MPIfG Working Paper 06/2, Mai 2006
Nicht genutzte Chancen der Föderalismusreform
Fritz W. Scharpf
, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln
Abstract
The reform of German federalism was meant to
overcome the mutually imposed constraints on autonomous political action at the
federal and Land levels. The proposals that are now to be discussed in
parliament will provide some improvement, but are far from adequate in light of
the original goals or the practical needs for reform. The reason was a
simplistic approach to reform which, if it had been realized, would have
violated the normative requirements of interregional equality. Options which
could have increased autonomy without violating egalitarian standards were
ignored in the process.
Zusammenfassung
Die Föderalismusreform sollte die wechselseitige
Lähmung der Politik in Bund und Ländern überwinden. Die jetzt auf den
parlamentarischen Weg gebrachten Vorschläge bringen manche Verbesserungen,
bleiben aber weit hinter dem ursprünglichen Ziel und dem sachlich Notwendigen
zurück. Der Grund liegt in einem zu einfachen Reformkonzept, das – wenn es denn
verwirklicht worden wäre – den normativen Anspruch auf gleichwertige
Lebensverhältnisse in ungleichen Ländern hätte verletzen müssen. Dagegen wurden
Reformoptionen ignoriert, die eine höhere Autonomie der Landes- und
Bundespolitik ermöglicht hätten, ohne diesen Anspruch zu verletzen.
Inhalt
Literatur
Die "Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" wurde vom
Bundestag und Bundesrat am 16. bzw. 17. Oktober 2003 eingesetzt.
Stimmberechtigte Mitglieder waren die 16 Regierungschefs der Länder und 16
Abgeordnete aus den Fraktionen des Bundestages, jeweils mit einem
Stellvertreter. Ohne Stimmrecht beteiligt waren vier Bundesminister, sechs
Vertreter der Landtage, drei Vertreter der kommunalen Spitzenverbände und zwölf
Sachverständige (darunter acht Verfassungsjuristen, zwei Ökonomen und zwei
Politologen). Der Vorsitz wurde gemeinsam von dem damaligen Vorsitzenden der
SPD-Fraktion, Franz Müntefering, und dem bayrischen Ministerpräsidenten, Edmund
Stoiber, wahrgenommen. Die Arbeit begann mit der konstituierenden Sitzung am 7.
November 2003, und sie endete mit der Sitzung vom 17. Dezember 2004, auf der die
beiden Vorsitzenden das Scheitern der Kommission verkündeten, weil das von ihnen
gemeinsam formulierte Ergebnis der Beratungen [1] nicht die notwendige Mehrheit auf
der Länderseite gefunden hatte. Im Laufe der folgenden Monate kam es zu weiteren
Gesprächen zwischen Müntefering und Stoiber, deren Ergebnisse wegen der
vorzeitigen Auflösung des Bundestages nicht mehr in der 15. Legislaturperiode
behandelt werden konnten. Sie gingen jedoch in die Vereinbarungen zur Bildung
der Großen Koalition ein (Müntefering/Stoiber 2005) und liegen auch dem
Kabinettsbeschluss vom 6. März 2006 und den Gesetzesentwürfen zugrunde, die am
selben Tag in die parlamentarischen Beratungen eingebracht wurden. [2]
Im Gegensatz zur rot-grünen Regierung, die ihr Desinteresse an der
Föderalismusreform kaum verbergen konnte, hat die Große Koalition diese offenbar
als ihr Prestigeprojekt definiert. Zugleich wird auf der Länderseite die
Aufrechterhaltung der Einheitsfront gegenüber dem Bund beschworen. Es ist also
durchaus möglich, dass Fraktionszwang und Konformitätsdruck ausreichen werden,
um die unveränderte Umsetzung der von Müntefering und Stoiber ausgehandelten
Kompromisse zu erzwingen. Aber die immer lauter werdende Kritik an einigen
sachlich kaum vertretbaren Lösungen und an dem wenig eindrucksvollen
Gesamtergebnis könnte auch in den Bundestagsfraktionen und in den Ländern die
Lust an Nachverhandlungen wecken und könnte dann sogar das Vorhaben insgesamt
scheitern lassen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (März 2006) ist also noch
keineswegs absehbar, ob am Ende überhaupt etwas beschlossen werden kann.
Im besten Falle wird es zur Umsetzung der Müntefering-Stoiber-Vorschläge kommen.
Diese sind nicht unwichtig. Sie würden die Gesetzgebungskompetenzen der Länder
in zahlreichen Einzelfragen erweitern und auch einige seit langem virulente
Streitfragen zwischen Bund und Ländern regeln. Überdies kann man darauf hoffen,
dass während der Dauer der Großen Koalition wenigstens die parteipolitische
Instrumentalisierung von Bund-Länder-Konflikten abnimmt. Dies ändert jedoch
nichts daran, dass die grundlegenden Strukturprobleme, zu deren Lösung die
Föderalismuskommission vor mehr als zwei Jahren eingesetzt worden war, damit
nicht überwunden werden können. Interessanter als die narrative Rekonstruktion
der Verhandlungen, die zu diesem dürftigen Ergebnis führten (vgl. etwa Scharpf
2005), erscheint deshalb zunächst ein Rückblick auf den grundlegenden
Reformbedarf und die strukturellen Reformhindernisse im deutschen Föderalismus
und dann ein Blick auf die Optionen, die vielleicht eine wirksamere Reform
hätten ermöglichen können.
1 Strukturprobleme und Reformbedarf
Nach dem Einsetzungsbeschluss sollten die von der Kommission zu erarbeitenden
Vorschläge "die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern
verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuordnen sowie die
Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung steigern". Bundestag und
Bundesrat hatten sich also schließlich die seit Mitte der siebziger Jahre
vorliegenden politikwissenschaftlichen Befunde (Lehmbruch 1976; Scharpf/Reissert/Schnabel
1976) zur Wirkungsweise und den Folgeproblemen des "unitarischen Bundesstaats"
(Hesse 1962) und des "kooperativen Föderalismus" (Kisker 1972) zu eigen gemacht:
Die Länder waren in der Finanzwirtschaft wie in der Gesetzgebung fast völlig vom
Bund abhängig geworden, während die Politik des Bundes in fast allen wichtigen
Fragen von den Ländern (und damit unter den bisherigen Bedingungen auch von den
Oppositionsparteien) blockiert werden konnte. Weder auf der einen noch auf der
anderen staatlichen Ebene war also noch autonomes politisches Handeln zur
Bewältigung der immer krisenhafteren Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft
möglich.
Im Vordergrund der Aufmerksamkeit stand dabei die Lähmung der Bundespolitik
durch parteipolitisch motivierte Blockaden oder allseits unbefriedigende
Bund-Länder-Kompromisse im Vermittlungsausschuss. Tatsächlich erscheint jedoch
die mangelnde Autonomie der Landespolitik als das noch größere Problem. Für den
Bürger repräsentiert zwar die Verwaltung der Länder und Kommunen den "Staat",
aber die von diesen zu vollziehenden Gesetze werden fast durchweg auf
Bundesebene und einheitlich beschlossen, und die vom Bund frei gelassenen
Spielräume werden durch die horizontale Selbstkoordination der Länder in der
Kultusministerkonferenz und anderen Gremien verbraucht. Vor allem aber haben die
Länder so gut wie keinen Einfluss auf die eigenen Einnahmen: Das Aufkommen und
die Verteilung der Verbundsteuern, von denen sie in erster Linie abhängig sind,
werden selbstverständlich bundeseinheitlich geregelt. Aber das Gleiche gilt auch
für die Steuern, deren Aufkommen ausschließlich den Ländern und Kommunen
zusteht, und es gilt erst recht für die Regeln des horizontalen und vertikalen
Finanzausgleichs, durch den die Finanzkraftunterschiede zwischen den Ländern so
eingeebnet werden, dass höhere oder niedrigere eigene Einnahmen keinen
Unterschied mehr machen (Arndt 1998).
