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MPIfG Working Paper 05/3, März 2005
Sequenzorientierte Policy-Analyse: Warum die Rentenreform von Walter Riester nicht an
Reformblockaden scheiterte
Christine Trampusch
,
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
Für Kritik an früheren Versionen des Papiers möchte
ich mich bei Anke Hassel, Martin Höpner, Philip Manow, Britta Rehder und
Wolfgang Streeck bedanken, ferner bei Raymund Werle und Helen Callaghan für die
vielen konstruktiven Hinweise, die ich ihren Gutachten entnehmen durfte.
Zusammenfassung
Aufgrund der Eigentümlichkeiten des deutschen
Regierungssystems gehen viele politikwissenschaftliche Studien von der
Blockadethese aus. Die Blockadethese gründet in der Annahme gegebener
Präferenzen und stabiler institutioneller Rahmenbedingungen und führt auf der
analytischen Ebene zu am Rationalwahlansatz orientierten Interaktionsanalysen,
die politische Entscheidungen von der Veränderung gesellschaftlicher Probleme,
Präferenzen und institutioneller Rahmenbedingungen isoliert betrachten.
Interaktionsorientierte Analysen fokussieren auf die Erklärung von
inkrementellen Policy-Wandel. Anhand der innovativen Rentenreform von
Bundesarbeitsminister Walter Riester wird vorgeschlagen, Rückkoppelungseffekte
von Policies auf das Handeln politischer Akteure zu betrachten, und Politik
damit dynamisch zu betrachten. Theoretisch wird dies mit dem Bedarf an
sozialintegrativer Wirkungen von Policies begründet. Die Hauptthese des
Beitrages ist, dass Sequenzorientierung es der Policy-Forschung ermöglichen
würde, endogene Ursachen für innovativen Policy-Wandel zu identifizieren.
Abstract
Due to the specific characteristics of the German system of government,
political scientists often assume policy-making will be affected by gridlock.
Assuming exogenous preferences and stable institutional settings, they tend
analytically toward interaction studies based on rational choice. Because such
studies analyze political decisions isolated from changes in social problems,
preferences and institutional settings, their explanatory power focuses on
incremental policy change. I suggest viewing political decision-making as a
dynamic process. To do this, I examine the innovative pension reform initiated
by the former Federal Minister of Labor Walter Riester, looking at the feedback
effects of policies on political actions. At the theoretical level, this use of
temporality is based on the assumption that policies need to have social
integrative effects. My main hypothesis is that sequence-oriented analysis in
policy studies would enable us to identify endogenous causes of innovative
policy change.
1 Einleitung
2 Modul 1: Blockadebias und
Interaktionsanalyse
3 Modul 2:
Interaktionsanalyse und inkrementeller Policy-Wandel
4 Modul 3:
Sequenzanalyse und innovativer Policy-Wandel
5 Modul 4: Die Rentenreform
Walter Riesters
5.1
Sozialintegration
5.2 Änderung von Präferenzen und Konflikte um Problemlösungskompetenzen
6 Schlussbetrachtung
Literatur
1 Einleitung
In weiten Teilen der
politikwissenschaftlichen Literatur herrscht die Meinung vor, dass in der
Bundesrepublik bestenfalls inkrementeller Policy-Wandel stattfinden kann
(Benz 2000: 216-217). Dies wird in der Literatur mit dem Blockadebias des
politischen Systems begründet. Die These des Blockadebias besagt, dass im
deutschen Regierungssystem die relativ autonomen, aber interdependenten Systeme
der politischen Entscheidungsfindung, die Mehrheitsdemokratie
(Parteienwettbewerb) und die Verhandlungsdemokratie (Korporatismus,
Bikameralismus), jeweils einen bestimmten Strategieraum determinieren und sich
inkompatibel zueinander verhalten können. Kompromisse zwischen verhandelnden
Akteuren können durch den Parteienwettbewerb wieder außer Kraft gesetzt werden.
Ebenso können Institutionen der Verhandlungsdemokratie, wie der Bundesrat,
parteipolitisch instrumentalisiert werden, die Konsens- und
Korporationserfordernisse des Bikameralismus also durch den Parteienwettbewerb
überlagert werden.
Die These des
Blockadebias bringt am Rationalwahlansatz orientierte
Interaktionsanalysen mit sich, die Politik unter der Annahme gegebener
Präferenzen und stabiler Institutionen statisch betrachten. Einzelne
politische Entscheidungen werden damit von der Veränderung gesellschaftlicher
Probleme, Präferenzen und institutioneller Rahmenbedingungen isoliert. Tritt
nicht ein exogener Schock auf, der zu einem radikalen Wandel der
Akteurpräferenzen führt, ist innovativer Policy-Wandel so gut wie
ausgeschlossen. Endogen bedingter, signifikanter Präferenzwechsel, ja generell
Prozesse der Formierung von Präferenzen werden in diesem Literaturzweig
wenig thematisiert.
Nun hat jedoch im Fall
der Riester-Reform wie auch der Hartz-Gesetze ein innovativer Policy-Wandel
stattgefunden, was beweist, dass die dem deutschen System inhärenten Blockaden
nicht unüberwindbar sind und radikale Kurswechsel in der Politik nicht
zwangsläufig verhindern. Riesters Rentenreform hat das Monopol der staatlichen
Sozialversicherung in der Altersvorsorge durch die Einführung einer zweiten und
dritten Säule aufgebrochen und im Zuge der Hartz-Reformen wurde die
Arbeitslosenhilfe abgeschafft, mit der Sozialhilfe zur neuen Leistung
Arbeitslosengeld II zusammengeführt, und damit von einer Lohnersatz- zu einer
Fürsorgeleistung mit Bedürftigkeitsprüfung gemacht.
Wenn in einem vielfach
verflochtenen Regierungssystem eine Reform den Status quo radikal in Frage
stellt und überkommene Policies nicht mehr fortschreibt, so hat die
Politikwissenschaft - analytisch betrachtet - zwei Möglichkeiten, einen solchen
Wandel zu untersuchen. Die erste Möglichkeit besteht darin, die These des
Blockadebias weniger rigoros zu handhaben und unter Beibehaltung der Annahmen
des Rationalwahlansatzes radikalen Politikwandel beispielsweise als strategische
Reaktion auf drohende Vetos zu interpretieren. Die Hartz-Reformen und vor allem
die ebenfalls Parteien übergreifend verabschiedete Gesundheitsreform waren der
Anlass, solche Modellierungen weiterzuentwickeln (Manow/Burkhart 2004).
Alternativ könnte die Politikwissenschaft jedoch auch anhand anderer Modelle als
des Rationalwahlansatzes solche politischen Entscheidungen analysieren.[1]
Genau an diese Frage
schließt das Papier an. Am Beispiel der Riesterschen Rentenreform untersucht es
innovativen Policy-Wandel genauer. Dabei entwickle ich die These, dass es sich
für die Analyse innovativen Policy-Wandels lohnt, Prozesse des
Präferenzwandels
eingehender zu untersuchen, als es in am Rationalwahlmodell
orientierten Interaktionsanalysen geschieht. Die Präferenzformierung
wird im Rationalwahlansatz nicht systematisch analysiert, weil dieser
von gegebenen Präferenzen ausgeht (Hall 2005). Für die Analyse solcher
Prozesse des Präferenzwandels schlägt der Beitrag vor, die Ursachen für
innovativen Policy-Wandel nicht - wie im Rationalwahlansatz in der
Regel üblich - zu exogenisieren, sondern neben exogen bedingten
Veränderungen von Präferenzen ebenso endogene Ursachen für
Präferenzwandel zu identifizieren.
Der Beitrag ist in
vier Module unterteilt. Modul 1 stellt die These des Blockadebias und
dessen Prämissen vor. Dies sind die Annahme (1.) exogener (gegebener)
Akteurpräferenzen, (2.) stabiler institutioneller Rahmenbedingungen und (3.) die
"Unter-sonst-gleichen-Bedingungen"-Annahme (Ceteris-paribus-Annahme). Ausgehend
von diesen Annahmen fokussieren Analysen, die den Blockadebias als plausibel
erachten, bei der Analyse von Politik auf Akteurkonstellation und Effekte
derjenigen politischen Institutionen, die Entscheidungen blockieren können (vgl.
hierzu Manow/Ganghof 2005). Modul 2 untersucht im Allgemeinen und anhand
der Literatur über die Reformpolitik von Rot-Grün in der ersten Regierung
Schröder (1998 bis 2002), warum Interaktionsanalysen eine Präferenz für
inkrementellen Policy-Wandel entwickelt haben und sich weitgehend der
Möglichkeit berauben, die Erklärung von innovativen Policy-Wandel zu
endogenisieren.
Modul 3
schlägt vor, in der Analyse von innovativem Politikwandel
Rückkoppelungseffekte von Problemlösungen auf das Handeln politischer
Akteure mit einzubeziehen. Es wird mit anderen Worten die "Ceteris-paribus"-Annahme
hinsichtlich stabiler institutioneller Rahmenbedingungen und exogener
Präferenzen fallen gelassen. Die erklärenden Variablen Präferenzen und
politische Institutionen werden endogenisiert.[2]
Die Beachtung von Rückkoppelungseffekten ist für die Politikwissenschaft von
theoretischem Interesse, weil solche Rückkoppelungsprozesse die Sozial- und
Systemintegration, auf die moderne demokratische Gesellschaften gründen,
beeinflussen. Rückkoppelungseffekte lassen damit auf Legitimitätsfragen
schließen. Weil die Berücksichtigung von Rückkoppelungseffekten in einem
statischen Analysemodell zirkuläre Argumentation zur Folge hat, schlägt der
Beitrag in Anlehnung an Büthe (2002: 485) auf methodischer Ebene vor,
sequenzorientiert politische Entscheidungen zu analysieren. Sequenzanalyse
betrachtet Politik dynamisch und stellt die
Selbsttransformation gesellschaftlicher Probleme, Präferenzen und
institutioneller Rahmenbedingungen aufgrund von Rückkoppelungseffekten in
Rechnung. Modul 4 wendet den sequenzorientierten Ansatz an Riesters
Rentenreform an.
Den vier Modulen folgt
eine Schlussbetrachtung, die dafür plädiert, die graduelle Transformation von
Präferenzen in der Analyse politischer Entscheidungen verstärkt zu
berücksichtigen. Die Policy-Analyse könnte dabei an neuere Konzepte der Analyse
von institutionellen Wandel anschließen (vgl. hierzu Streeck/Thelen 2005), die
die Bedeutung von Mechanismen graduellen institutionellen Wandels für radikalen
institutionellen Wandel betonen, und damit einen Gegenpunkt zu Modellen des "punctuated
equilibrium" setzen, die radikale Veränderung auf ein einflussreiches, kurze
Zeit wirkendes Ereignis (Punktuation) zurückführen, das Phasen der
instititutionellen Stasis aushebt.
