Einen Nerv getroffen. Debatten zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in den neunziger Jahren in Deutschland

Schepers, Norbert

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URL http://edoc.vifapol.de/opus/volltexte/2009/1116/
Dokumentart: Bericht / Forschungsbericht / Abhandlung
Institut: Rosa-Luxemburg-Stiftung
Schriftenreihe: Manuskripte // RLS, Rosa-Luxemburg-Stiftung
Bandnummer: 48
ISBN: 3-320-02951-7
Sprache: Deutsch
Erstellungsjahr: 2003
Publikationsdatum: 31.03.2009
DDC-Sachgruppe: Politik
BK - Basisklassifikation: 89.53 (Politische Kultur), 89.21 (Faschismus)
Sondersammelgebiete: 3.6 Politik und Friedensforschung

Kurzfassung auf Deutsch:

Debatten zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in den neunziger Jahren in Deutschland Manuskripte 48 der RLS Inhalt A. Einleitung B. Die Goldhagen-Debatte 1. Der Verlauf der Goldhagen-Debatte 2. Argumente gegen Goldhagens Buch Der Kollektivschuldvorwurf Der Pornographievorwurf Der Rassismusvorwurf Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit und mangelnden Originalität 3. Argumente für Goldhagens Buch Goldhagens Verdienst um die politische Kultur Wissensverbreitung – gegen das Vergessen Goldhagens Forschungsleistung und neue Ansätze Akzentsetzung auf die Täterinnen und Täter 4. Goldhagen und die Deutschen heute 5. Bewertung der Goldhagen-Debatte C. Die Walser-Bubis-Debatte 1. Bubis und Dohnanyis Debattenbeiträge Bubis Reaktion auf Walsers Rede Walsers Unterstützung durch Klaus von Dohnanyi 2. Der Verlauf der Walser-Bubis-Debatte Beginn und erste Phase: Bubis Intervention Die zweite Phase: Dohnanyis Intervention Die dritte Phase: Bubis Intervention zum Antisemitismus Briefe an Ignatz Bubis und Martin Walser 3. Elemente der Walser-Bubis-Debatte Die Darstellung des Gegners Drohverhalten Die Instrumentalisierung der ‚Freiheit‘ der Meinungsäußerung 4. Bewertung der Walser-Bubis-Debatte D. Vergleich der Debatten 1. Abwehr von Personen 2. Abwehr gegen Darstellungen der Verbrechen 3. Die Schuld der Deutschen 4. Antisemitismus – Das Verhältnis von Deutschen und Jüdinnen / Juden Schuldzuweisung an Jüdinnen und Juden Unterscheidung von Deutschen und Jüdinnen / Juden Instrumentalisierung des Holocaust Äußerungen antisemitischer Ressentiments 5. Störung der Normalisierung des Bezugs auf nationale Identität E. Fazit Ausblick F. Anhang 1. Methodische und theoretische Überlegungen Begriffsklärungen Theoretischer Hintergrund 2. Materialauswahl Abkürzungsverzeichnis Literatur Abbildungen Danksagung Der Autor Einleitung In den neunziger Jahren hat es eine Reihe von gesellschaftlichen Debatten um ‚Vergangenheitsbewältigung‘ bzw. um den Umgang mit der deutschen NS-Vergangenheit gegeben: In der Goldhagen-Debatte stritten sich überwiegend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 1 in den Feuilletons, Veranstaltungen wurden vom bildungsbürgerlichem Laienpublikum besucht. Die Austellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944” erreichte ein breites Publikum, löste Auseinandersetzungen in Familien aus und war nicht nur verbalen Diffamierungen ausgesetzt: Den Diskreditierungsversuchen aus CDU/CSU-Kreisen folgten Aufmärsche aus dem neofaschistischen Spektrum zur Verhinderung der Ausstellung und auch Anschläge zu ihrer Zerstörung. In der Walser-Bubis-Debatte bekamen Positionen, die ein ‚Recht auf Wegschauen‘ von Bildern des Holocaust proklamierten, nicht nur von rechtsextremer Seite Beifall, sondern auch besonders aus der ‚Neuen Mitte‘. Deutschland hat 1999 zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg wieder einen Krieg geführt und die rot-grüne Bundesregierung, die sich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus sogenannten Alt-68ern und ehemaligen Anhängerinnen und Anhängern der Friedensbewegung zusammensetzt, hat diesen moralisch mit der angeblichen Verhinderung eines ‚neuen‘ Auschwitz gerechtfertigt. – Anlass genug, diese Debatten einer genaueren Betrachtung zu unterziehen und zu versuchen, Schlüsse für die aktuelle politische