Diese Struktur ist inzwischen zum Wettbewerbsnachteil in der europäischen
Standortkonkurrenz geworden. In der Vergangenheit konnte die bundeseinheitliche
Gesetzgebung die Wettbewerbsgleichheit der miteinander im nationalen Markt
konkurrierenden Unternehmen gewährleisten. Aber diese Voraussetzungen sind mit
der Vollendung des europäischen Binnenmarktes, der Währungsunion, der
Osterweiterung der Europäischen Union und der zunehmenden Integration und
Liberalisierung der weltweiten Märkte für Waren, Dienstleistungen und
Kapitalanlagen entfallen. Die inländischen Unternehmen sind nun der
ungehinderten Konkurrenz von Anbietern ausgesetzt, die unter anderen rechtlichen
Regeln und mit anderen Faktorkosten im Ausland produzieren; und sie selbst haben
die Möglichkeit, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern, ohne dadurch ihren
Zugang zum heimischen Markt zu gefährden. Unter diesen Bedingungen ist auch die
jeweils geltende Rechtsordnung zum wichtigen Wettbewerbsfaktor geworden.
In den kleineren europäischen Staaten kann die nationale Politik sich auf die
besonderen Probleme und Chancen weniger dominanter Wirtschaftszweige
konzentrieren und deren internationale Wettbewerbsfähigkeit gezielt fördern –
die Finanzdienstleistungen in Luxemburg, die Transportdienste in den
Niederlanden, den Tourismus in Österreich, die Offshore-Technik in Norwegen oder
die Telekommunikation in Finnland. Durch die konsequente Nutzung von
Spezialisierungsvorteilen können dann auch Hochkostenländer ihre
Wettbewerbsfähigkeit und damit auch die Einkommen ihrer Bürger in der
globalisierten Ökonomie verteidigen. In Deutschland mit seiner sehr viel
heterogeneren Wirtschaftsstruktur dagegen können bundeseinheitliche Regelungen,
die für Mecklenburg-Vorpommern ebenso gelten wie für Frankfurt und für das
Ruhrgebiet ebenso wie für München und Hamburg, die dort jeweils gegebenen oder
erschließbaren Spezialisierungschancen nur höchst unvollkommen unterstützen,
während die dafür besser platzierten Länder kaum noch über wirtschaftsrelevante
Gesetzgebungskompetenzen verfügen. Darin liegt ein konstitutioneller
Standortnachteil Deutschlands im Wettbewerb mit Ländern, deren Politik eher in
der Lage ist, die wirtschaftliche Spezialisierung durch staatliches Handeln zu
unterstützen. [3] Dessen Überwindung liegt also nicht nur im Interesse politisch
ehrgeiziger Ministerpräsidenten, sondern auch im deutschen Allgemeininteresse.
2 Woran ist die Reform gescheitert?
Im Herbst vor zwei Jahren waren alle Beteiligten noch mit dem Ziel angetreten,
den Bund wie die Länder aus der "Politikverflechtungsfalle" (Scharpf 1985) zu
befreien. Aber mit der jetzt vereinbarten Lösung werden weder die Vetorechte des
Bundesrates wesentlich beschnitten, noch die autonomen Handlungsmöglichkeiten
der Länder erheblich erweitert. Woran aber ist die von Ministerpräsident Stoiber
einmal beschworene "Mutter aller Reformen" gescheitert?
2.1 Vetorechte des Bundesrates
Was den Bund angeht, kann ich die Erklärung kurz fassen: Solange fast alle
Bundesgesetze von den Ländern auf eigene Kosten vollzogen werden, und solange
über die Einnahmen der Länder ausschließlich der Bundesgesetzgeber zu
entscheiden hat, sind allen Versuchen, die Zustimmungsrechte des Bundesrates
einzuschränken, sehr enge Grenzen gesetzt. Die Kommission hat deshalb gar nicht
erst versucht, an den Zustimmungsrechten in der Finanzverfassung etwas zu
ändern. Ihre Beratungen konzentrierten sich auf Art. 84 GG, der dem Bundesrat
ein Veto einräumt, wenn in Gesetzen, die von den Ländern vollzogen werden, auch
das Verwaltungsverfahren oder die Einrichtung von Behörden geregelt wird. Die
von der Kommission vorgeschlagene Lösung ist zwar kompliziert, folgt aber einer
einfachen Maxime: Der Bund soll auf Organisationsregeln und verbindliche
Verfahrensregeln verzichten, womit dann auch das Zustimmungserfordernis
entfällt. Zugleich bestanden aber die Länder auf einem neuen Zustimmungsrecht in
der Finanzverfassung bei allen Bundesgesetzen, deren Vollzug für sie erhebliche
Kostenfolgen haben könnte (Art. 104a Abs. 3a GG neu). [4] Ob damit per Saldo
wenigstens die Zahl, wenn auch nicht das politische Gewicht der Zustimmungsfälle
vermindert werden kann, ist auch heute noch ungewiss.
Das Ergebnis der Verhandlungen hat also gezeigt, was man schon vorher hätte
wissen können: Wenn man die Finanz- und Verwaltungsverflechtung zwischen Bund
und Ländern nicht abschaffen will oder kann, dann kann man auch die
Zustimmungsrechte des Bundesrates bei Gesetzen, die das fiskalische
Eigeninteresse der Länder verletzen könnten, nicht beseitigen. [5]
2.2 Gesetzgebungskompetenzen der Länder
Was die Handlungsspielräume der Länder angeht, waren die Beratungen der
Kommission durch drei Vorab-Festlegungen der Ministerpräsidenten eingeschränkt:
Über eine Neugliederung des Bundesgebiets, den Finanzausgleich und eigene
Steuerkompetenzen der Länder sollte nicht geredet werden.
Anfang Mai 2004 hatten die Ministerpräsidenten dann in einem gemeinsamen
"Positionspapier" ihr Konzept für eine Föderalismusreform vorgelegt. [6] Aber schon
der Text selbst und erst recht die nachfolgenden Beiträge zur Diskussion ließen
erkennen, dass die gemeinsame Position gegenüber dem Bund nur durch schwierige
Kompromisse zwischen nicht nur unterschiedlichen, sondern gegensätzlichen
Landesinteressen erreicht worden war. So mussten die wirtschafts- und
finanzstarken Länder erneut ihren Verzicht auf Änderungen im Finanzausgleich und
auf autonome Steuerkompetenzen bestätigen, während die Gegenseite trotz
offenbarer Bedenken die Forderung nach (weitgehendem) Abbau der
Mischfinanzierung (in der Form von Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen des
Bundes) unterschrieb.