2 Modul 1: Blockadebias und Interaktionsanalyse
In der Analyse politischer Entscheidungen in der Bundesrepublik unterscheidet
die Politikwissenschaft verschiedene Subsysteme, in denen politische
Entscheidungen getroffen werden. Lehmbruch (2000a [1976]: 14) spricht von "Regelsysteme[n]"
und "Stile[n] der Konfliktregelung" und unterscheidet dabei Konkurrenzdemokratie
und Verhandlungsdemokratie (Lehmbruch 2000a [1976]), und damit
Mehrheitsentscheidungen und Verhandlungen.[3]
In der Literatur werden dabei hinsichtlich des Regelsystems "Verhandlungen" zwei
weitere Differenzierungen vorgenommen. Hier wird erstens zwischen
Konkordanzdemokratie (Koalitionsregierungen), Korporatismus und
konstitutioneller Politikverflechtung (vgl. dazu Czada 2000) unterschieden und
zweitens im Regelungssystem Korporatismus davon ausgegangen, dass dieser
institutionell segmentiert, weil funktional differenziert ist, und
dementsprechend zwischen Tarifvertragssystem, arbeitsmarktpolitischen
Institutionen, dem System der Gesetzlichen Krankenversicherung und den
Alterssicherungssystemen zu differenzieren ist (Lehmbruch 2000b). Insgesamt wird
so zwischen sieben Subsystemen unterschieden, die als jeweils eigentümliche und
unterschiedliche Verfahren der Entscheidungsfindung im Regierungssystem der
Bundesrepublik auftreten: (1.) der Parteienwettbewerb, (2.) die
Koalitionsentscheidung, (3.) der Föderalismus, (4.) die Tarifautonomie, (5.) das
um die Bundesanstalt für Arbeit (heute: Bundesagentur für Arbeit) gruppierte
korporatistische Regelungssystem, (6.) das korporatistische Regelungssystem
Gesundheitspolitik und (7.) das korporatistische Regelsystem Rentenpolitik. In
letzter Zeit trat zu diesen sieben Entscheidungssystemen ein achtes, nämlich das
Regelsystem Bundeskanzler (8.).[4]
Ausgehend von diesen
Regelsystemen gründen viele Studien der Policy-Forschung bei der Analyse von
Policy-Wandel auf der Blockadethese (Politikverflechtung, Scharpf/Reissert/Schnabel
1976). Weil es in der Bundesrepublik zahlreiche Vetospieler gibt und die
Verhandlungsdemokratie stark ausgeprägt ist (Konkordanzdemokratie, Korporatismus,
konstitutionelle Politikverflechtung, Czada 2000), wird die Fähigkeit der
Problembearbeiter zu Politikwechseln mit dem Bild der blockierten Gesellschaft
(Heinze 1998), einer gelähmten Problemlösungsfähigkeit (Zohlnhöfer 2003) und des
Reformstaus umschrieben. Lehmbruch (2000a [1976]: 9) betont, dass das
"Parteiensystem einerseits, und das föderative System anderseits … von
tendenziell gegenläufigen Handlungslogiken und Entscheidungsregeln bestimmt
[werden] und sich unter bestimmten Bedingungen wechselseitig lahmlegen". Scharpf
(1997a: 147) stellt als "Malaise der deutschen Politik" heraus, dass "viele
Instanzen mit Verhinderungsmacht ausgestattet sind", so dass "Veränderungen nur
nach langem Gezerre stattfinden können". An Lehmbruch und Scharpf anschließend
spricht die Politikwissenschaft von einer "Inkompatibilität" (Benz 2000: 216)
der relativ autonomen, aber interdependenten Regelsysteme, weil sie nicht nur
den Strategie- und Konfliktraum determinieren, sondern sich auch gegenseitig
stören können: "Inkompatibilität ist dann gegeben, wenn Strukturen und
institutionalisierte Verfahren in einer Arena bewirken, dass in einer anderen
Arena Störungen auftreten. Das trifft in der Verbindung von Verhandlungssystemen
und Parteienwettbewerb in besonderem Maße zu, die die bundesdeutsche Variante
einer Verhandlungsdemokratie prägt" (Benz 2000: 216).
Welche Prämissen
tragen diese These des Blockadebias in den Studien der Policy-Forschung? Ihre
Ankerpunkte sind (1.) die Annahme exogener Präferenzen, (2.) die der stabilen
institutionellen Rahmenbedingungen und schließlich (3.) die der "Unter-sonst-gleichen-Bedingungen"-Annahme.
Exogene Präferenzen bedeutet, dass die Kriterien, anhand deren Policies
bewertet werden, gegeben und relativ stabil sind (Scharpf 2000: 121-122). Die
Veränderung von Präferenzen im Verlauf von politischen Entscheidungen -
beispielsweise durch Lernprozesse oder Argumentieren (Scharpf 2000: 86) - wird
eher als Ausnahme betrachtet.[5]
In den Studien der Policy-Analyse wird dabei angenommen, dass die Präferenzen
durch den "Stimulus eines bestimmten Problems aktiviert und spezifiziert" (Scharpf
2000: 86) werden. Präferenzen, so Scharpf (2000: 87), "beziehen sich auf die
Bewertung des Status quo, auf die möglichen Ursachen des Problems, auf die
Wirksamkeit und Wünschbarkeit möglicher Handlungsoptionen und der damit
verbundenen Ergebnisse". Exogene Präferenzen haben daher zur Folge, dass sich
die Inhalte politischer Entscheidungen vornehmlich als eine Fortschreibung
vormals getroffener Entscheidungen (Policies) präsentieren.[6] Stabile
institutionelle Rahmenbedingungen heißt, dass die eben beschriebenen
Regelsysteme darüber entscheiden, welchem Akteur welche Kompetenzen zugewiesen
und welche Partizipations- und Vetorechte verliehen werden (Scharpf 2000: 86).
Die Strukturen des politischen Systems konditionieren die Akteure auf bestimmte
und vorbestimmte Strategietypen. Die "Unter-sonst-gleichen-Bedingungen"-Annahme
besagt schließlich, dass sich Präferenzen und die institutionellen
Rahmenbedingungen während des politischen Entscheidungsprozesses nicht ändern,
also im Analysemodell als konstant angenommen werden.
Die Folge dieser drei
Annahmen ist, dass sich der Ausgang von politischen Prozessen an der
Interaktion der
Akteure entscheidet (vgl. Abb. 1). Mit Fritz W. Scharpf gesprochen ist
der Ausgangspunkt vieler Studien die Identifikation der "Menge der
Interaktionen", die "die zu erklärenden politischen Ergebnisse
tatsächlich hervorgebracht haben" (Scharpf 2000: 86). Ausgehend von
diesen Interaktionsformen (Parteienwettbewerb, Koalitionsentscheidung
usw.) werden dann die individuellen und korporativen Akteure bestimmt,
"die an dem politischen Prozeß beteiligt sind und deren Entscheidungen
schließlich das Ergebnis bestimmen" (Scharpf 2000: 86).
Die Blockadethese
bringt es mit sich, dass viele Studien zu politischen Entscheidungen am
Rationalwahlansatz orientierte Interaktionsanalysen darstellen, das heißt
in Gestalt des Vetospieler-Ansatzes[7]
(z.B. Schludi 2005; König/Bräuninger 2000), des Median-Wähler-Modells (vgl. z.B.
Schludi 2005; Ganghof 2004; Merkel 2003; Obinger et al. 2003; Wagschal 2001;
Zohlnhöfer 2001) und der Modelle räumlicher Wahl (z.B. Ganghof/Bräuninger 2003)
betrieben werden. Politik wird zu "games real actors play" (Scharpf 1997b). In
vielen Studien geraten die intelligente Modellierung der Interaktion der Akteure
und der Wirkungen der "Regelsysteme", die sie konditionieren, unweigerlich in
den Mittelpunkt der Analyse. Der Nachweis der Blockade wird in vielen
Fallstudien zu Policy-Wandel nahezu zum Hauptgegenstand. In ihren Analysen zum
Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland treffen Holtmann/Voelzkow (2000:
15) bezeichnenderweise gar die folgende Aussage: "Es ist also zu klären, wie in
einem derart verflochtenen Regierungssystem überhaupt noch politische
Entscheidungen möglich sind."
Die Orientierung am
Rationalwahlansatz schließt natürlich nicht aus, dass in den Analysen auch
bestimmte Annahmen getroffen werden können, um die determinierende Wirkung der
Blockadethese weniger rigoros zu handhaben (vgl. hierzu König/Bräuninger 2000;
Benz 2003: 230-232; Zohlnhöfer 2004; Manow/Burkhart 2004). Eine kritische
Auseinandersetzung mit der Blockadethese findet also durchaus statt, wobei auch
Benz (2003: 210-211) zuzustimmen ist, dass gerade die für diesen Literaturzweig
wichtige Politikverflechtungsthese von Scharpf/Reissert/Schnabel (1976)
strategische Reaktionen auf drohende Vetos nicht ausschließt, weshalb
Innovationsanstöße selbst im deutschen Regierungssystem trotz zahlreicher
Vetopunkte und -spieler möglich sind. Aktuell werden auch die Hartz-Reformen und
die Gesundheitsreform von 2003 als Strukturreform bewertet, die zeigen, dass
gegenläufige Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zugleich ein
"Gelegenheitsfenster" öffnen können und Föderalismus nicht zwangsläufig zu
einer Reformblockade führt (Zöhlnhöfer 2004; Manow/Burkhart 2004). Der
Rationalwahlansatz - und damit die oben genannten Annahmen - werden dabei jedoch
nicht verlassen. So hing nach Zohlnhöfer (2004: 400) die Zustimmung der
Unionsparteien zu den oben genannten Reformen davon ab, dass sie diese als für
die "Verbesserung der wirtschaftlichen Performanz zwingend erforderlich sah" und
als nützlich in der "erfolgreichen Profilierung im Wettbewerb um Wählerstimmen"
einschätzte (ähnlich Manow/Burkhart 2004). Es war also allein der durch die
Mehrheitsdemokratie konditionierte Parteienwettbewerb, der die Union dazu
brachte, den Strukturreformen zuzustimmen. Die Annahme ist, dass die Union eine
sichere Erwartung darüber hatte, dass der Wähler sie bei einer Verweigerung bei
den nächsten Bundestagswahlen abstrafen würde.[8]
3 Modul 2: Interaktionsanalyse und inkrementeller Policy-Wandel
Was verraten uns
jedoch die These des Blockadebias und die auf dieser These gründenden
Interaktionsanalysen in der Regel über Policy-Wandel? In welchem Ausmaß und in
welche Richtung sich Policies ändern können, wird durch die jeweiligen
Interaktionsformen bestimmt. Interaktionsergebnisse ändern sich, wenn sich
Interaktionen ändern. Policy-Wandel hängt maßgeblich davon ab, ob es den
Problembearbeitern gelingt, sich "Techniken der Kompromissbildung, die auf
Vereinbarungen über alle Lager hinweg abzielen" (Holtmann/Voelzkow 2000: 15), zu
bedienen. Über Policy-Wandel verraten uns Interaktionsanalysen, dass er
inkrementell verläuft; es sei denn ein unerwartetes Ereignis - ein exogener
Schock - hebt die "unter sonst gleichen Bedingungen- Annahme" aus den Angeln.
Interaktionsanalysen
fokussieren auf inkrementellen Policy-Wandel.
Dies ist (1.) Folge der exogenen Präferenzen, die Problemlösungen
bewerten, und resultiert (2.) daraus, dass Interaktionsanalysen, wie
Scharpf (2000: 32) darlegt, "unabhängig davon, welcher
Interaktionsmodus tatsächlich zur Anwendung kommt … die erzielten
Ergebnisse immer im Hinblick auf ihre Gleichgewichtscharakteristika"
untersuchen. Politische Entscheidungen sind Gleichgewichtsergebnisse,
also "Ergebnisse, bei denen kein Spieler seine eigenen Auszahlungen
durch
einseitiges Wechseln zu einer anderen Strategie verbessern kann" (Scharpf
2000: 31; Hervorh. im Orig.).[9]
Akteure, die exogene Präferenzen haben und vor dem Hintergrund stabiler
Institutionen strategisch interagieren - wobei sowohl Präferenzen als auch
Institutionen konstant gehalten werden -, entscheiden, indem sie die
bestmöglichen Strategien wählen. Policy-Wandel ist folglich die
Distanz des neuen Gleichgewichtsergebnisses von dem bisherigen. Es können
nur jene Veränderungen politischer Programme erklärt werden, die bisherige
Gleichgewichtsergebnisse konsolidieren (erhalten) oder inkrementell
(schrittweise fortschreibend) sind. Innovativer Policy-Wandel, das heißt Wandel,
der nicht zu einem Minus oder einem Plus, sondern zu einem Alter des Status quo
ante, also der Policy vor der Interaktion, führt, würde einen exogenen Schock
verlangen.[10]
Dabei wird angenommen, dass das deutsche Regierungssystem - im Vergleich zum
Westminster-System - für inkrementellen Policy-Wandel aufgrund der Vielzahl
verhandlungsdemokratischer Subsysteme (Föderalismus, Tarifautonomie,
Wohlfahrtsstaatsegmentierung, Lehmbruch 2000b) besonders prädestiniert ist.
Aufgrund der Inkompatibilität der "Regelsysteme" Mehrheits- und
Verhandlungsdemokratie ist es im Vergleich zum britischen System sehr
unwahrscheinlich, dass veränderte Policy-Positionen - seien sie nun exogen oder
endogen - determiniert in Policy-Wandel umgesetzt werden können.
Auch bei der
Betrachtung der Politik der rot-grünen Koalition dominiert die Schlussfolgerung,
dass die Regierung in ihrer ersten Legislaturperiode - also in der Phase, in der
die Riester-Reform verabschiedet wurde - nur wenig weit reichende Veränderungen
bewirken konnte, weil Wandel durch den Parteienwettbewerb, die
Verhandlungsdemokratie oder die strukturellen Begrenzungen, die den Kanzler
einschränken, begrenzt wurde. Die rot-grüne Bundesregierung, so Siegel (2003:
161; 183), war entweder durch den Mesokorporatismus in der Lohn-, Arbeitsmarkt-
und Sozialpolitik behindert, oder sie erlag der "mehrheitsdemokratischen
Versuchung", so dass der "Primat der Parteienwettbewerbslogik gegenüber einer an
effektiven Problemlösungen orientierten Konsensneigung im Institutionengestrüpp
des Verbundföderalismus … konfliktive Politikprozesse" bewirkte.
