Das Neue Strategische Konzept der NATO und die Zukunft der nuklearen Abrüstung in Europa

Dembinski, Matthias

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URL http://edoc.vifapol.de/opus/volltexte/2011/3193/
Dokumentart: Bericht / Forschungsbericht / Abhandlung
Institut: HSFK-Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
Schriftenreihe: HSFK-Report
Bandnummer: 2010, 8
ISBN: 978-3-942532-08-2
Sprache: Deutsch
Erstellungsjahr: 2010
Publikationsdatum: 25.09.2011
Originalveröffentlichung: http://www.hsfk.de/fileadmin/downloads/report0810_01.pdf (2010)
SWD-Schlagwörter: NATO , Atomare Abrüstung , Obama, Barak
DDC-Sachgruppe: Politik
BK - Basisklassifikation: 89.77 (Rüstungspolitik), 89.72 (Internationale Organisationen)
Sondersammelgebiete: 3.6 Politik und Friedensforschung

Kurzfassung auf Deutsch:

Das Neue Strategische Konzept der NATO bietet auf die Fragen, wie die Allianz zu Präsident Obamas Ziel einer atomwaffenfreien Welt beitragen und die substrategischen Nuklearwaffen in Europa in den Abrüstungsprozess einbringen will, keine klare Perspektive. Das ist nicht etwa auf handwerkliche Unzulänglichkeiten zurückzuführen, sondern reflektiert den Charakter des Dokuments als politischen Kompromiss zwischen demokratischen Allianzpartnern, deren Positionen zum Teil weit auseinanderliegen. Insofern spiegelt es in realistischer Weise den gegenwärtigen Zustand im Innern der NATO wieder. Das nukleare Thema bleibt aber auf der politischen Tagesordnung. Von zwei externen Umständen geht politischer Druck aus. Zum einen steht die gegenwärtige NATO Haltung in einer Spannung zu den aus dem Nichtverbreitungsregime stammenden Forderungen. Das betrifft insbesondere das Festhalten an einer Ersteinsatzoption sowie das System der nuklearen Teilhabe. Zum anderen wirkt die enorme Resonanz, welche Präsident Obamas Vision einer kernwaffenfreien Welt entfaltet hat – gerade auch unter ausgewiesenen Vertretern der transatlantischen Sicherheitseliten –, auf die Allianz ein. Mit der Ratifikation des neuen START-Vertrages durch den amerikanischen Senat im Dezember 2010 gewinnt der nukleare Abrüstungsprozess zusätzlichen Schwung. Dem hat die NATO Rechnung getragen: Sie hat in Lissabon beschlossen, ihre nukleare Planung und Politik einer umfassenden Überprüfung zu unterziehen. Hierzu will der vorliegende Report beitragen. Um die Vielfalt der Positionen in der Atlantischen Allianz exemplarisch zu dokumentieren, stellt der Report in einem ersten Schritt die Positionen ausgewählter NATO Mitglieder vor. Das Spektrum reicht von Frankreich als dem europäischen Kernwaffenstaat, der am entschiedensten den Status quo vertritt, über Polen als jüngeres Mitglied, das Russland in besonderer Weise als Bedrohung empfindet, aber gleichzeitig eine eigene Entspannungs- und Abrüstungspolitik verfolgt, bis zu Deutschland als abrüstungswilligem Stationierungsstaat. Zusätzlich werden die Positionen Estlands und Norwegens sowie der NATO-Bürokratie in den Blick genommen. Eine kurze Darstellung der russischen Position rundet dieses Bild ab; sie ist notwendig, weil die Neujustierung des westlichen Verhältnisses zu Russland ein wichtiges Anliegen der Diskussionen über das Neue Strategische Konzept ist und natürlich auch die Nuklearpolitik maßgeblich betrifft. Diese Bestandsaufnahme weist auf eine Reihe von Gemeinsamkeiten, Unterschieden und potentiellen Konfliktlinien hin, die bei der Fortsetzung und Neukonzeptionalisierung der nuklearen Rüstungskontrolle zu berücksichtigen sind. • Weitgehend einig sind sich die NATO-Staaten über die militärische Bedeutungslosigkeit der verbliebenen ca. 200 amerikanischen Nuklearbomben in Europa. Hinzu kommt, dass viele Trägersysteme wie die deutschen Tornado-Flugzeuge veraltet sind und in absehbarer Zeit außer Dienst gestellt werden müssen. • Weitgehende Zustimmung herrscht auch bezüglich der Einschätzung, dass die Glaubwürdigkeit der westlichen Nichtverbreitungspolitik leidet, wenn die ohnehin gut beschützten und vergleichsweise wenig bedrohten NATO-Länder zusätzlich auf diesen Waffen