Verfasstheit der BRD zu ziehen. Durch einen Vergleich der Goldhagen- und der Walser-Bubis-Debatte will ich exemplarisch untersuchen, inwiefern Entwicklungen stattfanden, im Zusammenhang mit zunehmend erfolgreicheren Bestrebungen, die als Last empfundene Gegenwärtigkeit der NS-Vergangenheit zugunsten einer neuen deutschen Normalität zurückzudrängen, welche verstärkt einen unbefangeneren Bezug auf nationale Identität ermöglichen soll. Dabei gehe ich nicht zwangsläufig davon aus, dass etwa eine lineare Entwicklung oder direkte kausale Verknüpfung zwischen diesen beiden Debatten bestünde, sondern möchte anhand dieser ausgewählten Beispiele zunächst untersuchen, wie diese Debatten über NS-Vergangenheit in einem eingrenzbaren Zeitraum stattfanden und welche Elemente und Muster diese prägten. Anschließend vergleiche ich beide Debatten anhand dessen miteinander. Für meinen Vergleich habe ich die Goldhagen-Debatte und die Walser-Bubis-Debatte gewählt, da diese, wie auch die Debatte um die ‚Wehrmachtsausstellung‘ 2, insofern beispielhaft für den aktuellen Umgang mit NS-Vergangenheit in Deutschland sind, als es bei allen um zentrale Punkte innerhalb der aktuellen politischen Kultur zu gehen scheint: hervor sticht die Heftigkeit, mit der die beiden Debatten geführt wurden sowie die Intensität der geäußerten Ablehnung. Auswahlkriterium für diese beiden Debatten war ferner ihre relative Ähnlichkeit als medial-öffentliche Debatten und ihre zeitliche Abgeschlossenheit, was diese beiden z.B. von der Debatte um die Wehrmachtsausstellung unterscheidet, welche über einen längeren Zeitraum und in verschiedenen Teilöffentlichkeiten und regionalen Öffentlichkeiten geführt wurde 3. Die Besonderheit der NS-Vergangenheit war vor der Vereinigung beider deutscher Staaten durch unterschiedliche Faktoren im öffentlichen Bewusstsein gegenwärtig. Zu diesen Faktoren gehören u.a. auch die teilsouveräne Staatlichkeit, die Eingebundenheit in die gegenüberstehenden Machtblöcke des kalten Krieges und die Systemkonfrontation. Diese Faktoren trugen auch dazu bei, die Vorgeschichte der deutschen Teilung, die nationalsozialistische Vergangenheit, auf der politischen Tagesordnung präsent zu halten. Unterschiede bestanden zwischen beiden deutschen Staaten durchaus in der Form des Erinnerns an die NS-Verbrechen und im damit zusammenhängenden Selbstverständnis. Nach der völkerrechtlichen Wiederherstellung Deutschlands 1990 wurden in der vergrößerten Bundesrepublik sogleich Forderungen nach politischen Konsequenzen aus der neuen Souveränität und einer so verstandenen ‚neuen Stärke‘ erhoben: „In dieser veränderten Lage wurden Stimmen lauter, vergangenheitspolitischen Ballast abzuwerfen, um handlungsfähiger zu werden. Intellektuelle, politische, militärische und wirtschaftliche Kreise verlangten nach einer ‚normalen‘ Interessen- und Machtstaatspolitik.“ (Klotz/Wiegel 2001). In der Folge gab es in den 1990er Jahren verschiedene Anlässe für Auseinandersetzungen zum Umgang mit der NS-Vergangenheit im vereinigten Deutschland: Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte war auch geprägt von Versuchen, die DDR mit der NS-Herrschaft mittels Rückgriffen auf die Totalitarismustheorie 4 gleichzusetzen, frei nach dem Motto ‚Zwei totalitäre deutsche Diktaturen‘. Damit rückten Elemente des Historikerstreites von 1986/87 wieder in den Fokus: Damals waren jedoch Ernst Noltes Thesen, unter anderem die Relativierung des nationalsozialistischen Massenmordes durch eine behauptete Kausalität mit stalinistischen Verbrechen sowie der Vergleich mit den Verbrechen anderer Regime, klar zurückgewiesen worden. Weiter waren wichtige Debattenereignisse vor allem folgende öffentliche Auseinandersetzungen: Die Diskussionen um die Neugestaltung des Denkmals ‚Neue Wache‘ in Berlin-Mitte 1993, bei der unter der Widmung ‚Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft‘ sämtliche Toten - gleich ob Opfer oder Täter - subsummiert werden, sowie die Goldhagen-Debatte und die Debatte um die ‚Wehrmachtsausstellung‘, beide