Der Bundeskanzler
und sein Amt, so das einschlägige Urteil, haben eher Konsolidierung als
grundlegenden Policy-Wandel gefördert. So betont Streeck (2003: 7-8), der die
differenzierungs- und systemtheoretische Perspektive von Gerhard Lehmbruch
(2000b) mit seinem Ansatz der Konflikte um politische Machtverteilung
konfrontiert, dass es weder dem Kanzler noch dem Kanzleramt gelungen sei,
Partei, Fraktion und Ministerien auf eine Linie zu bringen. Insbesondere habe
das Bundeskanzleramt dem Bündnis für Arbeit nicht das Maß an Aufmerksamkeit
zuteil werden lassen, das notwendig gewesen wäre, um das Bündnis als Instrument
zur Disziplinierung von gegenläufigen Interessen von Regierungs-, Verbands- und
Parlamentsakteuren einzusetzen. Zu ähnlichen, jedoch eher strukturell
begründeten Urteilen über ein Versagen des Bundeskanzlers gelangen Siegel (2003:
183), der "ad-hoc Management, Kurzatmigkeit und selektive Koordination" statt
Konzertierung als Merkmal des Regierungsstils Schröders erkennt, und auch Heinze
(2003: 155), der von der Bundesregierung eine "politische Führung" fordert, die
er gerade beim Bündnis für Arbeit vermisste. Heinze (2003: 150) und Siegel
(2003: 161) weisen dabei vor allem auch auf strukturelle Blockaden hin, die sich
aufgrund der institutionellen Fragmentierung des politischen Systems in
themenspezifische politische Arenen und Mesokorporatismen in der Lohnpolitik,
Arbeitsmarktpolitik und Sozialpolitik ergeben. Die Fragmentierung, so Heinze
(2003: 151), hätte die Regierung blockiert, selbst wenn sie
"durchsetzungswillig" gewesen wäre. Die Kanzlerthese deduziert die Reichweite
von Policy-Wandel aus grundlegenden Strukturproblemen im staatlichen
Regierungsapparat, die dem Kanzler als handlungsleitende Strategie vorschreiben,
Überkommenes zu bewahren, weil die Konfrontation mit mesokorporatistischen
Subsystemen, Ministerien, Fraktion oder der Partei seine Fähigkeit zu
hierarchischen Entscheidungen suspendiert.
Nicht nur das
Regelsystem Bundeskanzler, sondern auch die Regelungssysteme der
Verhandlungsdemokratie werden in Studien zur rot-grünen Reformpolitik als
Hindernis für Policy-Wandel gesehen. So sprechen Blancke/Schmid (2003: 220, 223)
für die Zeit zwischen Ende 1999 und Ende 2001 von einem "[w]eitgehenden
Stillstand" in der Arbeitsmarktpolitik, von einer Phase der "Stagnation im
Verhandlungslabyrinth", in der parteiinterne und externe Vetospieler sowie ein
sinkender Problemdruck Wandel verhinderten. Der Stagnation aufgrund der
Verhandlungsdemokratie ging, so Blancke/Schmid (2003: 221), eine Phase der
Einlösung von Wahlversprechen voran, weil "klientelbezogene Vorstellungen" und
ein "deutlich sozialdemokratischer Akzent" umgesetzt wurden
(Parteiendifferenzhypothese). 2002 fand, so Blancke/Schmid (2003: 225), ein
"Kurswechsel" als "reformpolitischer Endspurt im Vorfeld der Wahl" statt, weil
die Arbeitslosigkeit anstieg, ein externer Schock (Vermittlungsskandal)
stattfand und die anstehenden Bundestagswahlen disziplinierende Wirkung auf
potenzielle Vetospieler entfalteten. Blancke/Schmid (2003) erklären Reformstau
mit institutionellen Schranken sowie parteiinternen und externen Vetospielern.
Veränderung führen sie hingegen auf "externe Schocks und Problemdruck" zurück,
die "die Macht von Vetospielern brechen" (Blancke/Schmid 2003: 235) und den
Parteienwettbewerb von der Verhandlungsdemokratie befreien. Blancke/Schmid
(2003: 235) fahren fort:
Wo zu einem bestimmten Zeitpunkt eine starke
Vetoposition mächtiger Akteure erwartet werden kann, kann ein anderer Zeitpunkt
(etwa bei anstehenden Wahlen) den Parteienwettbewerb zur eigentlichen
Motivationsgröße avancieren lassen, damit disziplinierend wirken und Reformen
möglich machen. Glückliche Umstände - fortuna bei Machiavelli genannt -
gehören eben auch zum Erfolg in der Politik.
Wären dem
Vermittlungsskandal der Bundesanstalt nicht die Bundestagswahlen gefolgt, hätten
sich die Parteien also nicht aus dem Würgegriff der Verhandlungsdemokratie
befreien können und es wäre beim Reformstillstand geblieben.
Wie Blancke/Schmid
(2003) führt auch Merkel (2003) den arbeitsmarktpolitischen Reformstau in der
ersten Phase der rot-grünen Regierung auf die Verhandlungsdemokratie zurück.
Tsebelis' Vetospieler-Theorie fortentwickelnd[11]
erklärt er die "ausgebliebene Reform des Arbeitsmarktes" (Merkel 2003: 265)
damit, dass "[r]echte wie linke Traditionalisten der SPD … mit der partikularen
Interessenorganisation Gewerkschaften eine implizite Blockadekoalition"
eingingen. Die Einrichtung der Hartz-Kommission, deren Beschlüsse erst in der
zweiten rot-grünen Regierung umgesetzt wurden, interpretiert Merkel als
"Schachzug des Bundeskanzlers" (Merkel 2003: 267), der von der Strategie des "office-seeking"
geprägt war, und als "Reaktion auf abstürzende Umfragewerte, skandalöse Vorgänge
in der Bundesanstalt für Arbeit und die drohenden Niederlage bei den
Parlamentswahlen im September" (Merkel 2003: 267).
Im Gegensatz zur
Arbeitsmarktpolitik spricht die Politikforschung in der Rentenpolitik aufgrund
der Rentenreform von Walter Riester von einer fundamentalen Veränderung. Schmidt
(2003: 247) stellt aufgrund der Einführung der kapitalfundierten Altersvorsorge,
die das Prinzip der paritätischen Finanzierung aufbricht, eine "Pfadabweichung"
fest. Auf mögliche Erklärungsfaktoren für diese Pfadabweichung geht Schmidt, der
hervorhebt, dass "die ‚Reformstausthese‘ nur einen Teil der rot-grünen
Sozialpolitik" (Schmidt 2003: 241) erfasst, jedoch nicht ein. Andere Studien
greifen demgegenüber bei der Erklärung des Wandels in der Rentenpolitik auf die
Logiken der Mehrheitsdemokratie und Verhandlungsdemokratie zurück. Sowohl Merkel
(2003) als auch Schludi (2005) wenden bei dieser Reform die Vetospieler-Theorie
an. Sie erklären, warum es zur Zustimmung des institutionellen Vetospielers
Bundesrat kam, wobei Schludi auch die Einigung mit den Gewerkschaften erklärt.
Die Policy-Positionen der Akteure sind in der Vetospieler-Theorie jedoch exogen
vorgegeben. Die Ursachen für den innovativen inhaltlichen Bruch mit dem
bisherigen Finanzierungssystem der Rentenversicherung, also die Ursachen für die
Einführung der Kapitaldeckung und der staatlichen Förderung von Privat-,
Betriebs- und Tarifrenten, werden in diesen Studien nicht thematisiert.
Als Zwischenfazit
lässt sich das Folgende festhalten: Die Blockadethese führt zu
Interaktionsanalysen, die strategische Interaktionen von Problembearbeitern
erklären. Die Interaktionsanalysen weisen eine eindeutige Präferenz für die
Erklärung von inkrementellem Policy-Wandel auf. Weil die Präferenzen als gegeben
definiert werden, benötigt ein radikaler Präferenzwandel, der innovativen
Policy-Wandel zur Folge haben könnte, gemäß den Annahmen dieser Analysen einen
exogenen Schock. Mein Einwand ist, dass sich anhand der Riester-Reform
aufzeigen lässt, dass die dem deutschen Regierungssystem inhärenten
Reformblockaden innovativen Policy-Wandel nicht zwangsläufig ausschließen. Für
die Analyse von innovativen Policy-Wandel schlage ich im Folgenden vor, Ursachen
einer radikalen Präferenzveränderung nicht völlig zu exogenisieren und Prozesse
des Präferenzwandels genauer zu betrachten, indem Rückkoppelungseffekte von
Problemlösungen auf das Handeln politischer Akteure berücksichtigt werden.[12]
Solche
Rückkoppelungseffekte systematischer in die Analyse von Policy-Wandel zu
integrieren, ist für die Politikwissenschaft sowohl von theoretischem als auch
von methodischem Interesse. Theoretisch ist dies von Bedeutung, weil
Rückkoppelungseffekte, wenn sie Sozial- und Systemintegration beeinflussen, den
Kern der politikwissenschaftlichen Theoriebildung, die Demokratietheorie,
ansprechen. Der methodische Gewinn besteht darin, Politik über einen
längeren Zeitraum und dynamisch zu betrachten, kurz: Sequenzen zu analysieren.[13]
Das ermöglicht - wie später in Modul 4 gezeigt werden wird -, das Zusammenspiel
von exogenen und endogenen Ursachen für Policy-Wandel systematisch zu
betrachten.
4 Modul 3: Sequenzanalyse und innovativer Policy-Wandel
Die Einbeziehung
von Rückkoppelungseffekten in die Analyse politischer Entscheidungen begründe
ich theoretisch folgendermaßen:
1.: Probleme können durch die Interaktion endogen erzeugt werden. Wenn die
Politik sich auf die Bearbeitung und Lösung von Problemen einlässt, dann
verändert sie diese und schafft unter Umständen neue. 2.: Moderne demokratische
Gesellschaften müssen Sozialintegration gewährleisten.[14]
Auch Policies kommt eine sozialintegrative Bedeutung zu.[15]
Sie erbringen auf der intermediären Ebene Leistungen zur
Konfliktinstitutionalisierung zwischen korporativen Akteuren.[16]
Wenn Policies jedoch aufgrund von Rückkoppelungseffekten bei dieser
Konfliktinstitutionalisierung scheitern, weil staatliche, parteidemokratische
und verbandliche Akteure sie als Teil eines neuen Problems wahrnehmen, üben sie
einen negativen Einfluss auf die Sozialintegration aus. In diesem Fall tragen
sie dann nicht mehr zur Konfliktinstitutionalisierung, sondern zur Entstehung
von (neuen) Interessenkonflikten bei. Diese Interessenkonflikte können erstens
Präferenzen hinsichtlich gesellschaftlicher Probleme und deren Lösung verändern
und zweitens Konflikte um neu zu verteilende Problemlösungskompetenzen bewirken:
Wer ist fähig zur Problemlösung? Wer ist institutionell zuständig? Die
Präferenzen und die institutionellen Rahmenbedingungen verändern sich, wodurch
institutioneller Raum für neue Problembearbeiter mit neuen Problemlösungen
geschaffen wird. Entscheidungsblockaden können sich auflösen.[17]
Wie lässt sich die
sozialintegrative Bedeutung von Policies beschreiben? Wie die staatliche
Ordnung, für die Policies ein konstituierendes Element sind, sind Policies auf
mehreren Ebenen sozialintegrativ tätig:[18]
1. Auf der
kulturellen beziehungsweise normativen Ebene entfalten Policies eine
sozialintegrative Wirkung, weil politische Maßnahmen und Programme auf Normen
und Werte gründen und versuchen, diese umzusetzen. In der Rentenpolitik war dies
bis zur Riester-Reform das Prinzip der Lebensstandardsicherung, das in das
Prinzip einer an den Ausgaben orientierten Einnahmepolitik - sprich
Beitragssatzanhebung nach Bedarf - übersetzt wurde. Die Norm der
Lebensstandardsicherung stellte einen zentralen Rahmen für die Identität der
deutschen Gewerkschaften dar, weil sie, solange ausreichend Verteilspielräume
erwirtschaftet wurden, auch bei den jüngeren Gewerkschaftsmitgliedern Akzeptanz
hinsichtlich der Bewältigung betrieblicher Rationalisierungen durch
Frühverrentung stiftete.
