ihr Forschungsprogramm zu sehr nach Mechanismen der Interaktion von Konfliktregelungsmustern ausrichtet, ein wenig aus den Augen verliert.

 

Mein Argument ist nicht, dass die Interaktionsorientierung der Politikwissenschaft generell durch eine Sequenzorientierung ersetzt werden soll. Der Beitrag stellt auch keinen Versuch dar, den interaktionsorientierten Ansatz durch den Vergleich seiner Erklärungskraft mit der einer sequenzorientierten Analyse zu falsifizieren, was ohnehin prinzipiell nicht möglich ist. Interaktionsanalyse und Sequenzanalyse stellen nämlich keine Alternativen dar, weil Interaktionsanalysen vorrangig Interaktionen analysieren und Sequenzanalysen Sequenzen. Am Beispiel der Riesterschen Rentenreform will ich allerdings aufzeigen, dass die Betrachtung von Sequenzen, das heißt die Betrachtung von Policy-Wandel als Abfolge von aufeinander folgenden sozialen Interaktionen es der Politikwissenschaft ermöglicht, Policy-Wandel als Resultat eines radikalen Präferenzwandels, der graduell vonstatten geht, zu analysieren. Wie Interaktionsanalysen betrachten Sequenzanalysen politische Entscheidungen post festum. Anders als Interaktionsanalysen gehen jedoch Sequenzanalysen davon aus, dass sich Politiken (gesellschaftliche Problemlösungen) aufgrund der Selbsttransformation von Problemen, Präferenzen und institutionellen Rahmenbedingungen verbrauchen können, was quasi in einem Prozess der schöpferischen Selbstzerstörung innovativen Policy-Wandel ermöglicht, weil dieser für staatliche, parteidemokratische und verbandliche Akteure profitabel wird. Weil nach Riester Hartz und die Gesundheitsreform kam, lohnt es sich für die Politikwissenschaft, sich für solche Fälle innovativen Politikwandels zu rüsten. "Unter sonst gleichen Bedingungen" scheint nicht immer eine realistische Annahme zu sein. Bei den gegenwärtigen fiskalischen Problemen der Sozialpolitik ist dies in besonderem Maße der Fall.

 

Die Frage ist freilich, ob es einen kritischen Wert gibt, an dem der Imperativ der Sozialintegration die Politik zu einem radikalen Wandel treibt. Um solche kritischen Werte aufzuspüren, gilt es zunächst, die Mechanismen graduellen Präferenzwandels eingehender zu untersuchen. Die Policy-Analyse könnte dabei an neuere Konzepte der Analyse von institutionellen Wandel anschließen (vgl. hierzu Streeck/Thelen 2005), die die Bedeutung von Mechanismen graduellen institutionellen Wandels für radikalen institutionellen Wandel betonen.

 

Streeck/Thelen (2005) betrachten die Erklärungskraft des Rationalwahlansatzes der institutionalistischen Literatur kritisch. Dieser Ansatz geht mit dem Modell des "punctuated equilibrium" einher, das - ähnlich der Blockadethese - Phasen des Wandels vorrangig in kurzen Zeiten einer radikalen Veränderung der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen lokalisiert, ansonsten jedoch aufgrund institutioneller Pfadabhängigkeit die Wiederholung der immer selben Handlungslogiken als Regelfall definiert. Sie schlagen daher vor, Institutionen weniger - wie im Rationalwahlansatz üblich - als Koordinierungsinstrumente (Streeck/Thelen 2005: 11) denn als Regime zu betrachten (Streeck/Thelen 2005: 13). Als Regime definiert stellen Institutionen legitimierte, das heißt von der Gesellschaft sanktionierte Verhaltensregeln dar, wobei jedoch bei der Anwendung der Regeln regelmäßig Abweichungen zu dem durch die Regeln legitimierten Verhalten auftreten können[26], so dass aus Inkongruenzen zwischen den Regeln und ihrer Übersetzung in Handeln Spielräume entstehen, die unterschiedliche Handlungslogiken zulassen. Der kreative Umgang mit Institutionen kann so, wenn die Abweichung vom legitimierten Verhalten mit veränderten externen Rahmenbedingungen einhergeht, zum Spielfeld von Experimenten politischer Unternehmer werden, die am Ende in einem radikalen Wandel der Verhaltensregeln resultieren können. Trifft endogener, inkrementeller Wandel auf exogen bedingte Veränderungen der Rahmenbedingungen, kann radikaler Wandel die Folge sein:

 

 How can transformative change result from incremental change, in the absence of exogenous shocks? Institutional structures, our chapters suggest, may be stickier than what they do and what is done through them. If the latter changes significantly, however gradually, analytical frameworks that take the absence of disruption as sufficient evidence of institutional continuity miss the point, given that the practical enactment of an institution is as much part of its reality as its formal structure. […]

 

Fundamental change, then, ensues when a multitude of actors switch from one logic of action to another. This may happen in a variety of ways, and it certainly can happen gradually and continuously. For example, given that logics and institutional structures are not one-to-one related, enterprising actors often have enough 'play' to test new behaviors inside old institutions, perhaps in response to new and as yet incompletely understood external conditions, and encourage other actors to behave correspondingly.  (Streeck/Thelen 2005: 18, Hervorh. im Orig.)

