Die Kosovo-Kriege 1998/99 : die internationalen Interventionen und ihre Folgen

Meyer, Berthold ; Schlotter, Peter

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URL https://edoc.vifapol.de/opus/volltexte/2008/249/
Dokumentart: Bericht / Forschungsbericht / Abhandlung
Institut: HSFK-Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
Schriftenreihe: HSFK-Report
Bandnummer: 2000,01
Sprache: Deutsch
Erstellungsjahr: 2000
Publikationsdatum: 22.01.2008
SWD-Schlagwörter: NATO , Militärische Intervention , Kosovo-Krieg
DDC-Sachgruppe: Politik
BK - Basisklassifikation: 89.79 (Internationale Konflikte: Sonstiges)
Sondersammelgebiete: 3.6 Politik und Friedensforschung

Kurzfassung auf Deutsch:

Nachdem die Luftangriffe der NATO gegen Jugoslawien am 10. Juni 1999 ausgesetzt und in den folgenden Tagen die serbischen militärischen und paramilitärischen Einheiten aus dem Kosovo zurückgezogen worden waren, rückten internationale KFOR-Truppen in die nach wie vor zu Serbien gehörende Provinz ein. Waren bis dahin die Albaner Opfer serbischer Vertreibungspolitik gewesen, so konnte die Anwesenheit der KFOR nun nicht verhindern, dass die noch in der Region lebenden Serben von Kosovaren – oft mit Unterstützung der Kosovo Befreiungsarmee UÇK – vertrieben wurden. Insofern kann von Sicherheit und Stabilität oder gar Frieden in der Region noch keine Rede sein. Der vorliegende Report zieht eine erste Bilanz der beiden Kriege, des zwischen Serben und Kosovaren ausgetragenen Sezessionskriegs sowie des darauf bezogenen NATO-Luftkriegs. Wir fragen dabei auch nach den vertanen Chancen zur Gewaltprävention und zur internationalen Vermittlung im eskalierenden Konflikt sowie nach den Perspektiven des am Kriegsende abgeschlossenen Stabilitätspaktes für Südosteuropa. Betrachtet man die Geschichte des Kosovo bis in die Gegenwart, so lässt sich aus ihr keine generelle „Erbfeindschaft“ zwischen Kosovaren und Serben herleiten. Beide Seiten "konstruierten" im Zuge des überall in Europa aufkommenden Nationalismus und der Gründung von Nationalstaaten ihre geschichtlichen Mythen. Indem diese politisch handlungsbestimmend wurden, leiteten Serben wie Albaner aus ihnen einen alleinigen Anspruch auf das Kosovo ab. Dabei waren die Serben seit Beginn ihrer Herrschaft über diese Region (1913) nicht bereit, die kosovarische Bevölkerungsmehrheit, die sich im Lauf der Siedlungsgeschichte herausgebildet hatte, über Partizipationsrechte in den serbischen bzw. jugoslawischen Staat zu integrieren. Als Reaktion darauf strebten die Kosovaren nach mehr Autonomie bis hin zur Unabhängigkeit. In diesem Dauerkonflikt setzten die Serben alles daran, das Gebiet unter eigener Kontrolle zu halten – seit dem Machtantritt Milosevics immer mehr durch den Einsatz von Gewalt. Grundsätzlich sind ethno-nationale Konflikte von außen schwer zu beeinflussen, vor allem, sobald sie die Schwelle zur Gewalt überschritten haben. Das Scheitern der präventiven Bemühungen der Internationalen Organisationen in Kosovo seit Anfang der neunziger Jahre hat allerdings auch Gründe, die an den Besonderheiten dieses Konfliktes und seiner Einbettung in die Geschichte des Zerfalls Jugoslawiens nach dem Ende des Ost- West-Konfliktes festzumachen sind. Der autoritäre Charakter des Milosevic-Regimes bot wenig Spielraum für eine friedliche Konfliktregelung, selbst als die Kosovo-Albaner auf die Abschaffung ihrer Autonomierechte und die Repression durch die serbische Seite noch mit gewaltfreien Mitteln reagierten. Die internationale Gemeinschaft hatte zwar immer wieder die serbische Regierung zu einer politischen Regelung aufgerufen, aber dann im Friedensvertrag von Dayton den Kosovokonflikt auf serbisches Drängen hin ausgeklammert. Dies verlieh wiederum jenen albanischen Kräften Auftrieb, die auf eine Sezession mit allen Mitteln setzten, und ab 1997 als Kosovo-Befreiungsarmee UÇK mit Terroranschlägen gegen serbische Einrichtungen vorgingen. II Eine Antwort auf die Frage, ob bei einem stärkeren präventiven und vermittelnden Engagement der westlichen Staaten ihr militärisches Eingreifen hätte vermieden werden können, ist – da „kontrafaktisch“ – nicht zu geben. Doch ohne Zweifel haben die westlichen Staaten im Verhalten gegenüber der serbischen Regierung Fehler