2. Auf der
rechtlichen Ebene ist Rentenpolitik sozialintegrativ, weil das
Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung im Zusammenspiel mit
Art. 14 GG Rentenanwartschaften einen verfassungsrechtlich garantierten
Vertrauensschutz verschaffte, der staatlichen Interventionen in die
Rentenversicherung eine Hemmschwelle auferlegte. Der Vertrauensschutz bewirkte
so, dass sich die Gewerkschaften und die Organisationen der Mitbestimmung in der
Gestaltung von Sozialplänen auf die Leistungen der Rentenversicherung verlassen
konnten. Der Vertrauensschutz erzeugte Vertrauen, das Ungewissheiten im Umgang
mit betrieblichen Rationalisierungen reduziert. Die Rente war sicher.
3. Auf der
intermediären Ebene sind Policies sozialintegrativ, weil sie Konflikte
zwischen korporativen Akteuren institutionalisieren. So übte die etablierte
Rentenpolitik durch ihre Indienstnahme für beschäftigungspolitische Aufgaben im
Rahmen der Frühverrentungspolitik Kosten und Konflikt entlastende Effekte auf
Staat und Verbände aus. Aufgrund der Beitragsfinanzierung hat sie staatlichen
und parteidemokratischen Akteuren ermöglicht, föderale Konflikte zu umgehen, die
durch eine aus Steuern finanzierte Sozial- und Beschäftigungspolitik entstanden
wären. Auf die Tarifbeziehungen wirkte die Rentenpolitik durch
Konfliktinstitutionalisierung integrativ, weil sie die soziale Autonomie der
Tarifpolitik sicherte, indem Struktur- und Arbeitsmarktkrisen den
tarifpolitischen Verteilspielraum unberührt ließen, weil auf diese nicht
lohnpolitisch, sondern mithilfe der Maßnahmen der Sozialversicherung reagiert
wurde. Scheitern Policies auf der intermediären Ebene, so ist mit anderen Worten
Sozialintegration im Sinne von Mitgliedschaftslogik im Schwinden begriffen.
Rückkoppelungseffekte
können diese sozialintegrative Wirkung von Policies empfindlich stören. Treten
diese auf, verändern Policies das Problem, zu dessen Lösung sie beitragen
sollen. Durch diese Wirkung können sie selbst zum Problem werden und sich aus
der Perspektive der korporativen Akteure als Problemlösung verbrauchen.[19]
In diesem Fall kann die Policy nur noch wenig zur Identitätsstiftung, zur
Sicherung und Sanktionierung von Rechten und zur Konfliktinstitutionalisierung
beitragen. Im Gegenteil: Auf der intermediären Ebene wird sie eher neue
Interessenkonflikte erzeugen statt diese zu regulieren. Die überkommene Policy
geht mit Repräsentations- und Solidaritätsdefiziten einher. Scheitern Policies,
so finden Suchprozesse statt: Prozesse zur Generierung von Präferenzen über
Lösungsoptionen für gesellschaftliche Probleme werden in Gang gesetzt. Konflikte
über Problemlösungskompetenzen treten auf. Die Betrachtung von
Rückkoppelungseffekten hat zur Folge, die Ceteris-paribus-Annahme hinsichtlich
Präferenzen und politischer Institutionen fallen zu lassen.
Methodisch
hat dies zur Konsequenz, das Analysemodell zu dynamisieren. Diese Dynamisierung
kann durch die Berücksichtigung von Sequenzen bewerkstelligt werden (Büthe
2002: 485). Sequenzen bringen den Faktor Temporalität in Analysen ein. Sie
erlauben die Berücksichtigung von Rückkoppelungseffekten von Policies zu einem
bestimmten Zeitpunk t0 auf Präferenzen und Institutionen
(Problemlösungskompetenzen) zu einem späteren Zeitpunkt t1:
Sequence allows us to endogenize the
explanatory variables without having to abandon modeling and scientific
aspirations because it enables us to avoid circular reasoning. Endogenization
involves incorporating into the model some variation of causal feedback loops
from the explanandum to the explanatory variables. In a static model,
such feedback loops make the argument circular. Determining causality then
becomes impossible. The sequential element of temporality, however, gets us
around the problem, because it allows us to have causal feedback loops from the
explanandum at one point in time to the explanatory variables at a
later point of time only. (Büthe
2002: 485; Hervorh. im Orig.)
Konkret schlägt der
Beitrag im Folgenden daher vor, Problemsequenzen in die Analyse zu
integrieren. Problembearbeiter bearbeiten ein Problem nach dem anderen und sie
entwerfen eine Problemlösung nach der anderen. Etwas plastischer ausgedrückt
lautet das Kernargument einer sequenzorientierten Perspektive folgendermaßen: Im
politischen Prozess kann es immer wieder zu selbst produzierten fundamentalen
Krisensituationen kommen, in denen weniger die Strukturen der Mehrheits- und
Verhandlungsdemokratie die Interaktion determinieren als die Gelegenheiten, die
sich ergeben, weil sich Policies aufgrund von Problemsequenzen verbrauchen.
Was sind nun die
Grundlinien einer Analyse, die Rückkoppelungseffekte von Policies auf das
Handeln politischer Akteure zum Ausgangspunkt hat? Die zentrale Forschungsfrage
dieser Perspektive ist, Rückkoppelungseffekte zu bestimmen. Aufgrund der
Notwendigkeit von Sozialintegration sieht sie zudem Präferenzen und
Problemlösungskompetenzen (die von politischen Institutionen zugewiesen werden)
grundsätzlich als endogene Größen an. Im Gegensatz zur interaktionsorientierten
Policy-Forschung integriert eine sequenzorientierte Zeitlichkeit systematisch in
den Ansatz. Anders formuliert: Die Heuristik einer sequenzorientierten
Policy-Analyse würde die Heuristik der interaktionsorientierten Policy-Forschung,
die zwischen Akteur und Institution trennt, durch eine ergänzen, die dynamische
Interaktionsbeziehungen zwischen Problem, Problemlösung, institutionellen Rahmen
und Sozialintegration thematisiert.
Anhand eines
sequenzorientierten Ansatzes soll im Folgenden der mit der Riester-Reform
einhergehende innovative Policy-Wandel in der Rentenpolitik rekonstruiert
werden. Dabei gehe ich jedoch nur auf die sozialintegrative Bedeutung der
Rentenpolitik im Hinblick auf Konfliktinstitutionalisierung ein, betrachte also
nur die sozialintegrative Bedeutung der Rentenpolitik auf der intermediären
Ebene.[20]
5 Modul 4: Die Rentenreform Walter Riesters
Die Riester-Reform
kann aus zwei Gründen als Innovation bezeichnet werden. Erstens ging sie mit der
Einführung einer zweiten und dritten Säule in der Altersvorsorge weit über die
offiziellen Konzepte der Koalitionspartner zu Beginn der Legislaturperiode
hinaus, die deutlich einen systemkonsolidierenden Charakter aufwiesen und der
Korrektur von Einschnitten, die die Regierung Kohl vorgenommen hatte, oberste
Priorität beimaßen.[21]
Zweitens hat sich mit der Reform die Ausrichtung der gesetzlichen
Rentenversicherung verändert: Nicht mehr Lebensstandardsicherung, sondern
Beitragssatzsenkung und -stabilisierung und eine an den Einnahmen orientierte
Ausgabenpolitik stellen seitdem die Hauptziele der staatlichen Rentenpolitik
dar. Das Monopol der gesetzlichen Rentenversicherung in der Altersvorsorge wurde
durch die Förderung der privaten, betrieblichen und tariflichen Rentensysteme
aufgelöst.
Wie kam es zu dieser
Änderung der Ziele der gesetzlichen Rentenversicherung? Im Folgenden möchte ich
in zwei Schritten argumentieren, dass der in der Riester-Reform zum Ausdruck
kommende innovative Policy-Wandel mit Rückkoppelungseffekten auf das Handeln
politischer Akteure in einem Zusammenhang steht. Im ersten Schritt steht
die etablierte Rentenpolitik und wie diese im Laufe der Zeit an
sozialintegrativem Potenzial auf der intermediären Ebene eingebüßt hat im
Vordergrund. Die etablierte Rentenpolitik konnte Interessenkonflikte zwischen
Staat und Verbänden nicht mehr institutionalisieren und hat neue Spaltungslinien
erzeugt. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, wie das Zusammenspiel dieser
Rückkoppelungseffekte mit exogenen Herausforderungen (Wiedervereinigung,
Maastricht, demographischer Wandel, Internationalisierung) den Druck zu einem
Policy-Wandel erhöhte. Im zweiten Schritt möchte ich zeigen, dass die
dadurch bewirkten Interessenkonflikte Präferenzen über Handlungsoptionen in der
Alterssicherung veränderten sowie Konflikte um neu zu verteilende
Problemlösungskompetenzen mit sich brachten. Hervorheben möchte ich in diesem
Zusammenhang Konflikte in den Gewerkschaften über die weitere Entwicklung der
Tarifpolitik. In diesen Konflikten stand Bundesarbeitsminister Riester, der bis
Herbst 1998 Zweiter Vorsitzender der IG Metall war, nicht nur als Auslöser,
sondern auch als Moderator im Mittelpunkt.
5.1 Sozialintegration
Der Policy-Wandel der
Riester-Reform ist Folge einer bereits seit Mitte der 1990er-Jahre
stattfindenden politischen und öffentlichen Debatte über die Leistungs- und
Finanzierungsstruktur der deutschen Sozialpolitik, im Zuge deren Ursachen und
Folgen der Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Sozialversicherung neu
definiert wurden. Ausgangspunkt dieser Debatte waren das Übersteigen der
40-Prozent-Marge im Gesamtsozialbeitrag und der Konsens zwischen der
Bundesregierung und den Sozialpartnern, einem weiteren Anstieg entgegenzuwirken.
In der Erklärung vom 23. Januar 1996 im Rahmen des "Bündnisses für Arbeit und
Standortsicherung" unter der Regierung Kohl verständigten sich die
Bundesregierung und die Sozialpartner, die Sozialbeiträge bis 2000 auf 40
Prozent zu senken (Bulletin Nr. 7, S. 53). Das Entscheidende an dieser Erklärung
ist, dass der Anstieg des Sozialbeitrages forthin - und zunehmend auch in der
breiten Öffentlichkeit[22]
- als eines der zentralen Probleme des bundesdeutschen Arbeitsmarktes definiert
wurde. Dass 1997, als der Beitragssatz zur Rentenversicherung auf über 21
Prozent anzusteigen drohte, die Mehrwertsteuer erhöht wurde, kann als Konsequenz
dieser Entwicklungen betrachtet werden.
Im Koalitionsvertrag vom 28. Oktober 1998 griffen SPD und Bündnis90/Die
Grünen die 40-Prozent-Grenze erneut auf, womit die Forderung der
Beitragssatzstabilisierung und Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten
von der neuen Regierung übernommen wurde (Koalitionsvertrag 1998:
11-12). Neben der 40-Prozent-Marge problematisierte die Reformdebatte
die Folgen der Frühverrentungspolitik für die
Sozialversicherungshaushalte und den Arbeitsmarkt. Durch Veränderungen
im Arbeitsförderungsrecht sowie die Anhebung der Altersgrenzen in der
Rentenversicherung (Rentenabschläge bei Frühverrentung) hatte bereits
die Kohl-Regierung versucht, der Frühverrentung entgegenzuwirken. Als
"Kompensation" für die rentenpolitischen Reformen griff die
Bundesregierung dabei die Initiative der Sozialpartner (DGB und BDA)
zur Förderung der Altersteilzeit auf. Damit wurde zwar ein neuer
Frühverrentungspfad geschaffen, jedoch einer, an dem die Tarifpartner
finanziell beteiligt wurden (durch den Abschluss der
Altersteilzeittarifverträge). Auch die Veränderung der
Finanzierungsstrukturen war bereits zu jener Zeit im Gespräch. Die
Stärkung der zweiten und dritten Säule wurde während der Rentenreform
1997 von der FDP und innerhalb der CDU von Kurt Biedenkopf eingebracht.
Die Umsetzung dieser Idee scheiterte damals jedoch am Widerstand des
Bundesarbeitsministers Norbert Blüm und des Bundesfinanzministers Theo
Waigel (vgl. Börsen-Zeitung vom 29.1.1997: 1; FAZ vom 20.3.1997: 1;
Richter 2001: 85-109).