Weniger offensichtlich waren zunächst die Brüche in der Einheitsfront bei den
Gesetzgebungskompetenzen. Hier bekräftigten die Ministerpräsidenten ihre schon
traditionelle Forderung nach einem vollständigen Rückzug des Bundes aus der
Bildungspolitik – "von der Kita bis zur Habilitation" – und ihr von Sparzwängen
diktiertes Interesse an der Besoldung und Versorgung der Landesbediensteten.
Zugleich formulierten sie aber geradezu radikale Forderungen nach der
Übertragung weitreichender Regelungskompetenzen in der regionalen
Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik und Umweltpolitik. Hätten
sich diese Forderungen durchsetzen lassen, so hätten die Länder in der Tat –
wenn man von ihrer weiterhin mangelnden Finanzautonomie hätte absehen können –
die Fähigkeit zur umfassenden politischen Gestaltung der ökonomischen, sozialen
und ökologischen Verhältnisse in ihrer Region gewonnen.
Allfällige Bedenken bei den zuständigen Bundesressorts, bei den
Bundestagsabgeordneten und bei den betroffenen Verbänden waren gewiss zu
erwarten – aber in den zur Prüfung eingesetzten "Projektgruppen" wurden diese
oft auch von Vertretern der kleineren und wirtschaftsschwachen Länder geteilt.
Jedenfalls konnten die Projektgruppen im Oktober nur ganz wenige konsensuale
Empfehlungen vorlegen, so dass der weit überwiegende Teil der streitigen
Kompetenzfragen in den letzten sechs Wochen der Kommissionsarbeit von den beiden
Vorsitzenden im Austausch mit einer "erweiterten Obleuterunde" beraten werden
musste.
In dieser letzten Phase suchte nun auch die Bundesregierung nach
Kompromisslösungen und präsentierte eine jedenfalls quantitativ eindrucksvolle
Liste von insgesamt vierundzwanzig Kompetenztiteln, die vom Bund in die
ausschließliche Zuständigkeit der Länder übertragen werden könnten. [7] Trotzdem
ließen die Länder die Föderalismusreform im Dezember 2004 scheitern – nach der
öffentlich vorgetragenen Begründung deshalb, weil der Bund damals nicht bereit
war, auch noch die letzten Reste seiner vom Verfassungsgericht reduzierten
Kompetenzen im Bildungswesen aufzugeben. Wenn man freilich bedenkt, dass die im
Übrigen ausgehandelten Kompromisse zumeist die Länderseite begünstigten, während
der Status Quo im Bildungswesen ja auch bei Ablehnung der Reform erhalten blieb,
dann erscheint diese Begründung kaum überzeugend. Plausibler erscheint dagegen
der Verweis auf grundlegende Interessenkonflikte zwischen den Ländern.
Tatsächlich waren die Forderungen nach autonomen Gesetzgebungskompetenzen nur
von den großen und wirtschaftlich leistungsfähigen westdeutschen Ländern mit
voller Überzeugung vertreten worden. Für ihre Regierungen hatte der früher
fleißig betriebene Tausch von Landeskompetenzen gegen erweiterte
Mitwirkungsrechte im Bund seinen Reiz verloren, seit sie nach der deutschen
Vereinigung im Bundesrat in die Minderheit geraten waren und die nationale
Gesetzgebung ohnehin immer mehr durch europäische Vorgaben bestimmt wurde. Umso
wichtiger war ihnen deshalb die Wiedergewinnung autonomer politischer
Gestaltungsmöglichkeiten im eigenen Land. Für die ostdeutschen und die kleinen
und wirtschaftsschwachen westdeutschen Länder dagegen lag in diesen Forderungen
auch eine Bedrohung. Spätestens seit der Verfassungsklage der süddeutschen
Länder gegen den Finanzausgleich musste ihnen der "Wettbewerbsföderalismus" als
Aufkündigung lästiger Solidaritätspflichten erscheinen, und auch die geforderte
Autonomie der Landespolitik implizierte aus ihrer Sicht das Risiko einer
innerdeutschen Standortkonkurrenz, die die wirtschaftlichen Disparitäten
zwischen den deutschen Ländern verschärfen könnte. Deshalb blieb die Liste der
im Dezemberpapier der Vorsitzenden schließlich akzeptierten
Kompetenzübertragungen sogar noch hinter dem Anfang November vorgelegten Angebot
des Bundes zurück.
Für die leistungsstarken Länder war dieses Ergebnis völlig unbefriedigend. Wo es
ihnen um die Möglichkeit der Gestaltung politisch und wirtschaftlich bedeutsamer
"Lebensbereiche" gegangen war, da stand am Ende der Beratungen ein Katalog
isolierter Zuständigkeiten für eng umschriebene Spezialgesetze. Dabei reduzierte
sich etwa die ursprünglich geforderte Kompetenz für die regionale Wirtschafts-
und Arbeitsmarktpolitik auf die Zuständigkeiten für Ladenschluss, Gaststätten
und Spielhallen; von der Umweltpolitik blieb die Zuständigkeit für die Regelung
des Freizeitlärms; und die regionale Sozialpolitik schrumpfte auf das Heimrecht.
Für München, Stuttgart, Wiesbaden oder Düsseldorf waren dies "Quisquilien" oder
"Kleinkram". "Dafür" – so das Fazit eines Interviewpartners aus dem Stuttgarter
Staatsministerium – "dafür waren wir nicht angetreten". Wer autonome
Gestaltungsmöglichkeiten der Landespolitik für wichtig hält, wird dieser
Einschätzung zustimmen, auch wenn der Bund sich nun vollends aus der
Bildungspolitik zurückziehen sollte und die süddeutschen Ministerpräsidenten im
Interesse des Koalitionsfriedens bereit sind, den unbefriedigenden Kompromiss zu
unterschreiben. Die Frage ist jedoch, ob ein besseres Ergebnis überhaupt hätte
erreicht werden können.
3 Das Quadrilemma einer Reform der Kompetenzordnung
In der Kompetenzordnung ging es darum, die autonomen Handlungsmöglichkeiten der
Landesgesetzgeber zu erweitern. Dieses Ziel wäre leichter zu verwirklichen, wenn
nicht der Verzicht auf eine Neugliederung des Bundesgebiets und das Postulat der
"Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" als
unveränderbare Beschränkungen hätten akzeptiert werden müssen. Als ebenso
wichtige dritte Beschränkung erwies sich jedoch das von Bund und Ländern
gemeinsam als Lösungsansatz favorisierte "Trennprinzip". Es folgte aus einer
(zu) einfachen Überlegung: Wenn die Politikverflechtung das zentrale Problem des
deutschen Föderalismus war, dann sollte die Reform sich nicht bei der Suche nach
effizienteren Verflechtungsmodalitäten aufhalten, sondern eine klare Trennung
der Zuständigkeiten des Bundes und der Länder erreichen. In dieser Kombination
freilich musste die Reform zum Quadrilemma werden: Von den vier Anforderungen –
Autonomie der Landespolitik, Verzicht auf Neugliederung, Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse und Trennprinzip – ließen sich immer nur drei gleichzeitig
erfüllen.