 

Weil auch Policies Institutionen im oben definierten Sinne sein können (Streeck/Thelen 2005: 12), könnte die Policy-Forschung bei der Analyse von graduellem Präferenzwandel an diese Überlegungen zur Analyse von graduellem, aber radikalem Institutionenwandel in weiteren Studien zu diesem Thema anschließen. Eine Frage, die dabei auf Grundlage der in diesem Papier herausgestellten sozialintegrativen Wirkung von Policies im Mittelpunkt stehen sollte, ist: Unter welchen Bedingungen werden bestimmte Schwellenwerte ereicht, an denen der Verlust an sozialer Integration Präferenzwandel auslöst?

 

 

 

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Endnoten

 

1

Hall (2005) unterscheidet drei alternative "Forschungsprogramme", die in der vergleichenden Politikwissenschaft gegenwärtig verfolgt werden: neomaterialistische Ansätze, Analysen, die auf den Rationalwahlansatz Bezug nehmen, und schließlich ideenorientierte Studien im Rahmen von konstruktivistischen Ansätzen.

 

2

Obwohl der hier entwickelte Vorschlag einer sequenzorientierten Policy-Analyse sowohl Präferenzen als auch Institutionen endogenisiert, halte ich die Implikation, die Formierung von Präferenzen systematisch zu betrachten, für die gewichtigere Schlussfolgerung. Ich sehe dies darin begründet, dass Präferenzen der Politik die inhaltliche Richtung vorgeben, und ihr Wandel insofern Rückschlüsse auf die inhaltliche Ausrichtung von Policy-Wandel erlauben.

 

3

Analytisch unterscheidet Lehmbruch (2000a [1976]: 15) zwischen dem hierarchischen Regelsystem, dem Regelsystem des Parteienwettbewerbs und dem Regelsystem des Verhandelns. Scharpf (2000: 43) differenziert analytisch zwischen vier verschiedenen "Interaktionsformen": einseitiges Handeln (nicht-kooperative Spiele, wechselseitige Anpassung und negative Koordination), Verhandlungen (Spot-Verträge, distributives Bargaining, Problemlösen und positive Koordination), Mehrheitsentscheidungen und hierarchische Steuerung.

 

4

Das Regelsystem Bundeskanzler wird durch das Parteiensystem, die Koalitionsregierung, "policy resources" und die Persönlichkeit des Kanzlers bestimmt (Haungs 1986; Smith 1993; Korte 2000; Helms 2001).

 

5

Scharpf (2000: 122, Fn. 14) hebt hervor, dass in der Policy-Forschung "Kontroversen über die Stabilität und Veränderbarkeit von Präferenzen manchmal nur auf semantischen Unterschieden beruhen". Während sich Intentionen, eine bestimmte Strategie zu wählen, verändern können, so Scharpf, seien Präferenzwechsel, also der Wechsel von Bewertungskriterien, "seltener zu beobachten" (ebd.).

 

6

Das ist deswegen der Fall, weil Policies, auf die sich die Präferenzen beziehen, als Problemlösungen definiert sind.

 

7

Der Vetospieler-Ansatz möchte die Fähigkeit von politischen Systemen zu Policy-Wandel erklären (Tsebelis 1995: 289; Tsebelis 2000). Unabhängige Variable sind die Vetospieler ("institutional vetoplayers" und "partisan vetoplayers"), wobei nach Tsebelis für deren Einfluss auf die Veränderung in Bezug zum Status quo drei Parameter entscheidend sind: Anzahl der Vetospieler, Kongruenz und interne Kohäsion der Vetospieler. Die Vetospieler-Theorie betrachtet das Handeln der Akteure innerhalb bestehender Strukturen (institutionelle Vetospieler wie die Zweite Kammer). Tsebelis geht es um die Bestimmung der Dynamiken und Strategien der Akteure innerhalb verfestigter institutioneller Rahmenbedingungen.