Auch wenn diese
Reformdiskussion und Reformansätze in ihrer Reichweite nicht überbewertet werden
dürfen, kann behauptet werden, dass sie auch Folge der etablierten Problemlösung
in der Rentenpolitik waren. Die etablierte Rentenpolitik war in starkem Maße
darauf gerichtet, Staat und Verbände zu entlasten, indem sie Arbeitsvolumen aus
dem Markt nahm und durch Frühverrentung stilllegte (Ebbinghaus 2005; Manow/Seils
2000). Bei der Frühverrentung hat die Rentenpolitik für Staat und Verbände immer
eine Doppelfunktion erfüllt. Einerseits hat sie durch ihre
Finanzierungsstrukturen (Beitragsfinanzierung) zur fiskalischen Entlastung des
Bundeshaushaltes beigetragen (Verschiebebahnhofpolitik; vgl. Trampusch 2003).
Andererseits hat sie ermöglicht, dass die Tarifpolitik ihre soziale Autonomie
bewahren konnte und Struktur- und Arbeitsmarktkrisen den tarifpolitischen
Verteilungsspielraum unberührt ließen, weil auf diese nicht lohnpolitisch,
sondern in der Sozialversicherung reagiert wurde. Die Beitragsfinanzierung der
Sozialpolitik half den staatlichen und parteidemokratischen Akteuren ferner,
föderale fiskalische Verteilungskonflikte zu umgehen, die durch eine aus Steuern
finanzierte Sozial- und Beschäftigungspolitik entstanden wären. Folge dieser
Indienstnahme der Rentenversicherung für die Tarifpolitik der Verbände und die
Haushaltspolitik war der Anstieg des Gesamtsozialbeitrages. Um weiteren
Anhebungen des Rentenbeitrages zu entgehen, begann der Bund schließlich, die
Rentenversicherung durch Mittel aus dem Bundeshaushalt zu subventionieren
(Mehrwertsteuererhöhung 1997; Finanzierung versicherungsfremder Leistungen).
Seit 1992/1993 haben
sich nun die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen für die etablierte
Rentenpolitik aufgrund der veränderten externen Rahmenbedingungen - wie den
fiskalischen Folgen der Wiedervereinigung, den Maastricht-Kriterien, dem
Bewusstwerden der Überalterung der Bevölkerung (demographischer Wandel) und der
Internationalisierung - jedoch verändert. Die Wiedervereinigung band weitere
erhebliche Finanzressourcen der Sozialversicherung an sich. So fanden sich in
den Jahren 1995 bis 1997 Bundesanstalt für Arbeit, die Gesetzliche
Rentenversicherung und die Gesetzliche Krankenversicherung in Folge der
Wiedervereinigung in einem Defizit (vgl. dazu Meinhardt 2000: 243, Tabelle 11).
Die oben erwähnte Subventionierung der Rentenversicherung durch Haushaltsmittel
des Bundes machte den Bundeshaushalt und die Steuerpolitik zunehmend von der
Rentenversicherung und ihrer Finanzlage abhängig, und dies in einer Zeit, in der
der internationale Steuerwettbewerb Steuersenkungen einforderte und die
Maastrichter Kriterien weitere Staatsverschuldung verboten. Die Überalterung der
Gesellschaft führte dazu, dass immer weniger Beitragszahler immer mehr Renten
finanzieren müssen.
Es ist das
Zusammenspiel der Indienstnahme der Rentenversicherung für die Haushalts- und
Tarifpolitik mit diesen exogen bedingten Veränderungen der Rahmenbedingungen,
das dazu führte, dass die Sozialpolitik seit Mitte der 1990er-Jahre immer
weniger Kosten und Konflikt entlastende Effekte im Innenverhältnis von Staat und
Verbänden ausübte, sondern im Gegenteil beide belastete. Die staatlichen und
parteidemokratischen Akteure stehen seitdem unter Druck, dem Gesamtsozialbeitrag
mit einer Strukturreform zu begegnen, auch weil die Lohnnebenkosten unter den
bestehenden ökonomischen Rahmenbedingungen ein Beschäftigungshindernis
darstellen. In den Parteien kam es so auch Ende der 1990er-Jahre zu massiven
Auseinandersetzungen zwischen Sozialpolitikern und Wirtschaftspolitikern
beziehungsweise Modernisten. Die Modernisten wurden stärker, während die
Sozialpolitiker an Einfluss verloren (vgl. hierzu Trampusch 2005b).
Auf der anderen Seite
hatte die durch die Rentenversicherung finanzierte Politik der
Angebotsreduzierung auch auf die Verbände Rückwirkungen. Sie führte zu
Entsolidarisierungen ihrer Kollektive (Streeck 2005, 2003) und bewirkte neue
Polarisierungen. In einer zunehmend internationalisierten Wirtschaft, in der
wegen der Belastung des Faktors Arbeit durch den Sozialstaat
Standortverlagerungen zum Alltag wurden, stehen für die Verbände sinkende
Organisationsraten der Gewerkschaften, Verbandsflucht bei den Arbeitgebern, die
zunehmende Fragmentierung der Interessen der Großbetriebe und des Mittelstandes
und die Flucht aus den Flächentarifverträgen in einem direkten Zusammenhang mit
der sozialpolitischen Regulierung des Arbeitsmarktes. Der Verlust der inneren
Bindungsfähigkeit stellt "den Modus der verbandlichen Regulierung insbesondere
der Arbeitsmärkte als solchen in Frage" (Streeck 2003: 4). Waren die
sozialpolitischen Apparate von DGB und BDA in den 1970er- und 1980er-Jahren noch
in der Lage, die Ansprüche und Interessen ihrer Mitglieder an die staatliche
Sozialpolitik auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so verhindern dies heute
unter der Rahmenbedingung verschärfter internationaler Preiskonkurrenz auf
Arbeitgeberseite zunehmend die Konflikte zwischen den großen und kleinen
Unternehmen und zwischen Zulieferern und Abnehmern. Auf Gewerkschaftsseite haben
wegen der andauernden Arbeitslosigkeit, des Verbetrieblichungsdrucks, der auf
dem System des Flächentarifvertrags lastet, und der öffentlichen politischen
Debatte über Reformbedarf in der Sozialpolitik die Konflikte zwischen
streikfähigen und nicht streikfähigen, zwischen konfliktorientierten und
konsensorientierten Gewerkschaften zugenommen (Streeck 2003). Die
Verbändeforschung macht deutlich, dass sich in den 1990er-Jahren im
Innenverhältnis der Verbände Interessenkonflikte um die Basisinstitutionen der
alten Bundesrepublik - Tarifautonomie und Sozialstaat - intensiviert haben (Streeck
2003b; Streeck/Hassel 2004)
und insbesondere auf Arbeitnehmerseite massive Integrations-, Repräsentations-
und Solidaritätsprobleme aufgetreten sind (Rehder 2005).
Die Verbandsspitzen
müssen sich so immer wieder um einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden
Lagern bemühen. Auf Wirtschaftsseite wurden die Spitzen zum Teil mit Vertretern
mittelständischer Interessen besetzt (Trampusch 2005a) und Mitte der 1990er-Jahre
intensivierten sich die Konflikte zwischen den Führungsgremien des BDI und
der BDA. So warf BDI-Präsident Olaf Henkel dem BDA-Präsidenten Klaus Murmann
öffentlich vor, dass die BDA über die Selbstverwaltungsgremien der
Sozialversicherung zum Anstieg der Lohnnebenkosten beigetragen habe (FAZ vom
18.3.1996: 15). Im DGB hat sich das Verhältnis der Einzelgewerkschaften
untereinander, insbesondere zwischen IG Metall und Verdi auf der einen Seite und
IG BCE auf der anderen, in den letzten Jahren extrem polarisiert (Trampusch
2004: 20); man denke an die stetig wiederkehrenden Auseinandersetzungen zwischen
den Vorsitzenden der IG Metall und der IG BCE. Weil die drei genannten
Gewerkschaften aufgrund der Gewerkschaftsfusionen heute drei Viertel der
DGB-Mitglieder auf sich vereinen, schwächt jede Polarisierung der
Einzelgewerkschaften die politische Gestaltungskraft des DGB und damit seiner
Sozialpolitiker. Das Schwinden der stützenden Milieus ist am deutlichsten in den
Gewerkschaften sichtbar: Ende 2002 hatte der DGB noch knapp 7,7 Millionen
Mitglieder und damit einen Anteil von weniger als 20 Prozent der abhängig
Beschäftigten. Vor fünfzehn Jahren waren es noch fast 30 Prozent. Nur noch knapp
10 Prozent der Beschäftigten unter 25 Jahren sind heute Mitglied einer
Gewerkschaft (Ebbinghaus 2002). 2003 traten aus der IG Metall 118.625
Gewerkschaftsmitglieder aus (FAZ vom 16.3.2004: 11). Im gesamten Jahr 2002 waren
es dagegen nur 43.302. Gegenüber dem bisherigen Höchststand kurz nach der
Wiedervereinigung addiert sich in der IG Metall der Mitgliederverlust inzwischen
auf über eine Million (Spiegel Online 10.7.2003).
Auch bei den Wählern
hat das Sozialversicherungssystem im Übrigen an Unterstützung verloren. So
zeigen die Befragungen im Rahmen des Sozio-oekonomischen Panels, dass bei den
Zwanzig- und Dreißigjährigen der Anteil derjenigen, die Sozialbeiträge als zu
hoch empfinden und für mehr Eigenvorsorge plädieren, zwischen 1987 und 1997
stark angestiegen ist.[23]
Die Unzufriedenheit mit der Höhe der Sozialbeiträge und die Offenheit für
Eigenvorsorge können auch so gedeutet werden, dass es sich die Bundesregierung
und die Parteien politisch immer weniger leisten können, in der Rentenpolitik
das bestehende System zu konsolidieren, weil das Vertrauen in die finanzielle
Nachhaltigkeit dieses Systems abgenommen hat.
5.2 Änderung von Präferenzen und
Konflikte um Problemlösungskompetenzen
Die Veränderung der
Problemkonstellation und die geminderte sozialintegrative Wirkung der
etablierten Rentenpolitik auf der intermediären Ebene hatten Konflikte in den
Gewerkschaften zur Folge. Diese drehten sich im Kern darum, wie die
Gewerkschaften tarifpolitisch auf die Krise der Sozialversicherung und den
Reformdrang der Regierung Kohl zu reagieren haben. Die Konflikte können insofern
als Verteilungskonflikt um Problemlösungskompetenzen definiert werden, weil sie
die Frage betrafen, inwieweit die Tarifpolitik sozialpolitische Funktionen - die
Finanzierung der Frühverrentung und der Altersvorsorge - übernehmen sollte. Auch
Präferenzen hinsichtlich von Handlungsoptionen in der Alterssicherung änderten
sich: Die Tarifpolitik rückte als mögliches Finanzierungsmedium in den
Blickpunkt.
Ein wichtiger
Ausgangspunkt dieser Konflikte ist Mitte der 1990er-Jahre zu verorten, als
Walter Riester, damals noch 2. Vorsitzender der IG Metall, erkannte, dass die
durch die Rentenreform von 1989 eingeführte Anhebung der Altersgrenzen das
Arbeitsvolumen im Markt erhöht und die beschäftigungspolitische Strategie der
IG Metall, durch Frühverrentung das Überangebot auf dem Arbeitsmarkt zu
reduzieren, konterkarieren würde. Da er gleichwohl gegen eine weitere
Wochenarbeitszeitverkürzung war, brachte Riester im Rahmen der Verhandlungen um
den Altersteilzeittarifvertrag der IG Metall den Vorschlag ein, die Reduzierung
des Arbeitsangebots durch einen Tariffonds zu finanzieren. Bei Spitzengesprächen
mit Gesamtmetall im Oktober 1996 schlug er vor, die Einrichtung eines Tariffonds
auf Branchenebene verbindlich vorzuschreiben. Dieser von den
Tarifvertragspartnern gemeinsam verwaltete und aus Anteilen des Weihnachts- und
Urlaubsgeldes, aus Lohnerhöhungen und Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit
finanzierte Fonds sollte innerhalb von fünf Jahren Kapital ansammeln, das die
Tarifpartner zum Ausgleich von Einkommensverlusten bei Frühverrentung verwenden
konnten. . Die Rentenversicherungsbeiträge sollten durch den Fonds vollständig
entrichtet werden, um so spätere Abschläge bei der Rentenzahlung zu vermeiden
(BZ vom 23.10.1996: 11; FAZ vom 10.3.1997: 15).