3.1 Gegebene Randbedingungen
Der schon wegen der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat unvermeidliche Verzicht
auf eine Neugliederung des Bundesgebiets bedeutet, dass sich auf absehbare Zeit
an den Unterschieden zwischen sehr großen und sehr kleinen Ländern ebensowenig
ändern wird wie an den Unterschieden zwischen Ländern mit sehr hoher und sehr
geringer Wirtschaftskraft. Solche Unterschiede gab es auch in der "alten
Bundesrepublik". Aber während man zu Beginn der siebziger Jahre noch hoffen
konnte, auf der Grundlage des Gutachtens der "Ernst-Kommission" aus zehn sehr
ungleichen Ländern in Westdeutschland fünf oder sechs annähernd gleich große und
gleich leistungsfähige Länder zusammenzufügen, [8] ist diese Hoffnung seit der
deutschen Vereinigung zumindest ökonomisch ganz unrealistisch geworden. Daraus
folgt aber auch, dass alle auf erweiterte Autonomie der Landespolitik
gerichteten Vorschläge für Bremen, das Saarland und Mecklenburg-Vorpommern
ebenso tauglich sein müssen wie für Nordrhein-Westfalen, Bayern,
Baden-Württemberg und Hessen.
In den Vereinigten Staaten oder in der Schweiz sind freilich die Unterschiede
zwischen den größten und den kleinsten, den reichsten und den ärmsten
Gliedstaaten oder Kantonen noch größer als in Deutschland. Trotzdem verfügen
diese über eigene Steuerkompetenzen und im Vergleich zu den deutschen Ländern
über wesentlich weitere Spielräume in der Gesetzgebung. Aber anders als in
Deutschland gehört dort der Zielwert "gleichwertiger" (oder gar "einheitlicher")
"Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" nicht zu den Normen der politischen Kultur
und schon gar nicht zu den rechtsverbindlichen Maßstäben der Verfassung. Bei uns
dagegen definiert dieser Maßstab sowohl die "Erforderlichkeit"
bundeseinheitlicher Gesetzgebung (Art. 72 Abs. 2 GG) als auch die Verteilung des
Steueraufkommens (Art. 106 Abs. 3 Ziff. 2 GG). Sein sinnfälligster Ausdruck ist
der – von den süddeutschen Ländern angegriffene, aber vom Verfassungsgericht
emphatisch bestätigte – Anspruch finanzschwacher Länder auf solidarischen
Finanzausgleich. Diese Verfassungsklagen und die sie begleitende Rhetorik
liberaler Theoretiker trugen überdies dazu bei, dass auch in der Kommission
Argumente zugunsten eines "Wettbewerbsföderalismus" (Schatz et al. 2000) ohne
jede Chance waren. Daraus folgt jedoch auch, dass eine Föderalismusreform die
Autonomie der Landespolitik nur steigern kann, wenn Lösungen gefunden werden,
welche den Anspruch auf gleichwertige Lebensverhältnisse nicht in Frage stellen.
3.2 Der falsche Ansatz: Trennprinzip
Solche Lösungen aber konnten mit dem von Bund und Ländern favorisierten Ansatz
einer strikten Kompetenztrennung aus zwei Gründen nicht erreicht werden. Der
erste folgt aus dem bisher Gesagten: Wenn die Norm der gleichwertigen
Lebensverhältnisse nicht verletzt werden soll, dann müsste eine klare
Kompetenztrennung zwischen Bund und Ländern sich an den Gestaltungspotentialen
des Saarlandes und Mecklenburg-Vorpommerns orientieren und könnte schon deshalb
den begründeten Forderungen Bayerns und Baden-Württembergs nicht gerecht werden.
Ebenso wichtig ist jedoch der Mehrebenen-Charakter der Lebenssachverhalte und
Politikfelder, auf die sich die Kompetenzen beziehen. Gerade das Bildungswesen,
das die Länder als ihr "ureigenstes Hausgut" beanspruchen, hat ja Aspekte, die
der Koordination auf der europäischen und auf der nationalen Ebene bedürfen –
der Bologna-Prozess und die Agenda der Kultusministerkonferenz lassen daran
keinen Zweifel (Schneider 2005). Erst recht gilt dies für die
Wirtschaftspolitik, die Umweltpolitik oder auch die Sozialpolitik – was aber
keineswegs ausschließt, dass im selben Politikfeld andere Aspekte ebenso gut oder
besser auf der regionalen oder sogar lokalen Ebene entschieden würden.
Gewiss kann die bisherige Zuordnung, bei der fast alle Gesetzgebungskompetenzen
auf der Bundesebene wahrgenommen werden, als weit überzentralisiert kritisiert
werden. Aber wenn nun statt einer flexibleren Mehrebenenstruktur die
vollständige Übertragung in die ausschließliche (und autonom wahrzunehmende)
Landeskompetenz gefordert wird, dann kommen dafür sinnvollerweise nur eng
definierte Teilkompetenzen in Frage, bei denen externe Effekte und die
Notwendigkeit überregionaler Koordination mit einiger Sicherheit ausgeschlossen
werden können. Überdies verlangt die strikte Trennung der Kompetenzen vom
Verfassungsgeber eine Prognose der Maßnahmen, die die Länder künftig in den
neuen Kompetenzbereichen ergreifen könnten und eine ebenso antizipierende
Einschätzung ihrer wahrscheinlichen Wirkungen. Es war deshalb fast
unvermeidlich, dass in dieser Hinsicht in der Kommission Worst-Case-Szenarien
eine wichtige Rolle spielten und äußerste Vorsicht geboten erschien.
Nimmt man diese Gründe zusammen, so erscheint es in der Tat plausibel, dass
Müntefering und Stoiber bei der Trennung von Bundes- und Länderkompetenzen etwa
die Grenze dessen erreicht haben, was die Länder aus guten Gründen erwarten
konnten. Nach meiner eigenen Einschätzung sind sie bei den Kompetenzen für das
Bildungswesen sogar über diese Grenze hinausgegangen – insbesondere bei dem
neuen Art. 104b, der ein kategorisches Verbot von Finanzhilfen des Bundes für
"Gegenstände der ausschließlichen Gesetzgebung der Länder" postuliert, das bei
vernünftiger Betrachtung weder die finanzschwachen Länder noch der Bund hätten
akzeptieren dürfen.
3.3 Der bessere Ansatz: konditionierte Abweichungsrechte der Länder
Ebenso klar ist aber auch, dass mit diesem Ergebnis die von den Ländern
erstrebte und gesamtstaatlich wünschenswerte Dezentralisierung von Regelungs-
und Gestaltungskompetenzen nicht erreicht werden kann. Die Chance dafür böte
allenfalls ein von den Ministerpräsidenten in ihrem "Positionspapier" hilfsweise
eingeführter Lösungsansatz, der den Ländern anstelle der Übertragung von
Vollkompetenzen "Abweichungsrechte" einräumen sollte. Danach hätten die Landtage
die Option, vom einheitlichen Bundesrecht abweichende Regeln zu beschließen, wo
diese den realen Gegebenheiten des Landes oder den Prioritäten der Landespolitik
besser entsprechen.
In den von Müntefering und Stoiber vorgelegten Vorschlägen finden sich auch eine
Reihe solcher Abweichungsrechte für Gegenstände wie das Jagdwesen, Naturschutz
und Landschaftspflege oder die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse,
in denen der Bund bisher auf eine Rahmengesetzgebung beschränkt war. Wegen der
immer wiederkehrenden Probleme bei der Umsetzung von EU-Richtlinien lag dem Bund
viel daran, hier eine eigene Kompetenz zur vollständigen Umsetzung zu gewinnen,
und er war deshalb nach langen Verhandlungen auch bereit, den Ländern dafür ein
Recht zu abweichenden Regelungen einzuräumen (die diese dann selbst gegenüber
der Europäischen Union zu vertreten hätten).