ab 1996, letztere bis zu ihrem vorläufigen Ende 1999 mit der vorübergehenden Schließung zu ihrer Überarbeitung und Neukonzeption. Weiter ist hier die Walser-Bubis-Debatte 1998 zu nennen, im Juni 1999 erfolgt die Entscheidung des Bundestages für ein ‚Denkmal für die ermordeten Juden Europas‘ auf Grundlage eines Entwurfs des Architekten Peter Eisenman nach etwa zehn Jahren Kontroverse über ein ‚Holocaust-Mahnmal‘. Bei dieser Parlamentsdebatte beziehen sich zahlreiche Politikerinnen und Politiker auf den damaligen Krieg im Kosovo und begründen diese Intervention der NATO und die Teilnahme der Bundesrepublik daran ausdrücklich mit einer Verpflichtung zum militärischen Eingreifen, um ein ‚neues Auschwitz‘ zu verhindern. Im Juli 2000 kommt es zum zwischenzeitlichen Höhepunkt der Debatte um die Entschädigung von NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter: durch ein internationales Abkommen werden die bei den 2+4-Verträgen zur deutschen Einheit bekräftigten Verpflichtungen zur Entschädigung geregelt. Damit werden zugleich diese seit 50 Jahren weitgehend unerfüllten Ansprüche gegen die deutsche Wirtschaft und den deutschen Staat eng begrenzt gehalten und deutschen Unternehmen ‚Rechtssicherheit‘ verschafft. Die Debatte dauert auch im folgenden Jahr fort aufgrund nur zögerlich eingehender Zahlungen seitens der Wirtschaft. Auch vor diesem Hintergrund findet die Finkelstein-Debatte statt. Norman G. Finkelsteins Thesen von einer ‚Holocaust-Industrie‘ (2000) stoßen in Deutschland auf große Resonanz. – Klotz und Wiegel bilanzieren die Wirkungen der Debatten der 1990er Jahre durchaus als ambivalent: „Gegen die seit 1989 ‚anschwellenden Bocksgesänge‘ (Botho Strauss) für eine ‚selbstbewußte Nation‘ und gegen das Aufkommen einer ‚neuen Sorte von vaterländischem Geist‘ (Jürgen Habermas) wirkten in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre mehrere geschichtspolitische Großereignisse.“ (Klotz/Wiegel 2001, Seite 25) 1 Im Text dieser Arbeit verwende ich – abgesehen von Zitaten und feststehenden Begriffen – für Bezeichnungen, welche für Frauen und Männer gelten, jeweils die männliche und die weibliche Bezeichnung, da ich hier die Vollständigkeit gegenüber einer etwas flüssigeren Lesbarkeit bevorzuge. 2 Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“. 3 Eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes auf weitere Debatten und Zeiträume wäre wünschenswert und aufschlussreich, ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht zu leisten. Einzelne Werke leisten hierzu Ansätze, wenn auch oft die Debatten wenig zueinander in Beziehung gesetzt werden. So z.B.: Elsässer, Jürgen/Markovits, Andrei S: „Die Fratze der eigenen Geschichte“ – Von der Goldhagen-Debatte zum Jugoslawien-Krieg. Berlin, 1999, Brumlik, Micha/Funke, Hajo/Rensmann, Lars: Umkämpftes Vergessen- Walser-Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik. (1999) Berlin, 2000, Grewenig, Adi/Jäger, Margret (Hg.): Medien in Konflikten – Holocaust, Krieg, Ausgrenzung. Duisburg, 2000, Klotz, Johannes/Wiegel, Gerd: Geistige Brandstiftung – Die neue Sprache der Berliner Republik. Berlin, 2001, Klundt, Michael: Geschichtspolitik – Die Kontroversen um Goldhagen, die Wehrmachtsausstellung und das „Schwarzbuch des Kommunismus“. Köln, 2000, Schneider, Wolfgang: Wir kneten ein KZ – Aufsätze über Deutschlands Standortvorteil bei der Bewältigung der Vergangenheit. Hamburg, 2000, Wiegel, Gerd: Die Zukunft der Vergangenheit – Konservativer Geschichtsdiskurs und kulturelle Hegemonie. Köln, 2001, Wippermann, Wolfgang: Wessen Schuld? – Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse. Berlin, 1997, Zuckermann, Moshe: Gedenken und Kulturindurstrie – Ein Essay zur neuen deutschen Normalität, Berlin und Bodenheim bei Mainz, 1999. 4 Zur Totalitarismustheorie siehe Lieber, Hans-Joachim: Zur Theorie totalitärer Herrschaft. In: ders. (Hg): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart. Bonn, 1991, Seite 881-932.


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