Intervention in den Zeiten der Interdependenz

Czempiel, Ernst-Otto

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URL https://edoc.vifapol.de/opus/volltexte/2008/248/
Dokumentart: Bericht / Forschungsbericht / Abhandlung
Institut: HSFK-Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
Schriftenreihe: HSFK-Report
Bandnummer: 2006,02
Sprache: Deutsch
Erstellungsjahr: 2006
Publikationsdatum: 22.01.2008
SWD-Schlagwörter: Interdependenz , Verbundangebot , Nachfrageinterdependenz
DDC-Sachgruppe: Politik
BK - Basisklassifikation: 89.90 (Außenpolitik, Internationale Politik)
Sondersammelgebiete: 3.6 Politik und Friedensforschung

Kurzfassung auf Deutsch:

Mit den Bombenangriffen der NATO auf Serbien im Sommer 1999 war eine Zeitlang die Gefahr gegeben, daß die Anwendung organisierter militärischer Gewalt, der Krieg, als Mittel der Politik zurückkehren würde. Den vereinten Anstrengungen der Europäer ist es gelungen, diese NATO-Aktion gegen Serbien wieder in den Rahmen des UN-Regimes zurückzuholen und damit dessen Wiederherstellung zu sichern. Immerhin hatte dieses Regime, verankert in der Charta der Vereinten Nationen, seit 1945 die Norm des Gewaltverbotes außer zu Zwecken der Verteidigung aufrecht erhalten. Auch die zahlreichen Verstöße gegen diese Norm, die in der zweiten Jahrhunderthälfte aufgetreten sind, hatten sie nicht beschädigt. Erst die NATO-Entscheidung, bewußt ohne UN-Mandat Gewalt gegen Serbien anzuwenden, drohte die Norm zu verletzen. Das im April 1999 in Washington verkündete Neue Strategische Konzept der NATO wies ebenfalls in diese Richtung, da sich die Militärallianz das Recht zuspricht, auch ohne UN-Mandat Gewalt einzusetzen. Die Gefahr, daß die Norm des Gewaltverzichts laut Artikel 2, Abs. 4 der UN-Charta durch die Praxis doch noch ausgehebelt wird, ist also keineswegs beseitigt. Insofern ist es höchst aktuell, das Problem der gewaltsamen Intervention in die inneren Angelegenheiten eines Staates erneut zur Diskussion zu stellen. Dabei geht es um normative und um strategische Aspekte. Angesichts der hohen Interdependenz, die im europäischen System herrscht, kann von einem Recht, muß vielleicht sogar schon von einer Pflicht zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates dann gesprochen werden, wenn in diesem Staat die Menschenrechte manifest verletzt werden. Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping hat Recht, wenn er in seinem Buchtitel feststellt: „Wir durften nicht wegsehen“. Dieser Norm gerecht zu werden, vermag der UN-Sicherheitsrat seit 1945. Laut Art. 1, Abs. 7 der UNCharta kann er sich auch mit Gewaltmaßnahmen in die inneren Angelegenheiten eines Staates einmischen, wenn dort die Verletzung der Menschenrechte den Frieden gefährdet. Das war in Serbien nach NATO-Meinung der Fall. Der Sicherheitsrat hatte dieser Analyse zugestimmt, aber keinen Eingriffsbeschluß gefaßt. Damit gab es keine völkerrechtlich verbindliche Grundlage für die Gewaltaktion der NATO. Sie hat insofern als klare Aggression zu gelten, die sich ausschließlich auf das Recht des Stärkeren beruft. Diesen Makel hatte das Instrument der „Humanitären Intervention“ schon seit seiner Einführung im 19. Jahrhundert aufgewiesen; es wurde deswegen alsbald wieder aufgehoben. Wer ohne Legitimation durch eine internationale Organisation Gewalt gegen einen Staat anwendet, setzt sich dem Verdacht aus, humanitäre Motive lediglich vorzuschieben, um den Einzugsbereich seiner Macht zu erweitern. Die NATO-Aktion ist davon keineswegs frei; de facto hat sie mit dem Kosovo, Mazedonien und Albanien die noch bestehende Präsenzlücke auf dem Balkan geschlossen, so daß sie jetzt von Westeuropa bis zum Kaspischen Meer reicht. Indem sie eine Neue Norm mit veralteten Strategien ausstattete, hat sie sie in ihr Gegenteil verkehrt. Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten bildet die richtige normative Konsequenz aus der Einsicht in die hohen Grade von Interdependenz, die in Europa die Staaten aneinander geschoben und ihre Souveränität eingeschränkt haben. Was in einem Land vorgeht, beII trifft immer auch dessen Nachbarn, rechtfertigt also deren Aufmerksamkeit und deren Einwirkung. Sie müssen sich, da die Quelle der Gewalt im Herrschaftssystem eines Staates zu suchen ist, auf die Veränderung dieses Herrschaftssystems richten. Damit ist auch der Begriff der Intervention inhaltlich randscharf bestimmt. Sie stellt den Versuch eines auswärtigen Akteurs dar, auf das Herrschaftssystem eines Landes einzuwirken. Nur ein demokratisch verfaßtes Herrschaftssystem garantiert, daß der betreffende Staat ein friedliches Verhältnis zu seinen Nachbarn entwickelt und im Innern die Menschen- und Bürgerrechte wahrt. Da die Nachbarn von einem solchen Verhalten betroffen werden, haben sie das Recht und die Pflicht, auf die Demokratisierung des Herrschaftssystems hinzuwirken. Unter den Bedingungen von Interdependenz ist diese Einmischung in die inneren Angelegenheiten geboten. Das Interventionsverbot, das Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates, das das klassische Völkerrecht beherrscht, hat unter den Bedingungen der Interdependenz als obsolet zu gelten. Voraussetzung dafür ist, daß die Intervention absolut gewaltfrei verläuft. Muß Gewalt angewendet werden, weil keine andere Möglichkeit mehr übrigbleibt, ist ihre Legitimation durch eine internationale Organisation erforderlich. Nur deren Mandat löst die Verbindung von Norm und Interesse auf, stellt im Konsens der Mitglieder sicher, daß die Gewaltanwendung ausschließlich der Durchsetzung des intendierten Ziels, der Wiederherstellung und Wahrung der Menschenrechte, dient. Ein solches Mandat kann gegenwärtig nur von der globalen Organisation der Vereinten Nationen erkannt werden. Es wäre aber richtig und wichtig, daß auch regionale Organisationen dieses Mandatierungsrecht erhalten. Die OSZE, beispielsweise, wäre im Hinblick auf alle europäischen Staaten die geeignete Instanz, solche Mandate zu erteilen. Kommt ein Mandat nicht zustande, weil der Konsens fehlt, kann Gewalt nicht legitim angewendet werden. Dies bedeutet aber nicht, daß jede Intervention zu unterbleiben hat. Im Gegenteil. Die Gewaltanwendung ist nur die letzte und verzweifelte Strategie, die eingesetzt werden muß, wenn es gilt, Schlimmeres, das Schlimmste zu verhüten. Sehr viel erfolgreicher sind gewaltfreie Strategien, die vorbeugend verwendet werden können. Mit ihnen lassen sich die Herrschaftsstrukturen eines Landes verändern; sie wirken positiv auf deren Demokratisierung. Musterbeispiel dafür ist der Marshall-Plan der Vereinigten Staaten von 1948. Er war explizite dazu bestimmt, die demokratischen Herrschaftsstrukturen in westeuropäischen Ländern wiederherzustellen und zu stärken. Ebenso hat es die Europäische Union zur „Konditionalität“ jeden neuen Beitritts erhoben, daß der Kandidat demokratisch verfaßt ist und die Menschen- und Bürgerrechte gewährleistet. In beiden Fällen fand eine direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten statt. In beiden Fällen war sie außerordentlich erfolgreich. Die Einmischung zur Norm unter den Bedingungen der Gesellschaftswelt zu erheben, heißt also gerade nicht, der Gewaltanwendung eine neue Tür zu öffnen. Es heißt vielmehr, die Außenpolitik in das Zeichen der Vorbeugung zu stellen und rechtzeitig die zahllosen Einwirkungs- und Einflußmöglichkeiten auszunutzen, die die Interdependenz