Über diesen Sonderfall wollte man aber schon deshalb nicht hinausgehen, weil die
Länder von Anfang an absolute Abweichungsrechte gefordert hatten, deren Ausübung
keiner Überprüfung, Einschränkung oder Korrektur durch Organe des Bundes
unterworfen sein sollte. Aus der Sicht des Bundes hatte damit die Einräumung von
Abweichungsrechten praktisch die gleiche Wirkung wie die Übertragung in die
ausschließliche Zuständigkeit der Länder. Dann konnte man aber genauso gut über
diese verhandeln.
Als Instrument einer wesentlichen Ausweitung landespolitischer
Handlungsspielräume wären deshalb nur "konditionierte"
Abweichungsrechte geeignet gewesen. Die Gründe dafür liegen auf der
Hand: Wenn den Ländern Abweichungsrechte nicht lediglich für eng
definierte "Quisquilien", sondern für weite Kompetenzbereiche oder
sogar für den gesamten Bestand der konkurrierenden Gesetzgebung
eingeräumt werden sollen, dann muss es auch möglich sein, die
"Gemeinverträglichkeit" der Landesgesetzgebung unter mindestens zwei
Aspekten zu prüfen:
– Sind negative externe Effekte zu erwarten, die die berechtigten Interessen
anderer Länder verletzen können? [9] Oder:
– Ist eine Koordination auf übergeordneter Ebene erforderlich, um den freien
Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital im nationalen oder
europäischen Raum zu gewährleisten? [10]
Eine solche Prüfung könnte dem Bundesverfassungsgericht übertragen
werden, das sich dann auf eine dem jetzigen Art. 72 Abs. 2
entsprechende "umgekehrte Bedürfnisklausel" beziehen könnte. Rascher
wirksam und flexibler wäre dagegen eine politische Prüfung. Nach einem
Vorschlag, den der hamburgische Senator Heinsen schon 1976 in einem
Sondervotum der Enquete-Kommission Verfassungsreform formuliert hatte
(Heinsen 1977), könnten Landesgesetze sogar im gesamten Bereich der
konkurrierenden Gesetzgebung von geltendem Bundesrecht abweichen,
"wenn nicht der Bundestag innerhalb von drei Monaten nach Zuleitung
Einspruch erhebt". [11]
Freilich könnte dann eine zentralistisch orientierte Mehrheit im Bundestag die
Initiativen der Länder auch ins Leere laufen lassen. Deshalb müsste man wohl für
den Widerspruch ein gemeinsames Votum des Bundestages und des Bundesrates
vorsehen.
Was aber wäre mit einer solchen Lösung für die Ziele der Föderalismusreform
gewonnen? Für den Bund wäre das Ergebnis ambivalent. Auf der einen Seite könnte
der Bundesgesetzgeber nicht mehr sicher sein, dass das Bundesrecht in allen
Ländern unverändert gelten wird. Aber immerhin könnte er aus gesamtstaatlicher
Sicht unerträgliche Abweichungen verhindern. Vor allem aber könnte er ohne
Rücksicht auf die vom Verfassungsgericht neuerdings extrem restriktiv
interpretierte "Erforderlichkeitsklausel" des Art. 72 Abs. 2 GG eine gegebene
Materie dann jeweils systematisch und im Zusammenhang vollständig regeln. Der
Vorschlag erweitert also den Bereich, in dem der Bund Gesetze erlassen kann, und
wenn er damit die Interessen der Länder trifft, so werden diese auch bundesweit
unverändert bleiben.
Sehr viel eindeutiger wäre jedoch der Autonomiegewinn der Landespolitik. Anders
als im bisherigen Recht stünden nicht nur eng begrenzte Restkompetenzen, sondern
grundsätzlich das gesamte Feld der konkurrierenden Gesetzgebung ihrem
Gestaltungswillen offen. Wenn also besondere Probleme oder besondere
Politikziele die Landespolitik zum Handeln veranlassen, wird die Suche nach
geeigneten gesetzlichen Lösungen zunächst nicht durch Kompetenzgrenzen
beschränkt. Sie müssten dafür allerdings akzeptieren, dass die so gefundenen
Lösungen von Bundestag und Bundesrat auf ihre Gemeinverträglichkeit hin
überprüft werden.
4 Die notwendige Reform der Finanzverfassung
Wenn die Länder freilich den vollen Gewinn von größeren legislativen
Handlungsspielräumen haben sollten, dann müssten die Ministerpräsidenten auch
ihren bisherigen Widerstand gegen eigene Steuerkompetenzen aufgeben. Unter den
gegebenen Bedingungen jedenfalls – charakterisiert durch überforderte
Landeshaushalte und eine Finanzverfassung, die der Landespolitik keinerlei
Einfluss auf die eigenen Einnahmen belässt – könnten erweiterte
Gesetzgebungskompetenzen von den Ländern allenfalls zur Deregulierung und
Kostensenkung eingesetzt werden. Dies wiederum verstärkt die Ängste vor einer
Unterbietungskonkurrenz, die einmal errungene Standards in der Sozialpolitik,
der Umweltpolitik oder im Strafvollzug wieder beseitigen würde. Daraus folgt
aber, dass eine die Autonomie der unteren Einheiten stärkende Föderalismusreform
ihre volle Wirkung erst erreichen kann, wenn auch Änderungen der
Finanzverfassung in die Überlegungen einbezogen werden. Erst dann kommen Wähler,
Parlamente und Regierungen in die Lage, zugleich über die Politik des Landes und
deren Finanzierung entscheiden zu können.
Die gegenwärtige Finanzverfassung reflektiert die technokratischen Planungs- und
Koordinationshoffnungen der späten sechziger Jahre. Zur Ermöglichung einer
keynesianischen Globalsteuerung der Wirtschaft beschloss man nicht nur die (bald
leerlaufende) gemeinsame Finanzplanung von Bund und Ländern, sondern
institutionalisierte auch den großen Steuerverbund und die Kontrolle des
Bundesgesetzgebers über die den Ländern zufließenden Steuern – beides
selbstverständlich immer mit Zustimmungsrechten für den Bundesrat. Hinzu kamen
die "Gemeinschaftsaufgaben" und die "Finanzhilfen", mit denen der Bund sich an
Aufgaben der Länder beteiligte; und gekrönt wurde der "kooperative Föderalismus"
(Kisker 1972) schließlich durch elaborierte Regeln über den vertikalen und
horizontalen Finanzausgleich, die in der derzeitigen Fassung die Finanzkraft
auch des wirtschaftsschwächsten Bundeslandes auf 99,5 Prozent des
Bundesdurchschnitts anheben.
Die Föderalismuskommission war zwar mit dem Ziel der Entflechtung angetreten.
