Demokratieförderung zwischen Interessen und Werten : US-amerikanische und deutsche Reaktionen auf den politischen Islam in der Türkei

Karakas, Cemal

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URL https://edoc.vifapol.de/opus/volltexte/2011/3197/
Dokumentart: Bericht / Forschungsbericht / Abhandlung
Institut: HSFK-Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
Schriftenreihe: HSFK-Report
Bandnummer: 2010, 12
ISBN: 978-3-942532-12-9
Sprache: Deutsch
Erstellungsjahr: 2010
Publikationsdatum: 25.09.2011
Originalveröffentlichung: http://www.hsfk.de/fileadmin/downloads/report1210.pdf (2010)
SWD-Schlagwörter: Türkei , Demokratie , Islam , USA , Deutschland
DDC-Sachgruppe: Politik
BK - Basisklassifikation: 89.29 (Politische Richtungen: Sonstiges), 89.35 (Demokratie), 89.70 (Internationale Beziehungen: Allgemeines)
Sondersammelgebiete: 3.6 Politik und Friedensforschung

Kurzfassung auf Deutsch:

Die USA und Deutschland sind die wichtigsten Geberländer in der Auslands- und Entwicklungshilfe für die Türkei. Seit den demokratischen Machtübernahmen der Wohlfahrtspartei (RP)1996/97 und insbesondere der seit 2002 allein regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) sind beide Geberstaaten mit islamisch bis islamistischen Regierungsparteien konfrontiert. Das stellt sie vor folgendes Dilemma: Entweder tolerieren sie die omnipotente Rolle der kemalistischen Staatselite (v.a. Militär, Justiz) zum Schutz des säkularen Staatswesens und der pro-westlichen Orientierung des Landes oder sie glauben dem Demokratiebekenntnis dieser Regierungsparteien und respektieren deren Selbstbestimmungsrecht. Wie die USA und Deutschland mit dieser Spannung in ihrer Türkeipolitik umgehen, ist Gegenstand dieses Reports. Zweifelsohne sind die Regierungsübernahmen durch RP und AKP Ergebnis und Zeichen einer erfolgreichen Demokratisierung. Doch gerade im Fall der AKP-Regierung gestaltet sich die Transformation der türkischen Demokratie in eine „post-kemalistische“ Ära widersprüchlich und ergebnisoffen: Die Regierung Erdogan konnte dank ihrer dezidierten Demokratisierungspolitik 2005 den Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen erreichen und aufgrund ihrer erfolgreichen Wirtschaftspolitik den längsten Boom in der Geschichte des Landes einläuten. Gleichwohl hat die AKP-Regierung in den letzten Jahren den Islam politisiert und sich zunehmend autoritarisiert, um die eigene Macht abzusichern. Die Komplexität und Widersprüchlichkeit des türkischen Transformationsprozesses in eine „post-kemalistische“ Ära erschwert den „richtigen“ außen- und entwicklungspolitischen Umgang der USA und Deutschlands mit der Türkei. Offiziell bekräftigen zwar beide Geberländer den Wunsch nach einer säkular-demokratischen und pro-westlichen Orientierung des Landes, tatsächlich aber haben beide Staaten verschiedene nationale Interessen in ihrer Türkeipolitik, woraus unterschiedliche Implikationen entstehen: Auf US-Seite sind geostrategische Interessen der übergeordnete Bestimmungsfaktor der Außen- und Entwicklungspolitik gegenüber der Türkei. Auf deutscher Seite hingegen dominieren Interessen, die im Wesentlichen auf der einzigartigen Wechselwirkung von deutscher Innen- und Außenpolitik mit türkischer Innen- und Außenpolitik (Innen-Außen-Reziprozität) basieren. Diese ist dem Umstand geschuldet, dass mit rund 2,5 Mio. Menschen die weltweit größte türkischstämmige Diaspora in Deutschland lebt und ein „Überschwappen“ innertürkischer Konflikte nach Deutschland befürchtet wird. Folgerichtig zielt der deutsche Wunsch nach Demokratie, Menschenrechten und Stabilität in der Türkei auch auf die Wahrung des innergesellschaftlichen Friedens und der Stabilität in Deutschland. Im Ergebnis sind beide Geberstaaten pragmatisch orientiert, d.h. sie unterstützen diejenige politische Kraft, die aus ihrer jeweiligen Sicht den eigenen Interessen am ehesten gerecht wird. Der US-amerikanische Umgang mit dem politischen Islam und der kemalistischen Staatselite ist seit den 1990ern sowohl von Kontinuität als auch Wandel gekennzeichnet. Um ihre nationalen Interessen zu wahren, suchten die USA eine pragmatische Zusammenarbeit mit den demokratisch gewählten RP- und AKP-Regierungen. Doch die Verfolgung klientelistischer und auch nationaler Interessen in der türkischen Innen- und Außenpolitik v.a. durch die Regierung Erdogan (z.B. Politisierung des Kopftuch-Verbots, Ablehnung der US-Intervention in den Irak, Außenhandelsabkommen mit Iran) gefährdete aus Sicht Washingtons den säkularen Charakter des Landes sowie seine „Westorientierung“. Auf diesen Vertrauensbruch folgte ein Streit mit der türkischen Regierung. Mit dem Verweis auf die „verfassungsrechtlich legitime“ Rolle der kemalistischen Sicherungsinstitutionen Militär und Judikative als Korrektive der Politik unterminierten die USA die demokratische Legitimation der AKP-Regierung – hier gibt es Parallelen zum Umgang mit der RP. Zu einem Wandel hingegen kam es in der Auslandshilfe und Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Die EZ wurde – anders als noch in den 1990ern – ohne Auflagen zu Demokratie- und Menschenrechtsfragen gewährt. Allerdings kann die USAuslandshilfe so interpretiert werden, dass die „Gegengewichte“ zur AKP-Regierung gestärkt werden sollten, denn es kam v.a. zu einer Erhöhung der Ausbildungsgelder für das türkische Militär und Bewilligungen für den zivilgesellschaftlichen Sektor (hier v.a. die Bereiche „Wahlen“ und „Demokratische Partizipation & Zivilgesellschaft“). Beim Umgang Deutschlands mit dem politischen Islam und der kemalistischen Staatselite ist zwar auch Kontinuität und Wandel feststellbar, allerdings gestalten sich diese anders als im Falle der USA: Der Wandel auf deutscher Seite bezieht sich auf die (im Vergleich zur RP) positivere Wahrnehmung und Unterstützung der AKP, die Kontinuität auf das sukzessive und planmäßige Zurückfahren der deutschen EZ aufgrund der positiven sozioökonomischen Entwicklung der Türkei und des Beginns der EU-Beitrittsverhandlungen. Berlins Umgang v.a. mit der AKP ist geprägt durch eine Strategie der Mäßigung durch Einbindung. Die weitgehend unkonditionierte Gewährung der Entwicklungshilfe ist der besonderen Innen-Außen- Reziprozität der bilateralen Beziehungen geschuldet. Gleichwohl ist auf deutscher Seite eine verstärkte Konfliktsensibilität auszumachen, die zu Anpassungen in der deutschen Innen- und Justizpolitik sowie bei der EZ geführt haben. Konkret mit Blick auf Demokratieförderung ist auf deutscher Seite eine Politik des begrenzten „Ausbalancierens“ gegenüber der türkischen Regierung feststellbar, wobei vorrangig die AKP-Regierung bzw. der öffentliche Sektor und stellenweise die Bereiche „Demokratische Partizipation & Zivilgesellschaft“, „Justizentwicklung“ und „Meinungs- und Pressefreiheit“ gefördert wurden. Dennoch ist auffällig, dass die deutsche Wahrnehmung der AKP, bis