gemacht. Sie resultieren zum einen daraus, dass sich die westlichen Staaten und Russland nur partiell einig waren, zum anderen sind sie darauf zurückzuführen, dass die Vereinigten Staaten über die NATO die Führungsrolle bei der Konfliktbeendigung spielen wollten. Während man auf den Ebenen der UNO, der OSZE und der Balkan-Kontaktgruppe sehr lange auf politische Lösungen setzte (vor allem, weil Russland keine Alternativen dazu akzeptierte), begann die Allianz sehr früh damit eine Drohkulisse aufzubauen. Milosevic, der Russland an seiner Seite glaubte, ließ sich nur geringfügig von ihr beeindrucken. Immerhin stimmte er im Oktober 1998 einer 2000 internationale Mitarbeiter umfassenden OSZE-Mission zur Überwachung eines Waffenstillstandes zu. Da die Beobachter jedoch selbst unbewaffnet sein mussten, gelang es ihnen nicht, beide Seiten an der Wiederaufnahme der Kämpfe zu hindern. Es spricht viel dafür, dass der Konflikt im Kosovo vom Milosevic-Regime nach dem im Bosnienkrieg praktizierten Muster weiter gehandhabt worden wäre, nämlich Verhandlungen endlos dahin zu schleppen und militärisch Fakten zu schaffen. Allerdings setzten sich die westlichen Staaten durch die Politik, die serbische Regierung durch die Androhung militärischer Gewalt ultimativ zur Annahme ihrer Forderungen zu bewegen, selbst unter Zugzwang, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit als Militärbündnis nicht opfern wollten. Die Entscheidung, entweder der Gewalt gegenüber den Kosovaren tatenlos zuzusehen oder den Krieg gegen Serbien zu beginnen, war die Wahl zwischen zwei Übeln. Als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im September 1998 keine Entscheidung zugunsten einer bewaffneten internationalen Friedenstruppe für das Kosovo zu treffen vermochte, entschied sich die NATO auf eigene Verantwortung zu handeln. Wir gehen der Frage nach, wie dieser Völkerrechtsbruch zu bewerten ist. Ist er der Notfallsituation geschuldet, die als Ausnahme legitimierbar ist, oder wurde mit ihm ein Präzedenzfall geschaffen, der die prekäre Ordnung des UN-Systems untergräbt und anderen Staaten die Begründung dafür liefert, sich ebenfalls nicht an das Völkerrecht zu halten. Auch künftig ist mit Konflikten zu rechnen, in denen eine Intervention aus humanitären Gründen geboten, aber der Sicherheitsrat blockiert ist. Um der dann wieder zu erwartenden Dilemmasituation vorzubeugen, empfehlen wir, beim Internationalen Gerichtshof um ein Gutachten über die Frage nachzusuchen, unter welchen Bedingungen die Berufung auf das Verbot der "Einmischung in die inneren Angelegenheiten" als Abwehr gegen internationale Nothilfeansinnen nicht zulässig ist und ob unter bestimmten Voraussetzungen eine regionale Einrichtung mit militärischen Mitteln in einer humanitären Notlage intervenieren darf, wenn der Sicherheitsrat unwillig oder unfähig war, hierfür ein Mandat zu erteilen. Obwohl die NATO den Krieg mit einem großen Aufwand an Luftstreitkräften und Präzisionswaffen führte, hat sie nur wenige militärische Ziele der Serben zerstört. Zugleich wurde eines der politische Ziele, eine "humanitäre Katastrophe" zu verhindern, verfehlt. Kriegsziele und Kampfmittel standen in einem eklatanten Missverhältnis. Die NATO geriet nach wenigen Wochen in eine Sackgasse, aus der nur die Eskalation in den nicht III gewollten Bodenkrieg oder eine verhandelte Kriegsbeendigung herausführen könnte. Die Initiative zur zweiten Alternative ging von der deutschen Bundesregierung aus. Die Kriegsbeendigung zu den inhaltlichen Bedingungen der NATO, d.h. des Abzugs der serbischen Sicherheitskräfte, des Einzugs einer internationalen Friedenstruppe und der Rückkehr der Kosovaren, gelang allerdings erst mit Hilfe Russlands. Ob die Vertreibungen bei einer anderen Strategie vermeidbar gewesen wäre, lässt sich nicht endgültig entscheiden. Die Verfasser gehen von der Annahme aus, dass bei einem Landkrieg wahrscheinlich ungleich mehr Opfer auf allen Seiten zu beklagen gewesen wären. Die Kriegsbeendigung ohne die totale Kapitulation des Milosevic-Regimes hat jedoch zur Folge, dass es weiterhin an der Macht ist und ein zentrales Hindernis für den politischen und wirtschaftlichen Aufbau der gesamten Region darstellt. Der „Stabilitätspaktes für Südosteuropa“ soll die gesamte Region zu einer Zone des Freihandels, der Demokratie und der regionalen Kooperation entwickeln, damit sie langfristig in die Europäische Union und die NATO einbezogen werden kann. Ein demokratisiertes Jugoslawien ist ausdrücklich eingeladen, ihm beizutreten. Dieses äußerst ehrgeizige Projekt versucht, die angemessenen Konsequenzen aus den Kriegen auf dem Balkan zu ziehen. Der Übergang zu einer Friedenszone in Südosteuropa ist von drei grundlegenden Schwierigkeiten gekennzeichnet. Es geht um die Gewährleistung der Sicherheit, nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch zwischen den Völkern in der Region, deren Siedlungsgebiete in vielfältiger Weise nicht mit den gegenwärtigen Staatsgrenzen übereinstimmen. Doch genauso wichtig sind der Übergang zu demokratischen Verhältnissen und die sozioökonomische Transformation. Angesichts der tiefen gesellschaftlichen Zerklüftung in allen Staaten der Region ist das langfristige politische, militärische und wirtschaftliche Engagement der westlichen Staaten zur Regelung der komplexen Problemlage unabdingbar. Gerade auf dem Balkan ist das Spannungsverhältnis zwischen territorialem Status quo und Selbstbestimmung häufig Anlass zu Kriegen gewesen. Um dort zu einer Friedensordnung zu gelangen, ist es deshalb erforderlich, unter Bezug auf die KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) und die Charta für ein Neues Europa von Paris (1990) eine Garantieerklärung aller Beteiligten für die bestehenden Grenzen zu vereinbaren und sie zu verpflichten, diese nur im gegenseitigen Einvernehmen zu ändern. Dies bedeutet mit Blick auf das Kosovo eine Absage an eine schnelle staatliche Unabhängigkeit, zu der es allenfalls langfristig und im Konsens mit Serbien, Montenegro, Mazedonien und Albanien kommen kann. Noch mehr wäre allerdings der Stabilität gedient, wenn es mithilfe des Paktes gelänge, eine Situation herbeizuführen, in der die zwischenstaatlichen Grenzen ihre trennende Funktion für immer verlieren. Zentral mit dieser Problematik verknüpft ist die Regelung der "serbischen Frage", d.h. des Problems, wie Serbien sich einfindet und eingebunden wird in eine regionale Ordnung, zumal noch viele Serben außerhalb des "Mutterlandes" in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens leben und ein Potential für irredentistische Bewegungen bilden. Es wird für die serbischen Führungsschichten darauf ankommen zu erkennen, dass eine serbische Großraumpolitik weder von den Nachbarn noch von der internationalen Staatengemeinschaft mitgetragen wird. Frieden wird erst dann eine stabilere Grundlagen finden, wenn die serbische Gesellschaft ihre Zukunft demokratisch organisiert und den Schutz der serbischen Minderheiten in den Nachbarstaaten durch Kooperation mit ihnen und nicht durch "Anschlusspolitik" zu erreichen sucht. IV Der Frage der Demokratisierung aller unmittelbar betroffenen Staaten muss besondere Aufmerksamkeit gelten. Die Erfahrungen des Dayton-Prozesses zeigen, dass dieses Ziel nicht primär über den Weg der Organisation von unverfälschten Wahlen zu erreichen ist, sondern über die Absicherung der Rahmenbedingungen für eine pluralistische Zivilgesellschaft. Solange Parteien sich in Nachkriegsgesellschaften allein entlang ethnischer Zugehörigkeit definieren, können multiethnische Gesellschaften nicht zustande kommen. Für das Kosovo muss allerdings gefragt werden, inwieweit dieses Ziel für die gegenwärtigen Generationen realistisch ist. Die Perspektive der Mitgliedschaft aller Balkanstaaten in der Europäischen Union wirft einige Fragen auf, die die innere Kohäsion und den künftigen Charakter der EU betreffen. Bisher ist es den Staaten der EU noch längst nicht gelungen, die institutionelle Struktur und die Legitimation der Union an die Herausforderungen der nächsten Erweiterungsrunde anzupassen. Daher wird es für sie einer noch größeren Anstrengung bedürfen, die interne Struktur der Union reif für die Aufnahme der äußerst instabilen Krisenregion Balkan zu machen. Doch nur, wenn es gelingt, sich diesem ehrgeizigen Ziel in kontinuierlichen und sichtbaren Schritten anzunähern, besteht Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft für Südosteuropa.


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