Bei der Finanzverfassung aber war ihr Mandat faktisch auf die Reform der
Mischfinanzierung beschränkt – wo sie erwartungsgemäß nur sehr begrenzte
Änderungen erreichen konnte. Bei der Gesetzgebung wiesen die Länder das Angebot
des Bundes zurück, der ihnen die Kompetenz zur autonomen Regelung der
Landessteuern hatte übertragen wollen, und über den Finanzausgleich durfte gar
nicht geredet werden. Gerade hier läge aber der Schlüssel zu einer wirksamen
Reform.
Unter dem geltenden Finanzausgleich wären autonome Steuergesetze der Länder in
der Tat unsinnig: Die Mehreinnahmen würden abgeschöpft und die Mindereinnahmen
müssten durch höhere Zuweisungen des Bundes und der anderen Länder kompensiert
werden. In der Kommission und im Bundesfinanzministerium gab es zwar
Überlegungen, wie dieser Unsinn durch die Definition fiktiver "Normalerträge"
vermieden werden könnte. Aber auch damit würde der bisherige Maßstab gleicher
Finanzkraft in seiner Geltung eingeschränkt. Überdies wären die dafür
erforderlichen Regelungen überaus kompliziert, müssten laufend angepasst werden
und böten jedesmal Anlass zu Verteilungskonflikten zwischen den Ländern und
zwischen Bund und Ländern. Die Kommission hat sich auf solche Überlegungen
gleich gar nicht eingelassen.
Noch weniger Aufmerksamkeit fand freilich die vom Sachverständigenrat empfohlene
Lösung, nach der der Finanzausgleich sich statt an Unterschieden der Steuerkraft
künftig an Unterschieden der Wirtschaftskraft orientieren sollte – also an einer
Messzahl, die durch das im Land erwirtschaftete Bruttosozialprodukt und die
Einwohnerzahl bestimmt wird (Sachverständigenrat 2004, Tz. 795-802). Ein solcher
Vorschlag hätte selbstverständlich nur dann eine politische Chance, wenn für
alle Beteiligten die derzeitige Verteilung zunächst erhalten bliebe und nur die
künftigen Veränderungen durch Unterschiede der Wirtschaftsentwicklung
beeinflusst würden. Dann aber ergäben sich wesentlich erweiterte Reformchancen:
Sobald die lähmende Koppelung zwischen Finanzausgleich und Steuerpolitik
beseitigt wäre, könnten die Länder über die ihnen allein zustehenden Steuern
autonom entscheiden, ohne dass ihre Mehreinnahmen abgeschöpft oder ihre
Mindereinnahmen von den anderen Ländern kompensiert würden. Zugleich könnte auch
der große Steuerverbund zwischen Bund und Ländern gelockert werden. Wenn die in
erster Linie dem internationalen Steuerwettbewerb ausgesetzten
Unternehmenssteuern in der ausschließlichen Kompetenz des Bundes verblieben,
dann könnte man den Ländern zumindest Zuschlagsrechte zum Landesanteil an der
persönlichen Einkommensteuer einräumen. Ja es wäre dann sogar möglich, dass –
ebenso wie in den USA, in Schweden oder in der Schweiz – die Länder oder auch
die Kommunen in eigener Verantwortung eigene Einkommensteuern erheben. Zur
weiteren Entflechtung könnte man dann auch den immer konfliktträchtigen
horizontalen Finanzausgleich zwischen Geber- und Nehmerländern ganz abschaffen.
Er könnte durch eine noch stärker ausgleichsorientierte Verteilung des
Länderanteils am Umsatzsteueraufkommen ersetzt werden, während die
Bundesergänzungszuweisungen in ihrer jetzigen Funktion weiter notwendig wären.
5 Fazit
Die in den Beratungen der Föderalismuskommission entwickelten, von Franz
Müntefering und Edmund Stoiber zu Ende verhandelten und nun von der Großen
Koalition auf den parlamentarischen Weg gebrachten Kompromisse würden die
bundesstaatliche Praxis in vielen Einzelfragen verbessern. In anderen –
insbesondere in dem kategorischen Ausschluss von Bundeshilfen für Aufgaben der
Länder – brächten sie eine gravierende Verschlechterung, die hoffentlich vom
Bundestag und den betroffenen Ländern noch korrigiert werden kann. In ihrem
eigentlichen und entscheidenden Ziel aber, der Steigerung autonomer politischer
Handlungsfähigkeit im Bund und in den einzelnen Ländern, wäre die Reform selbst
dann gescheitert, wenn die Fehler noch korrigiert und die Vorschläge im Übrigen
unverändert umgesetzt werden sollten.
Der (insbesondere von den Ländern) viel gelobte Abbau von Zustimmungsrechten des
Bundestages ist ein Scheingewinn des Bundes, den dieser sich durch den Verzicht
auf Organisations- und bindende Verfahrensregeln (auf die er auch ohne Reform
hätte verzichten können) und durch neue Zustimmungsrechte des Bundesrates in der
Finanzverfassung erkaufen müsste. Die Länder ihrerseits haben zwar in
zahlreichen Einzelfragen neue Gesetzgebungskompetenzen gewonnen, aber mit
Ausnahme des Bildungsbereichs (in dem sie freilich ihre Kompetenz schon im
Voraus wieder an die Kultusministerkonferenz abzugeben versprachen) erscheinen
diese verstreuten Zuständigkeiten zu eng begrenzt, als dass sich daraus
politisch und ökonomisch bedeutsame Gestaltungschancen im europäischen und
globalen Standortwettbewerb gewinnen ließen. Vor allem aber hätten die Länder
nach wie vor der Reform so gut wie keinen Einfluss auf die eigenen Einnahmen.
Ich habe zu zeigen versucht, dass konditionierte Abweichungsrechte der Landtage
in der Gesetzgebung und eine Umstellung des Finanzausgleichs die legislativen
und finanzwirtschaftlichen Handlungsspielräume der Länder wesentlich erweitern
könnten. Diese Optionen sind in der Kommission kaum diskutiert, geschweige denn
zu entscheidungsreifen Vorlagen ausgearbeitet worden. Sie könnten also
keinesfalls kurzfristig in Bundestag und Bundesrat beschlossen werden, sondern
müssten zunächst in einem neuen Verfahren, "auf Arbeitsebene" untersucht und
aufbereitet werden. [12] Aber sie zeigen immerhin, dass es Reformperspektiven gibt,
welche die Autonomie der Landespolitik erheblich steigern könnten, ohne dass
deshalb der Anspruch auf "gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet"
aufgegeben werden müsste.
Aber die Politikwissenschaft hat auch zu fragen, ob denn eine derart weit vom
Status Quo abweichende Reform, wenn sie denn bis zur Entscheidungsreife
entwickelt werden könnte, auch politisch konsensfähig wäre. Für die großen und
wirtschaftlich leistungsfähigen Länder sollte sie bei vernünftiger Betrachtung
durchaus attraktiv erscheinen, auch wenn ein umverteilender Finanzausgleich
erhalten bliebe und ihre erweiterten Gesetzgebungskompetenzen einer
Gemeinverträglichkeitskontrolle unterworfen würden. Eben diese Prüfung sollte
auch die Ängste der kleineren und schwächeren Länder vor den Gefahren eines
"ruinösen" Standortwettbewerbs vermindern. Überdies könnten – wie der sächsische
Ministerpräsident Biedenkopf immer wieder betont hat – die Vorteile höherer
Autonomie gerade auch von den derzeit schwächeren Ländern genutzt werden. Aber
selbstverständlich würden auch die ohnehin erfolgreicheren Länder ihre
Standortvorteile noch konsequenter nutzen und könnten damit möglicherweise ihren
wirtschaftlichen Vorsprung noch weiter vergrößern. Dies sollte von der Politik
jedoch nicht als stichhaltiger Einwand akzeptiert werden: Deutschland als Ganzes
hat den Vorteil, wenn die wirtschaftlich starken Regionen in die Lage versetzt
werden, ihre Spezialisierungsvorteile im internationalen Standortwettbewerb zu
steigern. Schließlich müssen ja auch die Mittel irgendwo verdient werden, die
Jahr für Jahr in die interregionale Umverteilung fließen. Eine Verfassung, die
die starken Länder daran hindert, noch besser zu werden, kann auch nicht dem
Interesse der schwächeren Länder dienen.