bereitstellt. Handel und Wandel, Politik und Kultur bieten eine Unzahl von außerordentlich wirksamen Einmischungsstrategien zugunsten der Wahrung der Menschenrechte und der Herstellung von Demokratie. Die Europäische Union hat mit dem Stabilitätspakt für den südlichen III Balkan die richtige strategische Konsequenz aus der Einmischungsnorm einerseits, der Interdependenz andererseits gezogen. Leider hat sich die schon im 19. Jahrhundert bekannt gewordene „Schieflage“ wieder eingestellt. Die Staaten sind zwar bereit, schnell große Geldsummen für die Gewaltanwendung auszugeben, zögern aber bei der Finanzierung vorbeugender Interventionsmaßnahmen. Diese widersinnige Handhabung der Prioritäten war schon im 19. Jahrhundert kritisiert worden, sie kann im 21. nicht mehr hingenommen werden. Sowohl der Aspekt der sparsamen Verwendung von Haushaltsmitteln wie das Aufwand-Erfolgs-Verhältnis verlangen, daß Vorbeugungsmaßnahmen großzügig finanziert und die – nur für den äußersten Notfall erforderlichen – Gewaltpotentiale lediglich eine Mindestausstattung erhalten. Die Norm der gewaltfreien Einmischung kann um so leichter erfüllt werden, als ihrer Umsetzung eine Fülle von Strategien zur Verfügung steht. Indirekt wirkende Strategien machen sich die Tatsache zu eigen, daß der Grad demokratischer Freiheit in einem Land direkt abhängig ist von einem niedrigen Spannungsgrad in seiner Umwelt. Diese dynamische Beziehung kann höchst effektiv benutzt werden, um die Demokratisierung eines Landes zu befördern. Allgemein ausgedrückt: Jede Umweltveränderung eines Staates muß auch darauf hin geprüft werden, wie sie auf dessen Herrschaftssystem wirkt. Diesen Zusammenhang verdrängt zu haben, ist der große Vorwurf, den sich die Osterweiterung der NATO nach wie vor gefallen lassen muß. Die direkt wirkenden Strategien versuchen, entweder unmittelbar oder mittelbar auf das Herrschaftssystem einzuwirken. Dabei liegt es nur scheinbar nahe, den unmittelbar wirkenden Strategien den Vorzug zu geben. Sie sind natürlich, wie die Hinweise auf den Marshall-Plan und die Konditionalität der Europäischen Union zeigen, äußerst wirksam. Das direkte Engagement des Auslands löst aber immer auch das kontraproduktive Argument der Fremdbestimmung aus. Deswegen sind direkt mittelbar wirkende Strategien von besonderem Interesse. Eine richtig vergebene Wirtschaftshilfe stärkt die Gesellschaft in einem betreffenden Land auch gegenüber ihrem politischen System. Die erfolgreiche Einführung und Förderung liberaler Marktwirtschaft erzeugt sozusagen von selbst im Zuge ihrer Entfaltung die Beachtung der Bürgerrechte und die Stärkung der Demokratie. Von besonderer Bedeutung in diesem Bereich ist die Interaktion zwischen gesellschaftlichen Akteuren. Die Kooperation zwischen Verbänden und Organisationen überträgt sozusagen von selbst Demokratiemodelle. Städtepartnerschaften stärken im Adressatenland dezentrale und föderale Tendenzen, wirken der Machtakkumulation entgegen. Um der Norm der Einmischung in die inneren Angelegenheiten gerecht zu werden, brauchen also keine neuen Strategien erfunden zu werden. Worauf es ankommt, ist, in den vorhandenen und eingesetzten Instrumenten der Außenpolitik die Einwirkungsstrategien zu erkennen, die sie enthalten. Sie müssen dementsprechend einen neuen Rang erhalten. Wer die Wirtschaftshilfe beispielsweise als Interventionsstrategie begreift, wird sie ganz anders einsetzen und ausstatten als derjenige, der sie lediglich als Lastenausgleich betrachtet. Das Einmischungsgebot verlangt damit nicht weniger als eine komplette Neubewertung der Instrumente moderner Außenpolitik in der Gesellschaftswelt.


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