 

8

Manow/Burkhart (2004) schlagen zur Analyse von konflikt- und kooperationsorientierten Verhalten von Regierung und Opposition im deutschen Föderalismus das Modell der "legislativen Autolimitation" vor. In diesem Modell hängt die Wahl von konsens- und kompromissorientierten Verhalten von den Mehrheitsverhältnissen, den Politikdistanzen zwischen Regierung und Opposition und der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Reform ab.

 

9

Dieses Konzept der Gleichgewichtsergebnisse ist notwendig, weil sonst nicht-kooperative Spiele, also Spiele ohne verbindliche Vereinbarungen, in einen "unendlichen Regreß von immer kontingenteren Antizipationen" (Scharpf 2000: 31) münden würden.

 

10

Mir geht es hier nicht um eine generelle Kritik an Ansätzen der interaktionsorientierten Policy-Forschung, sondern um eine Verdeutlichung ihrer Prämissen. Auch kann im Rahmen dieses Beitrages nicht der Vielfalt und Ausdifferenziertheit der verschiedenen Ansätze Rechnung getragen werden.

 

11

Merkel (2003: 271) fordert, den "institutionelle[n] Strukturalismus" des Vetospieler-Ansatzes stärker mit Handlungskomponenten zu verbinden.

 

 

12

Wie bereits erwähnt, könnte man alternativ - wie es zum Beispiel Manow/Burkhart (2004) tun - auch ein spieltheoretisches Modell entwickeln, dass die determinierende Wirkung der Blockadethese weniger rigoros handhabt.

 

13

Auch unter den Rationalwahlmodellen gibt es solche, die Sequenzen integrieren, indem sie die Reihenfolge, in der Policy-Vorschläge gemacht werden, als bedeutenden Faktor für die kollektive Entscheidungssituation hervorheben (Pierson 2004: 58-63). Sequenz bezeichnet dort die Reihenfolge in der Auswahl verschiedener Alternativen, jedoch nicht - wie hier gemeint - die Art und Weise, wie sich Interaktionen über die Zeit entfalten.

 

14

Von der Sozialintegration ist die Systemintegration zu unterscheiden (Lockwood 1964, 1979), die ich im Folgenden nicht weiter ansprechen werde, die jedoch in der Analyse von Policy-Wandel ebenso Berücksichtigung finden sollte. Während die Sozialintegration die Akteurebene anspricht - hier geht es nach Lockwood (1979: 125; Hervorh. im Orig.) um die "geordneten und konfliktgeladenen Beziehungen der Handelnden eines sozialen Systems"-, dreht es sich beim Problem der Systemintegration "um die geordneten oder konfliktgeladenen Beziehungen zwischen den Teilen eines sozialen Systems" (ebd.; Hervorh. im Orig.). Nach Lockwood ist die Unterscheidung zwischen Sozial- und Systemintegration analytisch sinnvoll, weil Systemintegration nicht zwangsläufig Sozialintegration sichert. Empirisch, so Lockwood, hängen beide Integrationsprobleme jedoch zusammen, so dass sozialer Wandel nur durch die Berücksichtigung von Sozial- und Systemintegration untersucht werden kann. Schwinn (2001: 212) hebt hervor, dass die neue Systemtheorie (Luhmann, Nassehi) diese Grundidee Lockwoods nicht aufgreift, weil hier die soziale Integration "zum Verschwinden" gebracht würde.

 

15

Die systemintegrative Bedeutung von Policies ist darin zu verorten, dass dysfunktionale Policies, also Policies, deren Ziele nicht mehr mit den vorhandenen Ressourcen eines Gemeinwesens erfüllt werden können, die Koordination zwischen verschiedenen Policies dergestalt beeinflussen, dass sich die Art der Interdependenz zwischen Policies verändert. Dies kann die Funktionsfähigkeit der Gesamtgesellschaft empfindlich stören.

 

16

Hier greife ich Schwinn (2001) auf, der hinsichtlich der sozialintegrativen Bedeutung der staatlichen Ordnung mehrere Ebenen unterscheidet: die kulturelle, die rechtliche, die intermediäre, die legitimatorische und die Ebene des Lebenslaufs. Auf der intermediären Ebene hat die staatliche Ordnung nach Schwinn (2001: 211) eine sozialintegrative Bedeutung, weil sie "einen notwendigen Rahmen für die Konfliktinstitutionalisierung zwischen den Interessengruppen bildet". Zu den Bedingungen der Sozialintegration nach innen (bei Streeck 1987: Mitgliedschaftslogik) und der Systemintegration nach außen für intermediäre Organisationen in sich ändernden Umwelten (bei Streeck 1987: Einflusslogik) vgl. allgemein Streeck 1987.