Im Gegenzug müssten freilich die leistungsstarken Länder akzeptieren, dass der
Bund gegenüber den schwächeren Ländern eine stärkere Verantwortung für die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse übernimmt. Eben dies soll jedoch der von
einigen Ministerpräsidenten im Müntefering-Stoiber-Entwurf erzwungene neue Art.
104 b GG verhindern, der Finanzhilfen des Bundes an die Länder nur für Vorhaben
zulassen wollte, "die nicht Gegenstand der ausschließlichen Zuständigkeit der
Länder sind". Gerade wenn aber durch Kompetenzübertragung oder Abweichungsrechte
die Unterschiede zunehmen können und sollen, steigt auch die Notwendigkeit für
korrigierende Hilfen des Bundes. Sowenig die schwachen Länder die starken an der
Nutzung von Gestaltungsmöglichkeiten hindern dürfen, die ihnen selbst nicht zur
Verfügung stehen, sowenig dürften die starken Länder den schwachen Hilfen
verwehren, die sie selbst nicht benötigen.
Wenn aber diese Grundsätze akzeptiert würden, dann wären wirksame,
autonomiesteigernde Reformen des deutschen Föderalismus auch ohne Neugliederung
und ohne Verzicht auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im
Bundesgebiet jedenfalls nicht mehr ausgeschlossen.
Literatur
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unitarischen Föderalismus zum Wettbewerbsföderalismus. In: Wirtschaftsdienst
2/1998, 76-80.
Bundestag/Bundesrat 2005: Dokumentation der Kommission von Bundestag und
Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung. Zur Sache 1/2005.
Berlin.
Kommission 1973: Sachverständigenkommission für die Neugliederung des
Bundesgebiets. Vorschläge zur Neugliederung des Bundesgebiets gemäß Art. 29 des
Grundgesetzes. Bonn: Bundesministerium des Inneren (Januar 1973).
Heinsen, Ernst 1977: Sondervotum zu Abschnitt 4.1 "Neuverteilung der
Gesetzgebungszuständigkeiten" von Senator a.D. Dr. Heinsen. In:
Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen
Bundestages. Teil II: Bund und Länder. Zur Sache 2/77. Bonn: Deutscher
Bundestag, 76-77.
Hesse, Konrad 1962: Der unitarische Bundesstaat. Karlsruhe: C.F. Müller.
Kisker, Gunter 1971: Kooperation im Bundesstaat. Eine Untersuchung zum
kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen: Mohr.
Lehmbruch, Gerhard 1976 (2. Aufl. 1998): Parteienwettbewerb im Bundesstaat.
Stuttgart: Kohlhammer.
Müntefering/Stoiber 2005: Ergebnis der Koalitionsarbeitsgruppe zur
Föderalismusreform (Stand: 7. November 2005). Verhandlungsergebnis zwischen Bund
und Ländern auf der Basis der Gespräche von Franz Müntefering, MdB und Edmund
Stoiber, Ministerpräsident. <http://www.bsbdsh.de/foederalismusreform.htm>
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
2004: Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland. Jahresgutachten 2004/05.
Wiesbaden.
Scharpf, Fritz W. 1985: Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration
und deutscher Föderalismus im Vergleich. In: Politische Vierteljahresschrift 26,
323-356.
Scharpf, Fritz W. 2005: No Exit from the Joint-Decision Trap? Can German
Federalism Reform Itself? Working Paper 05/8. Köln: Max-Planck-Institut für
Gesellschaftsforschung. <http://www.mpifg.mpg.de/pu/workpap/wp05-8/wp05-8.html>
Scharpf, Fritz W./Reissert, Bernd/ Schnabel, Fritz 1976: Politikverflechtung:
Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik.
Kronberg/Ts.: Scriptor.
Schatz, Heribert/van Ooyen, Robert Chr./Werthes, Sascha 2000:
Wettbewerbsföderalismus. Aufstieg und Fall eines politischen Streitbegriffs.
Baden-Baden: Nomos.
Schneider, Hans-Peter 2005: Struktur und Organisation des Bildungswesens in
Bundesstaaten. Ein internationaler Vergleich. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
Endnoten
1
Die Beratungen und ihr Ergebnis sind in dankenswerter Weise vollständig
dokumentiert in Bundestag/Bundesrat (2005). Alle Verweise auf die Arbeit der
Kommission beziehen sich hierauf.
2
BT-Drucksachen 16/813 und 16/814.
3
Gewiss geht es hier in erster Linie um fördernde Industriepolitik, die die
Länder im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch heute schon betreiben. Aber ihr
finanzieller Handlungsspielraum ist auf ein Minimum geschrumpft und zugleich
haben sich nach der Osterweiterung auch die auf deutsche Standorte anwendbaren
Kriterien der EU-Beihilfenkontrolle weiter verschärft. Mit Geld allein ist also
nur noch wenig auszurichten. Wichtig bleibt dagegen die Unterstützung der
Unternehmen durch die Verwaltungen der Länder und Kommunen. Aber wie die immer
neuen und vergeblichen Anläufe zu einer wirksamen "Entbürokratisierung" gezeigt
haben, ist das Geflecht rechtsverbindlicher und gerichtlich kontrollierter
bundeseinheitlicher Regeln so eng, dass auch kreative Politiker und Beamte rasch
an rechtlichen Grenzen scheitern müssen. Ebenso vergeblich erscheint der
Versuch, dieses Geflecht im parteiübergreifenden Bund-Länder-Konsens
aufzuknoten. Sowohl für die Beseitigung besonders hemmender Regelungen als auch
für die positive Gestaltung der Standortbedingungen wettbewerbsfähiger
Wirtschaftszweige erscheinen deshalb autonome Gesetzgebungskompetenzen des
einzelnen Landes als eine notwendige Bedingung.
4
Alle Reformvorschläge werden zitiert nach Müntefering/Stoiber (2005).
5
Was man statt dessen vielleicht hätte ändern können, war die vom
Bundesverfassungsgericht postulierte "Einheitstheorie", derzufolge ein
Bundesgesetz im Ganzen zustimmungsbedürftig wird, auch wenn nur einzelne seiner
Bestimmungen (etwa Verfahrensregelungen) diese Folge auslösen. Diese
Rechtsprechung erst ermöglichte die Transformation eines unverzichtbaren
Instruments zur Verteidigung institutioneller Landesinteressen in ein Instrument
zur Durchsetzung der sachpolitischen und wahlstrategischen Interessen der
Bundesopposition, wann immer diese in der Lage ist, eine regierungsfreundliche
Mehrheit im Bundesrat zu verhindern. In der Kommission gab es zwar Vorschläge
der Sachverständigen zur Begrenzung des Vetos auf die Regelungen des
Verwaltungsverfahrens oder der Kostenfolgen, aber angesichts der ablehnenden
Haltung einiger bundespolitisch besonders engagierter Ministerpräsidenten wurden
diese Ansätze nicht weiter verfolgt.