Riesters Überlegungen
zu einem Tariffonds fielen in eine Zeit, in der in den Gewerkschaften angesichts
vermehrter betrieblicher Standortsicherungsvereinbarungen und wegen der hohen
Arbeitslosigkeit stark über eine Erneuerung der gewerkschaftlichen Tarif- und
Sozialpolitik gestritten wurde. Neben dem Konflikt um eine weitere
Wochenarbeitszeitverkürzung, der zwischen dem IG-Metall-Vorsitzenden Klaus
Zwickel und Riester ausgetragen wurde, war der für die Rentenreform wichtigste
Konflikt der zwischen dem DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte und seiner
Stellvertreterin Ursula Engelen-Kefer, die damals Vorstandsmitglied der SPD und
der Bundesanstalt für Arbeit war. Im Mai 1997 kam es zu heftigen DGB-internen
Konflikten, als Dieter Schulte und auch Riester öffentlich eingestanden, dass
man in der Rentenversicherung um eine Senkung des Rentenniveaus nicht umhin
kommen werde, Engelen-Kefer dies brüsk zurückwies und Schulte vorwarf, er würde
auf Distanz zur SPD und den Sozialpolitikern im DGB gehen (TAZ vom 28.5.1997:
4). Ein weiterer Konflikt entbrannte in den Gewerkschaften schließlich aufgrund
des tarifpolitischen Ansatzes der IG BCE, die mit Erfolg genau das
vorpraktizierte, was von den IG-Metall-Funktionären mit Ausnahme Riesters
kategorisch abgelehnt wurde: Eine betriebliche und tarifliche Sozialpolitik, die
die Leistungen und Mittel der staatlichen Sozialpolitik ergänzt und, wenn nötig,
auch mit dem Zugeständnis einer Lohnzurückhaltung finanziert. Die
Chemiegewerkschaft hatte bereits Mitte der 1970er-Jahre einen tariflichen
Unterstützungsfonds für Arbeitslose aufgebaut. Im Gegensatz zur IG Metall griff
sie seitdem in den Tarifverträgen immer wieder sozialpolitische Sonderthemen
auf. Zu nennen sind hier der Tarifvertrag für Jugendliche ohne
Hauptschulabschluss von 1977 (später Tarifvertrag zur Förderung der Integration
von Jugendlichen), der Tarifvertrag über Vorruhestand und Altersfreizeit von
1985, der Tarifvertrag zur Teilzeitarbeit von 1987 und die Tarifregelungen zur
Aufstockung der vermögenswirksamen Leistungen von 1989 und zu Altersteilzeit von
1996.
Fünf Jahre nach
Riesters Tariffondsvorschlag waren sowohl der Streit innerhalb der IG Metall
über die weitere Arbeitszeitpolitik als auch der Konflikt innerhalb des DGB
entschieden: Das Rentenniveau wurde von Rot-Grün gesenkt, auch wenn Riester den
Ausgleichsfaktor nicht durchsetzen konnte.[24]
In der Riester-Rente und den Tarifverträgen zur Entgeltumwandlung
materialisierte sich Riesters Idee eines Tariffonds beziehungsweise das
Chemiemodell. Wie kam es dazu?
Riester brachte seine
Ideen bereits vor den Bundestagswahlen als Schattenminister ein. Dabei geriet er
nicht nur mit den Sozialpolitikern in der SPD in Konflikte, sondern ebenso mit
seiner Gewerkschaft. Die IG Metall wehrte sich gegen Riesters Ideen aus
zweierlei Gründen. Zum einen, weil deren Vorsitzender, Zwickel, zum damaligen
Zeitpunkt noch eine weitere Wochenarbeitszeitverkürzung statt
Lebensarbeitszeitverkürzung als die adäquate tarifpolitische Strategie auf dem
Arbeitsmarkt erachtete (FAZ vom 8.5.1998: 13). Zum anderen nahm die IG Metall
Riesters Tariffonds als Infragestellung des Prinzips der paritätischen
Finanzierung der Sozialversicherung wahr. Bis zum Sommer 1998 gelang es Riester
dennoch, Zwickel von der Lebensarbeitszeitverkürzung zu überzeugen. Seit dem
Sommer 1998 trat Zwickel für die Rente mit 60 und einen Tariffonds ein, was
jedoch nur die Finanzierung der Frühverrentung ermöglichen sollte. Angesichts
der starken Hausmacht der Sozialpolitiker in der IG Metall wehrte sich Zwickel
weiterhin heftig gegen die Verwendung dieses Tariffonds für die Finanzierung
einer weiteren Säule der Altersvorsorge. Zwickel schimpfte die von Riester
angedachte Kapitaldeckung als eine "verkappte einseitige Beitragserhöhung"
(Zwickel 1999: 1). Wer eine dritte Säule aufbaue, ihre Finanzierung den
Arbeitnehmern überlasse und gleichzeitig die Beiträge zur paritätisch
finanzierten gesetzlichen Rentenversicherung senke, betreibe eine "gigantische
Umverteilungsmaschine zugunsten der Unternehmer" (Zwickel 1999: 1).
Die Reform der
Rentenversicherung war zunächst in die Gespräche im Rahmen des Bündnisses für
Arbeit integriert. Dieses bot mit den Spitzengesprächen und ihrer Vorbereitung
durch die Steuerungsgruppe und den beiden Arbeitsgruppen "Rentenversicherung und
Arbeitslosenversicherung" sowie "Lebensarbeitszeit" drei Foren an, die sich mit
der Rente mit 60, Tariffonds, Altersteilzeit und den Aufbau einer
kapitalgedeckten Altersvorsorge durch den Tariffonds beschäftigten. Ende 1998
wurde in den Arbeitsgruppen Riesters Tariffondsmodell diskutiert und
durchgerechnet: Ein aus 1 Prozent Lohnsteigerung zu finanzierender Tariffonds
sollte nicht nur die Rente mit 60, sondern auch den Aufbau einer Zusatzrente
fördern. Die Gewerkschaften wiesen die Verbindung von Tariffonds und genereller
Altersvorsorge damals brüsk zurück: Die Stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula
Engelen-Kefer gab damals bekannt, dass "[d]ie Gewerkschaften … diese Verknüpfung
von langfristigem Kapitalstock und Rente mit 60 nicht" akzeptieren würden, weil
damit ein "schleichender Systemwechsel" zu Lasten der gesetzlichen
Rentenversicherung eingeleitet werde (FAZ vom 11.2.1999: 17). Die Diskussionen
in den Bündnis-Arbeitsgruppen kamen ins Stocken. Mitte Mai 1999 stand für
Riester damit fest, dass seine Kompromissformel für die Nutzung des Tariffonds,
diesen sowohl zur Finanzierung der Frühverrentung als auch zum Aufbau einer
kapitalgedeckten Säule der Altersvorsorge zu verwenden, schwer zu realisieren
war. Die Sozialpolitiker in der SPD und die IG Metall akzeptierten eine
Vermengung der beiden Issues nicht (Koch 2000: 43). Als sich die Fronten immer mehr verhärteten, wurde das
Thema Rentenreform schließlich von der Agenda des Bündnisses gestrichen und zur
Gänze in den Ressortbereich Riesters verlagert.
Nach den Europawahlen
im Juni 1999 gab die Bundesregierung schließlich einen Rentenstrukturreformplan
heraus (FAZ vom 18.5.1999:17), der bei den Sozialpolitikern in der IG Metall, im
DGB und in der SPD sofort heftigen Widerstand hervorrief: Die Nettolohnanpassung
sollte ausgesetzt und eine Pflicht für den Aufbau einer privaten Altersvorsorge
eingeführt werden. Obwohl der Obligatoriumsvorschlag aufgrund des Widerstandes
der Gewerkschaften und der Zwangsrenten-Kampagne der Bild-Zeitung wieder sehr
schnell zurückgenommen wurde, war es gerade die Drohung mit dem Obligatorium,
die den Verlauf der Rentenreform entscheidend prägte. Die Drohung der
staatlichen Intervention regte die Selbstregulierungskompetenz der Verbände an.
Im Rahmen des dritten Bündnistreffens verabschiedeten BDA und DGB im Juli 1999
eine Erklärung, in der sie vereinbarten, sich für die Stärkung der betrieblichen
Altersvorsorge einzusetzen: Auf der Basis freiwilliger Vereinbarungen und/oder
tariflicher Regelungen sollten Einkommensbestandteile künftig im Rahmen der
betrieblichen Altersvorsorge angelegt werden können (BDA/DGB 1999: Nr. 7).
Riesters Obligatoriumsvorstoß folgte die Selbstverpflichtung der Dachverbände,
weitere Säulen der Altersvorsorge aufzubauen und die konkrete Ausgestaltung den
Tarifpartnern zu überlassen. Der Rest der Rentenreform drehte sich nun darum,
sich auf mehrheits- und verhandlungsfähige Bedingungen und Regeln zu einigen,
wie diese Säulen finanziert werden können. In Frage kamen dabei zum einen die
steuerliche Subventionierung und zum anderen Eigenleistungen der Arbeitnehmer.
Hinsichtlich des
staatlichen Finanzierungsanteils wurde im Kontext der Debatte um die
Haushaltskonsolidierung 1999 eine Einigung zwischen Riester und dem
Bundesfinanzminister erzielt. Von den 28 Mrd. DM, die Hans Eichel im
Haushaltssanierungsgesetz von 1999 als Sparmaßnahme ansetzte, brachte allein
12,8 Milliarden DM der Bundesarbeitsminister ein (FAZ vom 27.5.1999: 3).[25] Just als das
Bundeskabinett das Sparprogramm beschlossen hatte, zeichnete sich auch eine
Lösung des Finanzierungsproblems in der Rente ab. Am Tag des
Kabinettsbeschlusses über Eichels Sparprogramm kündigte Riester an, dass die
Einrichtung einer zusätzlichen privaten Altersvorsorge gefördert werden würde
(HB vom 24.6.1999: 4). Im Herbst 1999 lagen zwei Formen der staatlichen
Finanzierung der Altersvorsorge vor: Erstens die staatlichen Zulagen für eine
private Altersvorsorge und zweitens die Freistellung der Tariffonds von Steuern
und Sozialabgaben (SZ vom 22.9.1999: 6). Hinsichtlich des Finanzierungsbeitrages
der Arbeitnehmer kam schließlich die Chemiegewerkschaft der Bundesregierung zur
Hilfe. Als Alternative für die gescheiterte Obligatoriumslösung bot sie ihr
Modell der Umwandlung von Entgelt für die betriebliche und tarifliche
Altersvorsorge an. Bereits 1998 war in der chemischen Industrie ein Tarifvertrag
zur Entgeltumwandlung abgeschlossen worden. Das Modell der Chemiegewerkschaft
fand beim Arbeitsminister Akzeptanz. Bei einem Treffen der Gewerkschaften im
Bundeskanzleramt im Juni 2000 kündigte Gerhard Schröder an, dass die
Bundesregierung einen Rechtsanspruch auf beitragsfreie Entgeltumwandlung
einführen werde (BZ vom 30.6.2000: 35). In der Tarifrunde 2001 schlossen die
Tarifpartner der chemischen und metallverarbeitenden Industrie schließlich
Tarifverträge zur Entgeltumwandlung für die Altersvorsorge ab.
Zusammenfassend
lässt sich festhalten, dass eine sequenzorientierte Perspektive auf die
rot-grüne Rentenpolitik den in der Riester-Reform zum Ausdruck kommenden
Policy-Wandel insofern plausibel explizieren kann, als sie die Veränderung der
Rentenpolitik in Bezug zu Folgeproblemen der etablierten Rentenpolitik setzt und
ferner verständlich macht, warum die etablierte Rentenpolitik in Richtung
Stärkung der zweiten und dritten Säule verändert wurde. Die Sequenzorientierung
verdeutlicht, dass die Einführung einer zweiten und dritten Säule in der
Rentenversicherung - das Innovative der Reform - nicht nur einem exogenen Schock
geschuldet ist. Die Riester-Rente und die Einführung tariflicher und
betrieblicher Altersvorsorgesysteme haben ihre Ursache ebenso in einer
veränderten Tarifpolitik, die die Sozialpolitiker in den Gewerkschaften, welche
bei der Reform als die aggressivsten Vetoakteure auftraten, geschwächt hat. Die
Veränderung der Tarifpolitik war jedoch selbst wiederum Folge einer
nachlassenden sozialintegrativen Wirkung der etablierten Rentenpolitik auf der
intermediären Ebene, die aufgrund des Anstiegs der Lohnnebenkosten entstand. Es
lässt sich nicht nur eine strukturelle Veränderung des institutionellen Rahmens
feststellen, der den rentenpolitischen Entscheidungsprozess strukturierte,
sondern auch eine Veränderung von Präferenzen hinsichtlich von Handlungsoptionen
in der Altersvorsorge. Ein Teil der Problemlösungskompetenz wanderte zu den
Tarifpartnern über. Ein Teil der Gewerkschaften und Bundesarbeitsminister
Riester erkannten den Tarifvertrag als Regelungs- und Finanzierungsinstrument
für die Altersvorsorge. Weil die Rentenreform die Tarifpartner in die Erstellung
und Bereitstellung der Altersvorsorge integriert, waren die Zustimmung der
Tarifpartner (nicht nur der Dachverbände!) und deren konkludentes Verhalten
durch den Abschluss von Tarifverträgen zur Altersvorsorge für den Inhalt dieser
Reform genauso von substanzieller Bedeutung wie die Zustimmung der Opposition,
des Bundesrates und die Modernisierung der Sozialdemokratie.