 

17

Auch Arthur Benz (2003: 230) betont, dass eine der zentralen Schwächen der Vetospieler-Theorie ihre Annahme der determinierenden Wirkung von Institutionen sei. Um der Innovationsfähigkeit der Politik besser Rechnung tragen zu können, schlägt Benz (2003: 230) vor, die Veränderbarkeit institutioneller Rahmenbedingungen durch "Krisen" zu berücksichtigen: "Politische und wirtschaftliche Krisen führen regelmäßig dazu, dass Vetos, welche die Handlungsfähigkeit eines politischen Systems blockieren, als illegitim betrachtet werden. In diesen Fällen nimmt in intergouvernementalen Verhandlungen der Druck, einen Konsens zu erreichen, zu, und Parlamente verzichten auf störende Interventionen. Auch Vetos, die besondere Interessen auf Kosten einer problemlösenden Entscheidung stützen, können Legitimationsprobleme aufwerfen, auf die Inhaber von Vetomacht achten müssen. Diese Faktoren resultieren aus den Zufälligkeiten von Ereignissen, weshalb über die nur schwer generalisierbare Aussagen gemacht werden können." Mein Vorschlag einer Sequenzanalyse greift diesen Einwand von Benz auf; im Gegensatz zu Benz möchte ich jedoch hervorheben, dass Entscheidungsblockaden aufhebende Krisen durch etablierte Problemlösungen verursacht sein können, und damit nicht nur aus zufälligen Ereignissen resultieren, über die keine generalisierbaren Aussagen getroffen werden können.

 

18

Bei der Beschreibung der sozialintegrativen Bedeutung staatlicher Ordnung lehne ich mich an die Darlegung Schwinns (2001) an. Ich greife von Schwinn drei Formen der sozialintegrativen Bedeutung staatlicher Ordnung auf: die auf der kulturellen, der rechtlichen und der intermediären Ebene.

 

19

Daraus zu schlussfolgern, dass Problemlösungsfähigkeit Voraussetzung für soziale Integration ist, wäre gleichwohl naiv. Allerdings kann kaum bestritten werden, dass es die Erwartung des Wählers und der öffentlichen Meinung gibt, dass die Politik Probleme löst, die Politiker auf diese Erwartungen auch eingehen und ein Scheitern der Politik bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme zu Stimmverlusten bei den nächsten Wahlen führen kann. Es kann auch kaum bestritten werden, dass Policies, wenn ihre Ziele mit den vorhandenen Ressourcen des Gemeinwesens nicht mehr erfüllt werden können, dysfunktional werden. Ebenso plausibel ist es, dass Verbände und Parteien bei der Bearbeitung von gesellschaftlichen Problemen auf die Loyalität ihrer Untergliederungen und Mitglieder angewiesen sind.

 

20

Der Beitrag fokussiert damit auf die Wirkung von politischen Macht- und Interessenauseinandersetzungen auf politischen Wandel. Er schließt damit an Ansätze an, die die Bedeutung der Politics betonen. Eine Betrachtung der sozialintegrativen Bedeutung von Policies auf der kulturellen Ebene würde demgegenüber den langfristigen Wandel politischer Deutungen hinsichtlich wahrgenommener Probleme und ihrer Lösungen in den Vordergrund stellen. Legt man in einer sequenzorientierten Analyse den Schwerpunkt auf diese Ebene, so wäre sie an den Ansatz der Wissenssoziologie anschlussfähig; vgl. hierzu aktuell und bezogen auf rentenpolitische Entscheidungsprozesse Marschallek (2004).

 

21

Zu den offiziellen Reformkonzepten in der Rentenpolitik zu Beginn der Legislaturperiode vgl. Koalitionsvertrag zwischen SPD und Bündnis90/Die Grünen vom 28. Oktober 1998, 24-25; SPD-Programm für die Bundestagswahlen 1998 vom 17. April 1998, 22-23; Bündnis 90/Die Grünen, 1998, "Grün ist der Wechsel", Programm zur Bundestagswahl 1998, 5, 21-22; 36-37. Im SPD-Programm für die Bundestagswahlen 1998 wird als Ziel "ein weiterhin bezahlbares Rentensystem, das den Menschen im Lebensalter einen angemessen Lebensstandard sichert" (SPD 1998: 22) definiert. Der Koalitionsvertrag formuliert als Ziel "ein bezahlbares Rentensystem, das den Menschen im Lebensalter einen angemessenen Lebensstandard garantiert" (Koalitionsvereinbarung 1998: 24). Der Koalitionsvertrag legte ferner fest, den demographischen Faktor und die Kürzung der Erwerbsminderungsrente der Regierung Kohl auszusetzen. Systemkonsolidierenden Charakter hatten die Konzepte insofern, als von einer Aufgabe der paritätischen Finanzierung nicht die Rede war. Weitere Säulen werden angesprochen. Deren Funktion wird jedoch nicht als Ersatz für Kürzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung definiert.