beharren. • Unterschiedlich wird dagegen der Wert dieser Waffen als politisches Symbol eingeschätzt. Insbesondere die neuen Mitgliedstaaten sehen in den amerikanischen Nuklearwaffen in Europa das materielle Fundament der nuklearen Teilhabe und Risikoteilung, und damit den entscheidenden Mechanismus der Verklammerung europäischer und amerikanischer Sicherheit. Dagegen konstatieren ältere Bündnismitglieder wie Deutschland einen substantiellen Bedeutungsverlust der nuklearen Teilhabe und Risikoteilung und argumentieren, die erweiterte Abschreckung könne auch von den strategischen Waffen der USA garantiert werden. Frankreich fürchtet in erster Linie Rückwirkungen einer weiteren nuklearen Abrüstung auf die eigene Nuklearpolitik. • Deutliche Differenzen fallen auch bezüglich der weiteren Abrüstungsstrategie ins Auge. Die deutsche Präferenz eines einseitigen Abzugs der substrategischen Nuklearwaffen (die öffentlich nicht mehr vertreten wird) wird mittlerweile nur noch von den Benelux- Staaten geteilt. Norwegen, das zunächst ebenfalls für unilaterale Reduzierungen eintrat, spricht sich mittlerweile dafür aus, diese Waffen zum Gegenstand von Verhandlungen mit Russland zu machen. Auch die USA und die Mehrheit der europäischen NATO-Mitglieder treten dafür ein, bei der Abwägung weiterer Reduzierungsschritte die Gegenleistungen Moskaus in Rechnung zu stellen. Diese Position hat sich im Strategischen Konzept der NATO durchgesetzt. • Während die NATO-Länder den substrategischen Nuklearwaffen nur noch einen marginalen militärischen Wert zusprechen, nimmt die Bedeutung dieser Waffen nach Einschätzung russischer Experten eher zu. Ähnlich wie die NATO vor 1989 setzt die russische Sicherheitspolitik darauf, durch nukleare Abschreckung Defizite gegenüber dem Westen und Chinas bei konventionellen Waffen und neuerdings auch bei Raketenabwehr- und Weltraumsystemen zu kompensieren. Rüstungskontrollpolitisch insistiert Moskau auf einer Verknüpfung weiterer nuklearer Abrüstung mit Fortschritten bei der konventionellen Rüstungskontrolle und Beschränkungen der amerikanischen Raketenabwehrpläne. Unsere Empfehlungen berücksichtigen diese Positionen und orientieren sich neben dem Ziel der Abrüstung auch an denen des Bündniszusammenhalts sowie der Verständigung und Kooperation mit Russland. Wir raten der Bundesregierung, ihre Präferenz für einen Abzug der Atomwaffen weiterhin deutlich zu machen, aber auf unilaterale Schritte zu verzichten. Die von Norwegen und Polen vorgeschlagene schrittweise Strategie könnte eine interessante Möglichkeit darstellen, um sowohl den Prozess der Abrüstung voranzutreiben, als auch die zurückhaltenden Mitgliedsländer einzubinden. Als ersten Schritt wären mit Russland Maßnahmen der Transparenz und physischen Sicherheit der substrategischen Waffenarsenale zu vereinbaren. Darüber hinaus sollte sich die NATO unzweideutig zu einer Strategie des nuklearen Nichtersteinsatzes bekennen. Darauf aufbauend ließen sich asymmetrische Reduzierungen und eine Änderung im Stationierungsmodus vereinbaren, bei der die USA ihre Atomwaffen aus Europa abziehen und Russland seine substrategischen Nuklearwaffen in grenzfernen Depots lagert. Längerfristig könnte die NATO im Zusammenhang mit einem Abbau der konventionellen Ungleichgewichte und Begrenzungen der Raketenabwehr eine vertraglich geregelte Beseitigung dieser Waffenkategorie anstreben. Sollte eine amerikanisch-russiche Verhandlungsrunde über die substrategischen Waffen alleine für Russland nicht akzeptabel sein, bietet sich als Alternative an, die nächsten amerikanisch-russischen Verhandlungen über eine gemeinsame Obergrenze für alle Kernwaffen, also strategische und substrategische, zu führen und den Vertragspartnern Flexibilität in der Zusammensetzung ihres eigenen Arsenals zu geben. Vor allem sollte die Bundesregierung sicherstellen, dass aus dem Befund der militärischen Unbrauchbarkeit dieser Waffen und der Überalterung der Trägersysteme nicht der Ruf nach einer Modernisierung folgt.


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