Mit anderen Worten:
Die Sequenzorientierung verdeutlicht, dass die Riester-Rente nicht inkrementell
die etablierte Rentenpolitik fortschreibt, sondern Teil eines Prozesses
schöpferischer Selbstzerstörung des bundesdeutschen Sozialversicherungssystems
ist, der durch das Zusammenspiel von exogen bedingten Ereignissen
(Wiedervereinigung, Maastricht, demographischer Wandel und
Internationalisierung) und endogen bedingten Problemsequenzen einen innovativen
Policy-Wandel ermöglichte. Es wurden in der Rentenpolitik Handlungsoptionen
mehrheits- und verhandlungsfähig, die ein Alter und nicht ein Plus oder Minus
zum Status quo darstellten.
6 Schlussbetrachtung
Um Missverständnissen
vorzubeugen: Möglichkeiten und Grenzen einer Erneuerung der Sozialpolitik werden
fundamental von der Frage bestimmt, wie Politik und Verbände im Kontext
institutioneller Rahmenbedingungen des Parteiensystems oder der
Verhandlungsdemokratie interagieren und sich strategisch
zueinander positionieren. Die Politikforschung beraubt jedoch die Politik ihres
Orientierungssinnes, wenn sie diese zu sehr durch Parteienwettbewerb und
Verhandlungsdemokratie domestiziert betrachtet. Staatliche Politik, so möchte
ich behaupten, würde ohne eine kontinuierliche, aber radikale Fortentwicklung
von Problemlösungen (Policies) und Problemlösungskompetenzen (als Teil der
institutionellen Rahmenbedingungen) in der unsicheren Umwelt der modernen
Gesellschaft und kapitalistischen Ökonomie die System- und Sozialintegration der
Gesellschaft nicht gewährleisten können. Es ist aber gerade diese radikale
Fortentwicklung, die die Politikforschung, wenn sie ihr Forschungsprogramm zu
sehr nach Mechanismen der Interaktion von Konfliktregelungsmustern ausrichtet,
ein wenig aus den Augen verliert.
Mein Argument ist
nicht, dass die Interaktionsorientierung der Politikwissenschaft generell durch
eine Sequenzorientierung ersetzt werden soll. Der Beitrag stellt auch keinen
Versuch dar, den interaktionsorientierten Ansatz durch den Vergleich seiner
Erklärungskraft mit der einer sequenzorientierten Analyse zu falsifizieren, was
ohnehin prinzipiell nicht möglich ist. Interaktionsanalyse und Sequenzanalyse
stellen nämlich keine Alternativen dar, weil Interaktionsanalysen vorrangig
Interaktionen analysieren und Sequenzanalysen Sequenzen. Am Beispiel der
Riesterschen Rentenreform will ich allerdings aufzeigen, dass die Betrachtung
von Sequenzen, das heißt die Betrachtung von Policy-Wandel als Abfolge von
aufeinander folgenden sozialen Interaktionen es der Politikwissenschaft
ermöglicht, Policy-Wandel als Resultat eines radikalen Präferenzwandels, der
graduell vonstatten geht, zu analysieren. Wie Interaktionsanalysen betrachten
Sequenzanalysen politische Entscheidungen post festum. Anders als
Interaktionsanalysen gehen jedoch Sequenzanalysen davon aus, dass sich Politiken
(gesellschaftliche Problemlösungen) aufgrund der Selbsttransformation von
Problemen, Präferenzen und institutionellen Rahmenbedingungen verbrauchen
können, was quasi in einem Prozess der schöpferischen Selbstzerstörung
innovativen Policy-Wandel ermöglicht, weil dieser für staatliche,
parteidemokratische und verbandliche Akteure profitabel wird. Weil nach
Riester Hartz und die Gesundheitsreform kam, lohnt es sich für die
Politikwissenschaft, sich für solche Fälle innovativen Politikwandels zu rüsten.
"Unter sonst gleichen Bedingungen" scheint nicht immer eine realistische Annahme
zu sein. Bei den gegenwärtigen fiskalischen Problemen der Sozialpolitik ist dies
in besonderem Maße der Fall.
Die Frage ist
freilich, ob es einen kritischen Wert gibt, an dem der Imperativ der
Sozialintegration die Politik zu einem radikalen Wandel treibt. Um solche
kritischen Werte aufzuspüren, gilt es zunächst, die Mechanismen graduellen
Präferenzwandels eingehender zu untersuchen. Die Policy-Analyse könnte dabei an
neuere Konzepte der Analyse von institutionellen Wandel anschließen (vgl. hierzu
Streeck/Thelen 2005), die die Bedeutung von Mechanismen graduellen
institutionellen Wandels für radikalen institutionellen Wandel betonen.
Streeck/Thelen (2005)
betrachten die Erklärungskraft des Rationalwahlansatzes der
institutionalistischen Literatur kritisch. Dieser Ansatz geht mit dem Modell des
"punctuated equilibrium" einher, das - ähnlich der Blockadethese
- Phasen
des Wandels vorrangig in kurzen Zeiten einer radikalen Veränderung der
politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen lokalisiert, ansonsten jedoch
aufgrund institutioneller Pfadabhängigkeit die Wiederholung der immer selben
Handlungslogiken als Regelfall definiert. Sie schlagen daher vor, Institutionen
weniger - wie im Rationalwahlansatz üblich - als Koordinierungsinstrumente (Streeck/Thelen
2005: 11) denn als Regime zu betrachten (Streeck/Thelen 2005: 13). Als
Regime definiert stellen Institutionen legitimierte, das heißt von der
Gesellschaft sanktionierte Verhaltensregeln dar, wobei jedoch bei der Anwendung
der Regeln regelmäßig Abweichungen zu dem durch die Regeln legitimierten
Verhalten auftreten können[26],
so dass aus Inkongruenzen zwischen den Regeln und ihrer Übersetzung in Handeln
Spielräume entstehen, die unterschiedliche Handlungslogiken zulassen. Der
kreative Umgang mit Institutionen kann so, wenn die Abweichung vom legitimierten
Verhalten mit veränderten externen Rahmenbedingungen einhergeht, zum Spielfeld
von Experimenten politischer Unternehmer werden, die am Ende in einem radikalen
Wandel der Verhaltensregeln resultieren können. Trifft endogener, inkrementeller
Wandel auf exogen bedingte Veränderungen der Rahmenbedingungen, kann radikaler
Wandel die Folge sein:
How can transformative change result
from incremental change, in the absence of exogenous shocks? Institutional
structures, our chapters suggest, may be stickier than what they do and what is
done through them. If the latter changes significantly, however gradually,
analytical frameworks that take the absence of disruption as sufficient evidence
of institutional continuity miss the point, given that the practical
enactment of an institution is as much part of its reality as its formal
structure. […]
Fundamental change, then, ensues when a
multitude of actors switch from one logic of action to another. This may happen
in a variety of ways, and it certainly can happen gradually and continuously.
For example, given that logics and institutional structures are not one-to-one
related, enterprising actors often have enough 'play' to test new behaviors
inside old institutions, perhaps in response to new and as yet incompletely
understood external conditions, and encourage other actors to behave
correspondingly. (Streeck/Thelen 2005: 18, Hervorh. im Orig.)
Weil auch Policies Institutionen im oben definierten Sinne
sein können (Streeck/Thelen 2005: 12), könnte die Policy-Forschung bei der
Analyse von graduellem Präferenzwandel an diese Überlegungen zur Analyse von
graduellem, aber radikalem Institutionenwandel in weiteren Studien zu diesem
Thema anschließen. Eine Frage, die dabei auf Grundlage der in diesem Papier
herausgestellten sozialintegrativen Wirkung von Policies im Mittelpunkt stehen
sollte, ist: Unter welchen Bedingungen werden bestimmte Schwellenwerte ereicht,
an denen der Verlust an sozialer Integration Präferenzwandel auslöst?
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Endnoten
1
Hall (2005)
unterscheidet drei alternative "Forschungsprogramme", die in der vergleichenden
Politikwissenschaft gegenwärtig verfolgt werden: neomaterialistische Ansätze,
Analysen, die auf den Rationalwahlansatz
Bezug
nehmen, und schließlich ideenorientierte Studien im Rahmen von
konstruktivistischen Ansätzen.
2
Obwohl der hier
entwickelte Vorschlag einer sequenzorientierten Policy-Analyse sowohl
Präferenzen als auch Institutionen endogenisiert, halte ich die Implikation, die
Formierung von Präferenzen systematisch zu betrachten, für die gewichtigere
Schlussfolgerung. Ich sehe dies darin begründet, dass Präferenzen der Politik
die inhaltliche Richtung vorgeben, und ihr Wandel insofern Rückschlüsse auf die
inhaltliche Ausrichtung von Policy-Wandel erlauben.
3
Analytisch
unterscheidet Lehmbruch (2000a [1976]: 15) zwischen dem hierarchischen
Regelsystem, dem Regelsystem des Parteienwettbewerbs und dem Regelsystem des
Verhandelns. Scharpf (2000: 43) differenziert analytisch zwischen vier
verschiedenen "Interaktionsformen": einseitiges Handeln (nicht-kooperative
Spiele, wechselseitige Anpassung und negative Koordination), Verhandlungen
(Spot-Verträge, distributives Bargaining, Problemlösen und positive
Koordination), Mehrheitsentscheidungen und hierarchische Steuerung.
4
Das Regelsystem
Bundeskanzler wird durch das Parteiensystem, die Koalitionsregierung, "policy
resources" und die Persönlichkeit des Kanzlers bestimmt (Haungs 1986; Smith
1993; Korte 2000; Helms 2001).
5
Scharpf (2000: 122,
Fn. 14) hebt hervor, dass in der Policy-Forschung "Kontroversen über die
Stabilität und Veränderbarkeit von Präferenzen manchmal nur auf semantischen
Unterschieden beruhen". Während sich Intentionen, eine bestimmte Strategie zu
wählen, verändern können, so Scharpf, seien Präferenzwechsel, also der Wechsel
von Bewertungskriterien, "seltener zu beobachten" (ebd.).
6
Das ist deswegen der
Fall, weil Policies, auf die sich die Präferenzen beziehen, als Problemlösungen
definiert sind.
7
Der
Vetospieler-Ansatz möchte die Fähigkeit von politischen Systemen zu
Policy-Wandel erklären (Tsebelis 1995: 289; Tsebelis 2000). Unabhängige Variable
sind die Vetospieler ("institutional vetoplayers" und "partisan vetoplayers"),
wobei nach Tsebelis für deren Einfluss auf die Veränderung in Bezug zum Status
quo drei Parameter entscheidend sind: Anzahl der Vetospieler, Kongruenz und
interne Kohäsion der Vetospieler. Die Vetospieler-Theorie betrachtet das Handeln
der Akteure innerhalb bestehender Strukturen (institutionelle Vetospieler wie
die Zweite Kammer). Tsebelis geht es um die Bestimmung der Dynamiken und
Strategien der Akteure innerhalb verfestigter institutioneller
Rahmenbedingungen.
8
Manow/Burkhart
(2004) schlagen zur Analyse von konflikt- und kooperationsorientierten Verhalten
von Regierung und Opposition im deutschen Föderalismus das Modell der
"legislativen Autolimitation" vor. In diesem Modell hängt die Wahl von konsens-
und kompromissorientierten Verhalten von den Mehrheitsverhältnissen, den
Politikdistanzen zwischen Regierung und Opposition und der öffentlichen
Aufmerksamkeit für die Reform ab.
9
Dieses Konzept der
Gleichgewichtsergebnisse ist notwendig, weil sonst nicht-kooperative Spiele,
also Spiele ohne verbindliche Vereinbarungen, in einen "unendlichen Regreß von
immer kontingenteren Antizipationen" (Scharpf 2000: 31) münden würden.
10
Mir geht es hier
nicht um eine generelle Kritik an Ansätzen der interaktionsorientierten
Policy-Forschung, sondern um eine Verdeutlichung ihrer Prämissen. Auch kann im
Rahmen dieses Beitrages nicht der Vielfalt und Ausdifferenziertheit der
verschiedenen Ansätze Rechnung getragen werden.