 

22

Dies belegen Umfragen, die Mitte der 1990er-Jahre stattfanden. So z.B. die Umfrage der Wirtschaftsjunioren Deutschland vom Mai 1994 (FAZ vom 27.7.1994: 12; SZ vom 27.7.1994: 12), die vom Meinungsinstitut Emnid ausgewertet wurde und in der sich eine Mehrheit der Befragten (52 Prozent) dafür aussprach, die Lohnnebenkosten zu reduzieren. In einer empirischen Studie des Forschungsinstituts für Ordnungspolitik (FiO 1996: 9; 12) von 1996 empfinden 76,4 Prozent der Befragten die Sozialabgabenbelastung als zu hoch und 87,4 Prozent erklären, "dass die Belastung der Arbeitnehmer und Unternehmen durch Sozialversicherungsbeiträge nicht weiter steigen darf".

 

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Zwischen 1987 und 1997 stieg der Anteil der 22- bis 26-Jährigen und der 27- bis 31-Jährigen, die sich für Eigenvorsorge in der Sozialversicherung aussprachen, um 9,1 Prozentpunkte (von 18,5 Prozent auf 27,6 Prozent) beziehungsweise 10,1 Prozentpunkte (von 25,8 Prozent auf 35,9 Prozent), während er über alle Altersgruppen hinweg lediglich um 4,7 Prozentpunkte (von 19,7 Prozent auf 24,4 Prozent) stieg (vgl. Rinne 2000: 38, Tab. 4). Weniger deutlich setzen sich 20- bis 30-Jährige von den restlichen Altersgruppen bei der Bewertung der Sozialbeiträge als zu hoch ab; in der Altersgruppe der 22- bis 26-Jährigen stieg zwischen 1987 und 1997 der Anteil um 14 Prozentpunkte (von 26,2 Prozent auf 40,2 Prozent), bei den 27- bis 31-Jährigen um 18,6 Prozentpunkte (von 30,9 Prozent auf 49,5 Prozent). Über alle Altersklassen verteilt stieg der Anteil um 12,9 Prozentpunkte von 24 Prozent auf 36,9 Prozent. Dabei wurde 1987 nach den Beiträgen für die Kranken- und Rentenversicherung und 1997 für die Sozialversicherung insgesamt gefragt (vgl. Rinne 2000: 36, Tab. 3; eigene Berechnungen).

 

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Das Rentenniveau von 67 Prozent nach der Riester-Reform kommt durch einen Rechentrick zustande. Die Berechnungsgrundlage (§68 SGB IV neu) wurde verändert. Nach alter Berechnung würde das Rentenniveau 64 Prozent betragen (Unterhinninghofen 2002: 217).

 

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Das Bundesarbeitsministerium brachte seinen Konsolidierungsbeitrag durch folgende Maßnahmen auf: Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe, Senkung der Bemessungsgrundlage für den Rentenversicherungsbeitrag der Wehr- und Zivildienstleistenden von 80 auf 60 Prozent; Senkung der Bemessungsgrundlage für den Rentenversicherungsbeitrag der Empfänger von Arbeitslosenhilfe durch Umstellung der Bemessungsgrundlage von Bemessungsentgelt auf Zahlbetrag der Arbeitslosenhilfe; die Rentenanpassung sollte für 2000 und 2001 nicht nach den Nettolöhnen, sondern nach der Inflationsrate erfolgen; für das Arbeitslosengeld, die Arbeitslosenhilfe, das Unterhaltsgeld und das Übergangsgeld wurde das Bemessungsentgelt von Juli 2000 bis Juni 2002 nicht nach dem Bruttolohn, sondern nach der Inflation angepasst; für Maßnahmen der SAM-Ost wurde der Zuschuss auf 70 Prozent des monatlichen Höchstförderungsbetrages begrenzt; das Bemessungsentgelt für das Krankengeld wurde von Juli 2000 bis Juni 2002 nicht nach den Nettolöhnen, sondern nach Inflation angepasst.

 

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Damit wird eine Institution als Regime im Sinne Max Webers Herrschaftsverband definiert (Streeck/Thelen 2005: 13).

 

 


Copyright © 2005 Christine Trampusch

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[Zuletzt geändert am 29.03.2007 10:59]