Keine Aufmerksamkeit fand erstaunlicherweise auch ein im Vorjahr ergangenes
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das das "Einheitsprinzip" zumindest
erheblich relativiert hatte, indem es dem Bundesgesetzgeber die Möglichkeit
eröffnete, materiellrechtliche Regeln und Verfahrensregeln in zwei formell
getrennten Gesetzen zu beschließen, von denen dann nur das zweite
zustimmungsbedürftig sein sollte. Wenn der Bund also die Möglichkeiten der
formalen Trennung ausnutzte oder freiwillig auf Verfahrens- und
Organisationsregeln verzichtete, konnte er das Bundesratsveto mindestens ebenso
gut beschränken wie bei der von der Kommission entwickelten Lösung.
6
Alle Verweise auf Beiträge zu den Beratungen der Kommission beziehen sich auf
die Dokumentation in Bundestag/Bundesrat (2005).
7
Die Haltung des Bundes änderte sich, nachdem das Urteil zur Juniorprofessur
mitten in der Sommerpause ein Problem aufgeworfen hatte, das bis dahin noch gar
nicht ins Blickfeld der Kommission gekommen war. Das Gericht beschränkte sich
dabei nicht auf die Feststellung, die angegriffene Novelle zum
Hochschulrahmengesetz sei über die Grenzen eines Rahmengesetzes hinaus zu weit
ins Detail gegangen, sondern es stützte die Entscheidung auch auf eine
außerordentlich restriktive Interpretation der "Erforderlichkeitsklausel" des
Art. 72 Abs. 2 GG. Diese Klausel aber gilt nicht nur für die Rahmengesetzgebung,
sondern auch für den weiten Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Von nun an
konnte also der überwiegende Teil des Bundesrechts auch von privaten Parteien
mit der Begründung angefochten werden, es fehle der Nachweis, dass "gerade durch
unterschiedliches Recht in den Ländern eine Gefahrenlage entsteht" – was etwa
dann der Fall wäre, "wenn sich die Lebensverhältnisse zwischen den Ländern in
einer unerträglichen Weise auseinander entwickeln …" (Abs. 128). Die möglichen
Folgen für den Bestand des geltenden Bundesrechts mussten das Justizministerium
und das Kanzleramt schrecken. Nun brauchte man die Zustimmung der Länder zur
Schadensbegrenzung, und deshalb war man nun auch bereit zu erheblichen
Konzessionen bei der Kompetenzverteilung.
8
Art. 29 hatte eine Neugliederung des Bundesgebiets verlangt, die Länder schaffen
sollte, "die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben
wirksam erfüllen können". Nach dem Vorschlag der Kommission und nach den damals
geltenden Regeln wäre das Volumen des Finanzausgleichs (Länderfinanzausgleich
und Bundesergänzungszuweisungen) etwa halbiert worden (Kommission 1973, Tz
561-568). Die politische Reaktion der in ihrer Existenz bedrohten Länder war
jedoch so negativ, dass es statt dessen zu einer Änderung des Art. 29 GG kam,
welche den Verfassungsauftrag auf eine bloße Kann-Bestimmung reduzierte und
zugleich das Verfahren so erschwerte, dass weitere Initiativen von vornherein
entmutigt wurden. Dabei ist es, wenn man von der Sonderregelung des Art. 118a GG
für Berlin und Brandenburg absieht, auch nach der deutschen Vereinigung
geblieben.
9
Externe Effekte gehen nicht vom jeweiligen Politikfeld als solchem aus, sondern
von den einzelnen gesetzlichen Regelungen, die in diesem Feld beschlossen und
vollzogen werden. So wäre etwa die Einführung eines von der regionalen
Wirtschaft geforderten neuen Ausbildungsgangs eher akzeptabel als die
Beschränkung der Berufsausübung auf dessen Absolventen – ebenso wie
landesrechtliche Änderungen der Bemessungsgrundlage bei der Grundsteuer weniger
problematisch wären als bei der Körperschaftsteuer. Mit anderen Worten: Die in
ein und demselben Politikfeld oder Kompetenzbereich möglichen gesetzlichen
Regelungen können sich in ihren horizontalen und vertikalen Auswirkungen auf
andere Länder und gesamtstaatliche Belange erheblich voneinander unterscheiden.
Daraus folgt aber auch, dass der normativ vertretbare und politisch
konsensfähige Spielraum für landesrechtliche Abweichungen von der
bundeseinheitlichen Norm um so größer sein wird, je mehr sich die Beurteilung
auf konkrete Gesetzgebungsakte oder sogar einzelne Regelungen bezieht.
10
Ein drittes Kriterium ist die Gewährleistung eines aus gesamtstaatlicher Sicht
erforderlichen Leistungsniveaus. Es wird relevant, wenn die in ausschließlicher
Zuständigkeit von den Ländern wahrzunehmenden Staatsaufgaben "positive externe
Effekte" haben (etwa weil der Aufwand für die Landesuniversitäten nicht nur den
Landeskindern zugute kommt) und deshalb von den einzelnen Ländern in zu geringem
Maße erfüllt werden. Hier lag und liegt der berechtigte Grund für (manche)
Formen der Mischfinanzierung. Alternativ könnte auch ein Regime von
fallbezogenen Ausgleichszahlungen zwischen den Ländern in Frage kommen. In
beiden Fällen ginge es aber nicht um eine Beschränkung des Landesgesetzgebers,
sondern um (in der Finanzverfassung zu behandelnde) Förderkompetenzen des Bundes
oder wechselseitige Erstattungsansprüche zwischen den Ländern.
11
Senator Heinsen hatte dafür folgendes Verfahren vorgeschlagen: Die betreffenden
Gesetze "werden dem Bundestag und der Bundesregierung durch den Präsidenten der
Volksvertretung des Landes zugeleitet. Dabei sind die Vorschriften des
Bundesrechts, von denen abgewichen wird oder die ergänzt werden, ausdrücklich zu
nennen. Das Landesgesetz wird frühestens zwei Wochen nach Ablauf der … genannten
Frist wirksam" (Enquete-Kommission 1976: 76).
12
Ein Problem der Föderalismuskommission ergab sich aus der unmittelbaren
Beteiligung der letztlich Entscheidungszuständigen. Anders als in den übrigen
Reformkommissionen der letzten Legislaturperiode ("Hartz", "Rürup", etc.)
konnten diese mit dem Verweis auf ihr späteres Veto neue Überlegungen und
Optionen aus der weiteren Beratung ausschließen, noch ehe deren mögliche
Reichweite und wahrscheinlichen Folgen geklärt oder ihr Stellenwert in einer
komplexen Gesamtlösung erkennbar war. Sollte ein neuer Anlauf zur
Föderalismusreform unternommen werden, so wäre deshalb auch eine personelle
Trennung zwischen Entscheidungsvorbereitung und Entscheidung dringend zu
empfehlen.
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