zu ihrer Autoritarisierung, sich von jener der USA unterscheidet. Im innertürkischen Machtkampf wurde die AKP-Regierung als Garant für Stabilität und Demokratie bezeichnet und unterstützt. Diese Unterstützung geht auf folgende Faktoren zurück: (a) Auf deutscher Seite kam es Anfang 2000 zu einem Paradigmenwandel, bei dem die kemalistische Staatsideologie als autoritär angesehen wird; (b) die AKP ist mehrmals demokratisch gewählt und legitimiert worden und genießt eine breite Unterstützung in der türkischen Bevölkerung; (c) die „Zivilmacht“ Deutschland respektiert die demokratische Selbstbestimmung des Partnerlandes Türkei. Des Weiteren wird die AKP als diejenige politische Kraft angesehen, welche deutschen Interessen am ehesten gerecht wird. Da ist zuallererst die Stärkung von Demokratie und Menschenrechten (v.a. mit Blick auf die Innen-Außen- Reziprozität), aber auch die wirtschaftliche Stabilisierung der Türkei – diese tritt nicht nur deutschen Befürchtungen einer armutsbedingten Zuwanderung entgegen, sondern von ihr profitiert auch Deutschland als globale Exportnation. Gleichwohl gibt es Widersprüchlichkeiten auf deutscher Seite: Mit der primär kulturalistischen Politisierung des EU-Beitritts der Türkei und der jahrelangen Diskussion um die „Privilegierte Partnerschaft“ zwecks Verfolgung parteipolitischer Partikularinteressen ist Deutschland mitverantwortlich, dass der EU-Reformund Demokratisierungsprozess in der Türkei sich verlangsamt hat und die Regierung Erdogan sich nach „verlässlicheren“ politischen Partnern umschaut. Dass damit die weltweit stärkste Demokratisierungsnorm, die EU-Konditionalitätspolitik, sowie die deutsche Glaubwürdigkeit beim Anmahnen der Minderheitenrechte in der Türkei konterkariert werden, ist eine zentrale Widersprüchlichkeit der deutschen Europa- bzw. Türkeipolitik. Im Ergebnis wird deutlich, dass sich Deutschland – von den negativen Auswirkungen des Streits um den Türkei-Beitritt abgesehen – im bilateralen Verhältnis deutlich stärker an Demokratieförderung orientiert als die USA. Des Weiteren ist es in der Türkei sowohl zu einer qualitativen Vertiefung der Demokratie als auch zu einer Perpetuierung der systemimmanenten Demokratiedefekte gekommen. Dieses Paradoxon ist zwar vorrangig auf endogene Bestimmungsfaktoren zurückzuführen, wird aber durch die widersprüchliche Außen- und Entwicklungspolitik Deutschlands und insbesondere der USA begünstigt. Aus der Analyse können u.a. folgende Implikationen für „westliche“ Demokratieförderer in der Türkei (und in anderen muslimischen Ländern) abgeleitet werden: (a) Für die Geber ist es wichtig, grundlegende Fragen beim Umgang mit islamischen Symbolen (z.B. in der Kopftuch- Frage) sowie ihr eigenes Verständnis von Demokratie und Menschenrechten vorab zu klären. (b) Um ihrer Glaubwürdigkeit willen, sollten die Geberländer das Ergebnis demokratischer Wahlen in muslimischen Ländern respektieren und bei einer vorschnellen Partnerwahl Vorsicht walten lassen. (c) Demokratieförderung „von außen“ ist nur dann glaubwürdig und nachhaltig, wenn die eigene muslimische Minderheit nicht diskriminiert wird. (d) Die Türkei und andere muslimische Länder gehen zwecks Wahrung eigener nationaler Interessen, wie die meisten „westlichen“ Geberstaaten auch, Kooperationen mit autoritären Regimen ein – dies sollte nicht vorschnell als „Abkehr vom Westen“ verstanden werden.


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