11
Merkel (2003: 271)
fordert, den "institutionelle[n] Strukturalismus" des Vetospieler-Ansatzes
stärker mit Handlungskomponenten zu verbinden.
12
Wie bereits erwähnt,
könnte man alternativ - wie es zum Beispiel Manow/Burkhart (2004) tun - auch ein
spieltheoretisches Modell entwickeln, dass die determinierende Wirkung der
Blockadethese weniger rigoros handhabt.
13
Auch unter den
Rationalwahlmodellen gibt es solche, die Sequenzen integrieren, indem sie die
Reihenfolge, in der Policy-Vorschläge gemacht werden, als bedeutenden Faktor für
die kollektive Entscheidungssituation hervorheben (Pierson 2004: 58-63). Sequenz
bezeichnet dort die Reihenfolge in der Auswahl verschiedener Alternativen,
jedoch nicht - wie hier gemeint - die Art und Weise, wie sich Interaktionen über
die Zeit entfalten.
14
Von der
Sozialintegration ist die Systemintegration zu unterscheiden (Lockwood
1964, 1979), die ich im Folgenden nicht weiter ansprechen werde, die jedoch in
der Analyse von Policy-Wandel ebenso Berücksichtigung finden sollte. Während die
Sozialintegration die Akteurebene anspricht - hier geht es nach Lockwood (1979:
125; Hervorh. im Orig.) um die "geordneten und konfliktgeladenen Beziehungen der
Handelnden eines sozialen Systems"-, dreht es sich beim Problem der
Systemintegration "um die geordneten oder konfliktgeladenen Beziehungen zwischen
den Teilen eines sozialen Systems" (ebd.; Hervorh. im Orig.). Nach
Lockwood ist die Unterscheidung zwischen Sozial- und Systemintegration
analytisch sinnvoll, weil Systemintegration nicht zwangsläufig Sozialintegration
sichert. Empirisch, so Lockwood, hängen beide Integrationsprobleme jedoch
zusammen, so dass sozialer Wandel nur durch die Berücksichtigung von Sozial-
und Systemintegration untersucht werden kann. Schwinn (2001: 212) hebt
hervor, dass die neue Systemtheorie (Luhmann, Nassehi) diese Grundidee Lockwoods
nicht aufgreift, weil hier die soziale Integration "zum Verschwinden" gebracht
würde.
15
Die
systemintegrative Bedeutung von Policies ist darin zu verorten, dass
dysfunktionale Policies, also Policies, deren Ziele nicht mehr mit den
vorhandenen Ressourcen eines Gemeinwesens erfüllt werden können, die
Koordination zwischen verschiedenen Policies dergestalt beeinflussen, dass sich
die Art der Interdependenz zwischen Policies verändert. Dies kann die
Funktionsfähigkeit der Gesamtgesellschaft empfindlich stören.
16
Hier greife ich
Schwinn (2001) auf, der hinsichtlich der sozialintegrativen Bedeutung der
staatlichen Ordnung mehrere Ebenen unterscheidet: die kulturelle, die
rechtliche, die intermediäre, die legitimatorische und die Ebene des
Lebenslaufs. Auf der intermediären Ebene hat die staatliche Ordnung nach Schwinn
(2001: 211) eine sozialintegrative Bedeutung, weil sie "einen notwendigen Rahmen
für die Konfliktinstitutionalisierung zwischen den Interessengruppen bildet". Zu
den Bedingungen der Sozialintegration nach innen (bei Streeck 1987:
Mitgliedschaftslogik) und der Systemintegration nach außen für intermediäre
Organisationen in sich ändernden Umwelten (bei Streeck 1987: Einflusslogik) vgl.
allgemein Streeck 1987.
17
Auch Arthur Benz
(2003: 230) betont, dass eine der zentralen Schwächen der Vetospieler-Theorie
ihre Annahme der determinierenden Wirkung von Institutionen sei. Um der
Innovationsfähigkeit der Politik besser Rechnung tragen zu können, schlägt Benz
(2003: 230) vor, die Veränderbarkeit institutioneller Rahmenbedingungen durch
"Krisen" zu berücksichtigen: "Politische und wirtschaftliche Krisen führen
regelmäßig dazu, dass Vetos, welche die Handlungsfähigkeit eines politischen
Systems blockieren, als illegitim betrachtet werden. In diesen Fällen nimmt in
intergouvernementalen Verhandlungen der Druck, einen Konsens zu erreichen, zu,
und Parlamente verzichten auf störende Interventionen. Auch Vetos, die besondere
Interessen auf Kosten einer problemlösenden Entscheidung stützen, können
Legitimationsprobleme aufwerfen, auf die Inhaber von Vetomacht achten müssen.
Diese Faktoren resultieren aus den Zufälligkeiten von Ereignissen, weshalb über
die nur schwer generalisierbare Aussagen gemacht werden können." Mein Vorschlag
einer Sequenzanalyse greift diesen Einwand von Benz auf; im Gegensatz zu Benz
möchte ich jedoch hervorheben, dass Entscheidungsblockaden aufhebende Krisen
durch etablierte Problemlösungen verursacht sein können, und damit nicht nur aus
zufälligen Ereignissen resultieren, über die keine generalisierbaren Aussagen
getroffen werden können.
18
Bei der Beschreibung
der sozialintegrativen Bedeutung staatlicher Ordnung lehne ich mich an die
Darlegung Schwinns (2001) an. Ich greife von Schwinn drei Formen der
sozialintegrativen Bedeutung staatlicher Ordnung auf: die auf der kulturellen,
der rechtlichen und der intermediären Ebene.
19
Daraus zu
schlussfolgern, dass Problemlösungsfähigkeit Voraussetzung für soziale
Integration ist, wäre gleichwohl naiv. Allerdings kann kaum bestritten werden,
dass es die Erwartung des Wählers und der öffentlichen Meinung gibt, dass die
Politik Probleme löst, die Politiker auf diese Erwartungen auch eingehen und ein
Scheitern der Politik bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme zu
Stimmverlusten bei den nächsten Wahlen führen kann. Es kann auch kaum bestritten
werden, dass Policies, wenn ihre Ziele mit den vorhandenen Ressourcen des
Gemeinwesens nicht mehr erfüllt werden können, dysfunktional werden. Ebenso
plausibel ist es, dass Verbände und Parteien bei der Bearbeitung von
gesellschaftlichen Problemen auf die Loyalität ihrer Untergliederungen und
Mitglieder angewiesen sind.
20
Der Beitrag
fokussiert damit auf die Wirkung von politischen Macht- und
Interessenauseinandersetzungen auf politischen Wandel. Er schließt damit an
Ansätze an, die die Bedeutung der Politics betonen. Eine Betrachtung der
sozialintegrativen Bedeutung von Policies auf der kulturellen Ebene würde
demgegenüber den langfristigen Wandel politischer Deutungen hinsichtlich
wahrgenommener Probleme und ihrer Lösungen in den Vordergrund stellen. Legt man
in einer sequenzorientierten Analyse den Schwerpunkt auf diese Ebene, so wäre
sie an den Ansatz der Wissenssoziologie anschlussfähig; vgl. hierzu aktuell und
bezogen auf rentenpolitische Entscheidungsprozesse Marschallek (2004).
21
Zu den offiziellen
Reformkonzepten in der Rentenpolitik zu Beginn der Legislaturperiode vgl.
Koalitionsvertrag zwischen SPD und Bündnis90/Die Grünen vom 28. Oktober 1998,
24-25; SPD-Programm für die Bundestagswahlen 1998 vom 17. April 1998, 22-23;
Bündnis 90/Die Grünen, 1998, "Grün ist der Wechsel", Programm zur Bundestagswahl
1998, 5, 21-22; 36-37. Im SPD-Programm für die Bundestagswahlen 1998 wird als
Ziel "ein weiterhin bezahlbares Rentensystem, das den Menschen im Lebensalter
einen angemessen Lebensstandard sichert" (SPD 1998: 22) definiert. Der
Koalitionsvertrag formuliert als Ziel "ein bezahlbares Rentensystem, das den
Menschen im Lebensalter einen angemessenen Lebensstandard garantiert"
(Koalitionsvereinbarung 1998: 24). Der Koalitionsvertrag legte ferner fest, den
demographischen Faktor und die Kürzung der Erwerbsminderungsrente der Regierung
Kohl auszusetzen. Systemkonsolidierenden Charakter hatten die Konzepte insofern,
als von einer Aufgabe der paritätischen Finanzierung nicht die Rede war. Weitere
Säulen werden angesprochen. Deren Funktion wird jedoch nicht als Ersatz für
Kürzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung definiert.
22
Dies belegen
Umfragen, die Mitte der 1990er-Jahre stattfanden. So z.B. die Umfrage der
Wirtschaftsjunioren Deutschland vom Mai 1994 (FAZ vom 27.7.1994: 12; SZ vom
27.7.1994: 12), die vom Meinungsinstitut Emnid ausgewertet wurde und in der sich
eine Mehrheit der Befragten (52 Prozent) dafür aussprach, die Lohnnebenkosten zu
reduzieren. In einer empirischen Studie des Forschungsinstituts für
Ordnungspolitik (FiO 1996: 9; 12) von 1996 empfinden 76,4 Prozent der Befragten
die Sozialabgabenbelastung als zu hoch und 87,4 Prozent erklären, "dass die
Belastung der Arbeitnehmer und Unternehmen durch Sozialversicherungsbeiträge
nicht weiter steigen darf".
23
Zwischen 1987 und
1997 stieg der Anteil der 22- bis 26-Jährigen und der 27- bis 31-Jährigen, die
sich für Eigenvorsorge in der Sozialversicherung aussprachen, um 9,1
Prozentpunkte (von 18,5 Prozent auf 27,6 Prozent) beziehungsweise 10,1
Prozentpunkte (von 25,8 Prozent auf 35,9 Prozent), während er über alle
Altersgruppen hinweg lediglich um 4,7 Prozentpunkte (von 19,7 Prozent auf 24,4
Prozent) stieg (vgl. Rinne 2000: 38, Tab. 4). Weniger deutlich setzen sich 20-
bis 30-Jährige von den restlichen Altersgruppen bei der Bewertung der
Sozialbeiträge als zu hoch ab; in der Altersgruppe der 22- bis 26-Jährigen stieg
zwischen 1987 und 1997 der Anteil um 14 Prozentpunkte (von 26,2 Prozent auf 40,2
Prozent), bei den 27- bis 31-Jährigen um 18,6 Prozentpunkte (von 30,9 Prozent
auf 49,5 Prozent). Über alle Altersklassen verteilt stieg der Anteil um 12,9
Prozentpunkte von 24 Prozent auf 36,9 Prozent. Dabei wurde 1987 nach den
Beiträgen für die Kranken- und Rentenversicherung und 1997 für die
Sozialversicherung insgesamt gefragt (vgl. Rinne 2000: 36, Tab. 3; eigene
Berechnungen).
24
Das Rentenniveau von
67 Prozent nach der Riester-Reform kommt durch einen Rechentrick zustande. Die
Berechnungsgrundlage (§68 SGB IV neu) wurde verändert. Nach alter Berechnung
würde das Rentenniveau 64 Prozent betragen (Unterhinninghofen 2002: 217).
25
Das
Bundesarbeitsministerium brachte seinen Konsolidierungsbeitrag durch folgende
Maßnahmen auf: Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe, Senkung der
Bemessungsgrundlage für den Rentenversicherungsbeitrag der Wehr- und
Zivildienstleistenden von 80 auf 60 Prozent; Senkung der Bemessungsgrundlage für
den Rentenversicherungsbeitrag der Empfänger von Arbeitslosenhilfe durch
Umstellung der Bemessungsgrundlage von Bemessungsentgelt auf Zahlbetrag der
Arbeitslosenhilfe; die Rentenanpassung sollte für 2000 und 2001 nicht nach den
Nettolöhnen, sondern nach der Inflationsrate erfolgen; für das Arbeitslosengeld,
die Arbeitslosenhilfe, das Unterhaltsgeld und das Übergangsgeld wurde das
Bemessungsentgelt von Juli 2000 bis Juni 2002 nicht nach dem Bruttolohn, sondern
nach der Inflation angepasst; für Maßnahmen der SAM-Ost wurde der Zuschuss auf
70 Prozent des monatlichen Höchstförderungsbetrages begrenzt; das
Bemessungsentgelt für das Krankengeld wurde von Juli 2000 bis Juni 2002 nicht
nach den Nettolöhnen, sondern nach Inflation angepasst.
26
Damit wird eine
Institution als Regime im Sinne Max Webers Herrschaftsverband definiert (Streeck/Thelen
2005: 13).
Copyright © 2005 Christine Trampusch No part of this publication may be
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